Читать книгу Sternstunde der Mörder - Pavel Kohout - Страница 23

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Für seine und wahrscheinlich auch ihre Verfassung «danach» fand Jan Morava für sich selbst kein besseres Wort als – stilles Staunen. Wenn im Liebestaumel seine Ellbogen ermüdeten und er sie unbarmherzig mit der ganzen Last seines stämmigen Körpers beschwerte, erwartete er jedesmal einen Schmerzenslaut. Doch sie blieb so schweigsam wie beim Lieben, nur ihr Atmen ließ langsam nach, und ihre Augen blickten ihn auch nach einem Monat noch ebenso überrascht an wie in der Nacht jenes vierzehnten Februar, da eine neue Bombenfurche Prag zu durchpflügen drohte.

Bald wurde ihm mehr und mehr bewußt, daß auch er, sobald die Welle der Begierde abebbte, nicht begriff, wieso ihre scheue Zärtlichkeit seinen begehrlichen Ansturm ohne Widerstand hinnahm und überdauerte, wieso sie ihn von neuem in ihre Abgeschlossenheit eindringen ließ, die er als erster Mann gestört hatte, und wieso er dieses selbe Glück bis an sein Lebensende immer wieder herbeirufen durfte. In solchen Augenblicken glaubte er fest daran, daß er nicht nur den Todeskrampf des Krieges überstehen, sondern mit Jitka auf ewig leben würde.

Schon in der ersten Dunkelheit, die sie beide so unerwartet leicht ihrer angeborenen Scham entkleidete, hatte er begriffen, daß dies der Augenblick der Erkenntnis für sie wie für ihn war. Beide stammten sie aus ehrsamen mährischen Familien, deren Gesetz seit undenklichen Zeiten die heilige Kralitzer Bibel war, ganze Generationen hatten ihre Nacktheit gegenseitig erst in der Hochzeitsnacht entdeckt. Einmütig bekannten sie am anderen Tag, wie entsetzt sie gleich darauf über ihre eigene Kühnheit gewesen waren, bis sie das, wenn auch noch nicht ausgesprochene Bewußtsein erleichterte, daß sie bestimmt so bald wie möglich heiraten würden.

Ohne zu fragen, brachte er sie deshalb auch am nächsten Tag heim, und sie war nicht verwundert, sie kochte ihnen beiden eine Kartoffelsuppe mit getrockneten Pilzen, und dann sprachen sie so lange über ihre Angehörigen aus den nicht weit voneinander entfernten Dörfern, daß sich seiner erneut Scham bemächtigte. Was er gestern nicht mehr zu denken vermocht hatte, weil alles sich wie selbstverständlich aus ihrer beider plötzlichem und ununterdrückbarem Begehren ergeben hatte, verwandelte sich in ein Rätsel. Wie sollte er daran anknüpfen? Wo beginnen? Was sollte er sagen? Wie sie berühren? Er war so verzweifelt über die peinliche Unwissenheit und Unfähigkeit, die sein Mannestum in Zweifel zogen, bis er beschloß, sich lieber in seiner Höhle zu verkriechen. Da lächelte Jitka ihm zu und streckte die Hand nach der Stehlampe aus. Wie einfach! dachte er dankbar, beim Rascheln der Kleider glühten ihm noch die Wangen, doch dann war alles nur noch wunderbar.

Dieses Ritual wiederholte sich Abend für Abend, und Morava machte eine weitere Entdeckung: Die gleiche Eröffnung führte jedesmal in eine andere Richtung, ihm war, als entdeckte er bei ihr immer neue Räume, und gleichzeitig schien Jitka immer neue Schichten in ihm freizulegen. Die erwachende Vorstellungskraft ließ ihn spüren, daß sie beide bei allem noch immer schüchtern waren, er begann zu ahnen, zu welcher Leidenschaft sich aufzuschwingen sie gemeinsam fähig wären, dennoch hatte er keine Eile, verzaubert von der allmählichen, aber nicht nachlassenden Verquickung ihrer Wesen.

Den nächtlichen Festen schlossen sich bald auch die des Morgens an. Sie gewöhnten sich daran, einer in des anderen Armen einzuschlafen, und so erwachten sie auch, er mit dem Kinn in ihrem Haar, sie mit dem Mund an seiner Brust wie festgesaugt. Sie sahen sich nicht, und wer zu sich kam, erriet, ohne sich zu regen, ob der andere schon wach war. Ganz langsam bewegten sie sich dann, er nach unten, sie nach oben, bis ihre Augen sich trafen. Sie begrüßten einander mit verschlafenem Lächeln und einem kleinen Kuß, der nach Kindheit duftete, schlossen die Augen wieder und blieben so liegen, bis das Rasseln des Weckers sie aufscheuchte.

Die Schrecken des gemeinsamen Handwerks ließen sie ohne Absprache in dem Gebäude zurück, aus dem sie am Ende des Tages traten, und verloren daheim kein einziges Wort darüber. Dafür nahmen sie das Wüten des Krieges Abend für Abend bewußt auf. Jan Morava steckte in das Radiogerät eine gut getarnte Spule, volkstümlich «Churchillchen» genannt, mit der ihn der Hauptkriminaltechniker heimlich ausgestattet hatte, und fischte zwischen den Wurfnetzen der Störsender nach tschechischen Stimmen, die Hoffnung wie Sorge brachten: Mit jedem Tag wurde es klarer, daß das Ringen der Welt mit dem Dritten Reich sich im Kampf um die Festung Böhmen und Mähren entscheiden würde.

Seit er denken konnte, hatte Morava trotz seiner Friedfertigkeit nie Angst gehabt, er war eben ein Schmiedesohn, selbst die großen Jungen fürchtete er nicht, und die kriegten bald sehr wohl spitz, daß er zumindest versuchte, jede Beule mit Anstand zurückzugeben. Obwohl er in seinem Beruf täglich von neuem staunender Zeuge widerwärtiger Schändlichkeiten war, die von Menschen an Menschen verübt wurden, kam ihm nie der Gedanke, selbst einmal Opfer zu werden. Höchst seltsam, aber wahr: Erst die Liebe weckte über Nacht die elementare Angst in ihm.

Er erinnerte sich, wie er als Kind mitten in der Nacht aufgeschreckt war, weil seiner Mutter etwas Schlimmes zustieß. In seinem Flanellnachthemd, feucht vom warmen Schweiß, tappte er zur Tür der Stube, wo das solide Bett der Eltern stand, öffnete sie geräuschlos und spitzte die Ohren, um neben dem lauten Schnaufen des Vaters auch ihren schwachen Atem zu erlauschen. War er sich nicht sicher, dann stahl er sich ans Bett heran, um vorsichtig tastend zu prüfen, ob ihre Hand oder ihr Gesicht auch warm waren. Obwohl sein Vater ein stattlicher Mann war, vermochte Jan sich nicht vorzustellen, wie sie ohne die Mutter überleben könnten.

Zwanzig Jahre später war für ihn der Gedanke ebenso bedrückend, etwas Furchtbares könnte Jitka aus seinem Leben reißen. Wenn sie sich liebten, war der Tod absurd, dann schien ihm, als schüfen sie gemeinsam ein Kraftfeld, das alles abstieß, was nach Unheil roch. Um so verletzlicher wirkte sie, wenn er sie aus seinen Armen lassen mußte, und deshalb verzögerte er die Umarmungen auch über das Weckerscheppern hinaus.

An diesem Märzmorgen trieb vom Vyšehrad, von der Kaiserwiese und von den Pankrácer Feldern her der kräftige Duft der erwachenden Erde bis in ihr Dachzimmer. Seit er in Prag war, wohnte er inmitten der Stadt, so klein und unbequem sein Quartier auch war, konnte er doch nicht genug von ihr haben. Mein Rasen ist jetzt der Asphalt und meine Bäume die Schornsteine, schrieb er einmal nach Hause und vergrämte damit seine Mutter. Es war kein Krampf, er war in die Stadt eingerastet, als wäre sie sein ureigenes Element, nachträglich erkannte er, welchem Unglück er aus dem Weg gegangen war, als er den Bruch riskierte und die elterliche Schmiede nicht übernahm. Das einzige, was er hier gelegentlich vermißte, waren eben die Urgerüche, die ihm seinerzeit zu Hause schon beim Aufwachen den Stand von Natur und Wetter vermittelt hatten.

Die scharfe beißende Witterung, die der Wind herübertrug, verkündete, das wußte er mit Sicherheit, den Augenblick, da die winterliche, dem Nichtsein so ähnliche Starre unversehens nachließ und das Keimen einsetzte, dieses ureigene Zeichen des Lebens. Nie vergaß er, wie ihn sein Großvater einmal in aller Frühe auf den Damm des Dorfteiches mitnahm, um ihm, dem Begriffsstutzigen, nur ein paar Minuten lang mit schwieligem Finger die große zugefrorene Oberfläche zu zeigen, bis sie plötzlich von selbst mit dumpfem Donnern mitten durchriß und das befreite Wasser aus dem Spalt hervorsprudelte.

Morava hätte wetten können, das gleiche Schauspiel habe auch heute früh bei ihnen zu Hause stattgefunden, doch die übliche Freude über das Vergehen des Winters, die den Dörfler auch in der Stadt bis ans Lebensende begleitet, stellte sich nicht ein, im Gegenteil, ihn durchfuhr eine Angst, die um so größer war, je mehr er das Mädchen in seinen Armen anbetete. Mein Liebes, flüsterte er ihr in Gedanken zu, was fange ich an, wenn ich dich verliere? Er verspürte Tränen in den Augen, was ihm seit dem Tod des Vaters nicht mehr geschehen war.

«Du weinst ...?» sagte sie überrascht.

Er nickte stumm.

«Aber warum??»

«Ich habe Angst um dich!»

«Aber warum ...?» wiederholte sie ratlos.

Zum erstenmal sprach er aus, was ihn schon seit langem bedrückte, seit es Beran einmal angedeutet hatte: daß sie beide in der Löwengrube sitzen. Käme der Krieg erst hierher, dann würden weder die Deutschen mit den Protektoratsbehörden liebevoll umspringen noch die Hurrapatrioten, die sich um so rabiater aufführen würden, je mehr Butter sie sich selbst vom Kopf zu waschen hätten.

«Wenn es nach Zusammenbruch aussieht, Jitka, mußt du um jeden Preis weg aus der Bartolomějská!»

«Wohin?»

«Niemals zu den Deinen, dort wird die Front verlaufen, außerdem könntest du in den Fall deines Vaters hineingezogen werden. Du bleibst einfach ein paar Tage hier, schlimmstenfalls im Keller. Ich werde Beran sagen, er soll dich nicht suchen lassen, bestimmt wird er das begreifen. Nur versprich mir, wenn ich gerade nicht hier bin, daß du bei der allergeringsten Gefahr auf mich hörst!»

«Und du ...?» fragte sie verständnislos.

«Ich muß bei ihm bleiben, doch hab keine Angst, ich sorge schon für mich.»

Sie löste sich von ihm, drehte sich auf den Rücken und schob mit ihren jetzt freien Händen das Federbett beiseite. Das Licht in dem kleinen Zimmer hatte zugenommen, und zum erstenmal spürte er sie nicht nur, sondern sah sie auch nackt. Ihr weißer Leib mit den vollen Brüsten und dem schattigen Schoß wirkte noch wehrloser.

«Jan, Liebster, ich werde auf dich hören, aber ich habe auch einen Wunsch.»

«Ja ...?»

Also sprach sie wie eine erwachsene Frau, nie zuvor hatte er sie so gehört, die Strenge der Mütter klang aus ihren Worten.

«Solltest du trotz allem nicht für dich sorgen können, dann will ich wenigstens dein Kind haben.»

Sternstunde der Mörder

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