Читать книгу Sternstunde der Mörder - Pavel Kohout - Страница 26

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Barbora Pospíchalová ging eigentlich gern auf den Friedhof. Ihren Mann hatte der Tod unbarmherzig lange hingehalten, hatte mit ihm gespielt wie eine satte Katze mit der Maus. Als er ihn schließlich erdrosselte, war das eine Erlösung für ihn wie für seine Frau.

Sie hatte ihren Jaroslav nach langem Wählen erst mit Dreißig aus Liebe genommen, die durch seine bald ausgebrochene schleppende Krankheit nur noch stärker wurde. Deshalb war sie selber zutiefst überrascht, wie bald sich nach seinem Tod der Friede in ihr ausbreitete. Sie hätte geschworen, sie würde Monate, vielleicht gar Jahre einer normalen Existenz unfähig sein. Und geradezu absurd, ja unappetitlich schien ihr die Vorstellung, sie könnte noch irgendwann einen Liebhaber, geschweige denn einen Ehemann haben. Doch schon einen Monat nach der Beerdigung bekam sie eine neue Liebeserklärung und zugleich einen Heiratsantrag.

Daß dies geschehen konnte und daß sie nicht mit einem kategorischen Nein darauf antwortete, sondern nur um geziemenden Aufschub bat, wie es das Gedenken an den Toten und die Schicklichkeit erforderten, war einem erleichternden Umstand zu danken: Der Bewerber war Jaroslavs Bruder Jindřich, der unermüdlich an ihrer Seite für ihn gesorgt hatte, bis dieser seinen letzten Atemzug tat. In all der langen Zeit hatte er seine Gefühle nie offenbart und ging auch jetzt auf ihren Wunsch ein. Um so tiefer war sie ihm zugetan.

Damals hatte sie beschlossen, ein halbes Jahr abzutrauern, und das war gerade abgelaufen. Morgen wollte der Schwager zum Abendessen kommen, und Barbora war sich sicher, daß er bei ihr bleiben würde. Plötzlich wurde ihr bewußt, daß selbst hier, wo nur eine Schicht Erde sie von dem Körper trennte, den sie voll Liebe umfangen hatte, sie sich auf die nahe Liebesnacht freute. Verzeih, mein bester Jaroušek! tat sie flüsternd Abbitte. Einen Augenblick lang kam sie sich scheußlich animalisch vor und überlegte, ob sie Jindřich nicht abschreiben sollte.

Dann, als wäre sie aus eiskalter Tiefe aufgetaucht, hörte sie die Stimmen der ersten Vögel, die nach dem Winter in die Baumkronen hier zurückkehrten und den Friedhof in einen Park verwandelten. Sie erkannte im Windgesäusel den Vorboten der Frühlingsdüfte, und der vorherige Gedanke schien ihr lebensfremd. Jaroslav war tot, verwandelte sich nach und nach in Humus, aus dem in Kürze frisches Grün sprießen würde. Warum sollte nicht genauso aus der Liebe zweier Menschen zu ihm ein neues Gefühl entstehen, das sie im Grunde alle drei vereinte?

Barbora holte Wasser für den Blumenstrauß und wischte wie immer die kleine Marmorsäule mit dem vergoldeten Namenszug und den beiden Lebensdaten ab. Mit Sidol putzte sie dann die kleine blaue Messinglaterne, die sie schon letztes Jahr hier für bessere Zeiten aufgestellt hatte: Nach dem Luftangriff im Februar hatten die Prager selbst die schlecht brennenden Ersatzkerzen für die Luftschutzkeller aufgekauft, und mit Anbruch der Dämmerung galt auch für Friedhöfe die strenge Verordnung vollständiger Verdunkelung. Als sie endlich ihr Gebet gesprochen, sich bekreuzigt hatte und vom Grab zurücktrat, stieß sie gegen einen Mann.

Sie erschrak, denn sie war es gewöhnt, hier um die Mittagszeit meist keiner Menschenseele zu begegnen. Der Mann entschuldigte sich überstürzt. Sein Tschechisch hatte einen ungewöhnlichen Akzent, doch mehr noch nahm sie sein seltsames Aussehen gefangen. Der schwarze Anzug im Vorkriegsschnitt paßte nicht zu dem abgewetzten braunen Koffer. Oder ist er etwa gleich vom Bahnhof zur Beerdigung gekommen? Aber es findet doch gerade gar keine statt. Hat er sich vielleicht im Ort oder in der Zeit vertan?

Natürlich hatte sie nicht die Absicht, ihn auszufragen, sie gab nur ein höfliches Keine Ursache! von sich und überlegte auch nicht, was sie vor allem an ihm stutzig machte. Sie wandte sich dem Ausgang zu, als er fragte, wo er das Grab Smetanas finden könne. Sie führte ihn also hin, denn es war zur ungeschriebenen Pflicht eines jeden geworden, dem es vergönnt war, hier ein Grab zu haben, den Weg zu den Größen der Nation allen zu weisen, die an ihren Gräbern von jener Hoffnung zehren wollten, die schon einmal vor hundert Jahren die Tschechen aus ähnlich tödlicher Ohnmacht erweckt hatte.

Unterwegs konnte sie sich der Frage nicht erwehren, woher er komme, und war von seinem Schicksal erschüttert. Er hatte Weib und Haus bei einem kürzlichen Luftangriff auf Zlín in Mähren verloren und war auf dem Weg zu seiner geschiedenen Schwester in Prag. Bis diese von der Arbeit heimkomme, vertraute er sich Barbora an, wolle er sich wieder Mut machen durch den Besuch des denkwürdigen Ortes, auf den er sich seit seiner Schulzeit vergeblich gefreut hatte.

Als sie sich vor dem Slavín, der Ruhestätte tschechischer Genien, verabschieden wollte, erhob sich ein Wind, der ihr in Erinnerung brachte, daß der Winter noch längst nicht vorüber war. Sie begriff, was sie an ihm so störte, und fragte, warum er keinen Mantel anhabe. Der sei doch in seinem Haus geblieben, erklärte er schlicht, und sie errötete, daß sie darauf nicht gekommen war. Ihr Schrank war noch immer voll von Jaroslavs Überziehern, in denen der dürre Jindřich wie eine Vogelscheuche aussehen würde, und überhaupt: Ihr wäre ohne diese Sachen wohler zumute ...

«Ich wohne in der Nähe», sagte sie in aufwallendem Mitgefühl, «mein seliger Mann hat eine Menge Sachen hinterlassen, Sie können sich etwas aussuchen.»

«Der Herrgott vergelt’s Ihnen, vielen Dank», sagte er etwas altväterlich in mährischem Tonfall, wie sie bereits erkannt hatte, und hob den prallgefüllten Koffer auf.

Sternstunde der Mörder

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