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1.Sachgerechtes Erfassen der Aufgabenstellung

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41Was die Auswertung der Aufgabenstellung anbelangt (zur Arbeit am und mit dem Sachverhalt anschließend unter II.), geht es vornehmlich und zunächst darum, sich über die „wahre“ Aufgabenstellung zu vergewissern. Es kommt darauf an festzustellen, wie denn die „eigentliche“ Aufgabenstellung beschaffen ist. Bei diesem ersten Arbeitsgang zur Fallbearbeitung kann man gar nicht sorgfältig genug vorgehen, denn es handelt sich dabei – auch wenn das Empfinden dafür bisweilen verloren geht – um eine maßgebliche, wenn nicht sogar entscheidende Weichenstellung für die spätere Falllösung. Das mag dramatisch und übertrieben klingen; die Erfahrung lehrt jedoch, dass eine beachtliche Zahl juristischer Hausarbeiten und Klausuren schon deshalb nicht wie erhofft und erwartet bewertet werden kann, weil sie bereits die Aufgabenstellung (vollständig oder auch nur teilweise) verfehlt.

42Die Gründe für das Verfehlen oder Verkennen der Aufgabenstellung sind so zahlreich und so vielfältig, dass sie sich einer auch nur annähernd abschließenden Aufzählung und Benennung entziehen. Sie können im individuell-persönlichen Bereich des jeweiligen Hausarbeits- und Klausurverfassers liegen, können aus objektiv bestehendem oder subjektiv erlebtem Zeitdruck verbunden mit Stressoren der Prüfungssituation resultieren, und sie können sich aus der textlichen Abfassung von Sachverhalt nebst Aufgabenstellung etc. ergeben.

43a) Fehlerquellen. Gleichwohl lassen sich zumindest zwei häufig vorkommende Fehlerquellen bei der Auswertung von Aufgabenstellungen beschreiben. Zum einen führt die flüchtige Erstbefassung mit dem ausgegebenen Sachverhaltstext oftmals dazu, sich schon vor Kenntnisnahme von der tatsächlichen Aufgabenstellung wie von selbst – quasi intuitiv – mit durchaus denkbaren (Fall)Fragen auseinander zu setzen. Damit wächst die Gefahr, dass sich das, was man sich als „ad hoc-erfasste“ Aufgabenstellung vorgestellt hat, gedanklich als (vermeintlich) tatsächlich gestellte Aufgabe festsetzt. Die Folge ist zumeist, dass die tatsächlich gestellte Aufgabe nicht mehr unvoreingenommen und mit der nötigen Distanz zum Sachverhalt zur Kenntnis genommen werden kann. Das wiederum kann zu manchmal nur sehr schwer korrigierbaren Missverständnissen und interpretativen Verzerrungen bei der Wahrnehmung des „wirklichen“ Aufgabentextes führen. Sogar „erfahrene“ Hausarbeits- und Klausurverfasser bestätigen immer wieder, dass ihnen derartige Fehldeutungen der „wahren“ Aufgabenstellung unterlaufen, und sie diese falsche „Weichenstellung“ erst viel später (nicht selten: zu spät) im Zuge der weiteren Fallbearbeitung bemerken. Mit der dann fälligen Umstellung und inhaltlichen Abänderung im Ablauf der Fallbearbeitung geht wertvolle Zeit verloren, die entstehende Zeitnot selbst ist weiterer Quellgrund für noch mehr Bearbeitungsfehler. Wer also den Sachverhaltstext einer Hausarbeit oder Klausur in aufgeregter Neugier „diagonal“ überliest (und wer verhält sich in der Prüfungssituation einer juristischen Hausarbeit oder Klausur anders?), tut gut daran, sich vor Befassung mit der tatsächlich gestellten Aufgabe ganz bewusst und diszipliniert von den Vorprägungen des überflogenen Sachverhaltstextes zu distanzieren, um die „wahre“ Aufgabenstellung unverfälscht erkennen zu können.

44Immer wieder anzutreffen und dennoch kaum zu begreifen sind weitere, teilweise grotesk anmutende Fehler bei der Erfassung der Aufgabenstellung, die hier der Einfachheit halber und zur Verdeutlichung dessen, was gemeint ist, zusammenfassend als „selbstbestimmte Aufgabenstellung“ charakterisiert werden sollen. Das Phänomen ist schnell umrissen: Obwohl die Aufgabenstellung klar und eindeutig formuliert ist und ohne weiteres ersichtlich ist, was und wonach gefragt ist, behandelt die Fallbearbeitung statt dessen Sachfragen, die in der Aufgabenstellung partout nicht vorkommen oder übergeht Fallfragen, die in der Aufgabenstellung ausdrücklich genannt sind. Entsprechendes gilt für stoffbegrenzende oder – was eher selten der Fall ist – stofferweiternde Bearbeitungsvermerke oder ­hinweise.

45Wenn sich beispielsweise in der Aufgabenstellung als stoffbegrenzender Bearbeitungshinweis die Aufforderung findet, dass Tatbestände nach der AO (wie bei B. II., Bearbeitungshinweis 4) oder Insolvenzdelikte und Straftatbestände nach dem GmbHG (wie bei B. II., Bearbeitungshinweis 3) nicht zu prüfen sind, dann wäre es nicht nur ein formaler, sondern ebenso ein inhaltlicher Bearbeitungsfehler, die Fallbearbeitung entgegen der klaren Anweisung doch auf die Prüfung von Straftatbeständen der AO, des GmbHG oder des Insolvenzstrafrechts zu erstrecken, wie reizvoll die Prüfung dieser Deliktsbereiche auch sein mag.

46Dasselbe trifft für Aufgabenstellungen in zivilrechtlichen Klausuren und Hausarbeiten zu: Wenn ausdrücklich die Prüfung z. B. deliktsrechtlicher Ansprüche oder anderweitiger Ansprüche aus speziellen gesetzlichen Regelungen ausgeschlossen sein soll (vgl. bei B. I., Bearbeitungshinweis 1), wäre es verfehlt, trotz dieser unmissverständlichen Aufgabenbegrenzung schließlich – aus welchen Gründen auch immer – doch (noch) deliktsrechtliche Ansprüche etc. zu prüfen.

47Und ähnlich verhält es sich bei öffentlich-rechtlichen Klausuren und Hausarbeiten. Als Beispiel dafür sei auf den Bearbeitungshinweis 5 bei B. III. verwiesen: die im Hinweis enthaltenen rechtlichen Vorgaben auf ihren Richtigkeitsgehalt in der Fallbearbeitung (noch einmal) zu überprüfen, würde die Aufgabenstellung nicht nur verändern, sondern sie auch überfrachten.

48Man soll sich als Klausur- oder Hausarbeitsverfasser/in nichts vormachen: Solcherlei Missachtungen stoffbestimmender und -begrenzender Bearbeitungshinweise sind nicht etwa nur „unschädlich“, sondern ausgesprochen „falsch“, ganz abgesehen davon, dass sie zumeist die Bearbeitung der „eigentlichen“, „wahren“ Aufgabenstellung belasten und beeinträchtigen und überdies mit weiteren „technischen“ Hinweisen zur Fallbearbeitung (z. B. bei B. I., Bearbeitungshinweis 2: Der Umfang des Gutachtens ist auf 30 Seiten zu beschränken) kollidieren (können).

49b) Besonderheiten in einzelnen Rechtsgebieten. Ebenso wie die stoffbestimmenden bzw. -begrenzenden Bearbeitungshinweise ist auch das Kernstück der Aufgabenstellung juristischer Hausarbeiten und Klausuren, nämlich die sog. Fallfrage(n), nicht davor gefeit, verändert, verfälscht, ja sogar manipuliert oder auf sonstige Weise missachtet zu werden.

50aa) Strafrecht. Als besonders anfällig für Bearbeitungsfehler erweisen sich in strafrechtlichen Hausarbeiten und Klausuren wechselnde oder konstante Tatbeteiligungen in unterschiedlichen, zusammenhängenden oder unabhängig nebeneinander bestehenden Sachverhalts- und Tatkomplexen. Sind es A, B und C, die im Sachverhaltstext als an der Tat auf irgendeine Weise beteiligte Personen auftreten, ist beispielsweise nicht nachvollziehbar, warum die Strafbarkeit des C geprüft wird, wenn ausdrücklich nur nach der Strafbarkeit von A und B gefragt ist. Ist nach der Strafbarkeit der Tatbeteiligten oder einfach nur der Beteiligten gefragt (vgl. bei B. II. Fallfrage(n) 4), wäre es verfehlt, die Strafbarkeitsprüfung nur für A oder B oder für A und B etc. durchzuführen; die etwaige Strafbarkeit des C ist in diesem Falle unverzichtbarer Bestandteil der zur Aufgabe gestellten Fallprüfung selbst dann, wenn die Strafbarkeitsprüfung von A und C oder B und/oder A, B und C völlig sachidentisch wäre. Wie und insbesondere in welcher formalen Weise bei völliger Identität der Strafbarkeitsprüfung mehrerer tatbeteiligter Personen die Fallfrage(n) zu bearbeiten ist (sind), ob etwa A, B und C oder lediglich B und C etc. gemeinsam auf ihr strafbares Verhalten zu überprüfen sind (man erspart sich so unnötige wortwörtliche Wiederholungen), hängt ganz von der Tat und Tatbeteiligungscharakteristik des jeweiligen Einzelfalls ab.

51Man wende nicht ein, bei alledem handele es sich um Banalitäten, Binsenweisheiten und Selbstverständlichkeiten. Wer sich schon einmal mit der Korrektur juristischer Hausarbeiten und Klausuren abgemüht hat, wird bestätigen, dass der nachlässige Umgang mit Fallfragen und die damit einhergehenden Bearbeitungsfehler, wie sie vorstehend nur aus Gründen verdeutlichender Exemplifizierung strukturell vereinfacht dargestellt worden sind, als eine Elementarsünde der juristischen Fallbearbeitung durchaus an der Tagesordnung ist.

52bb) Zivilrecht und öffentliches Recht. Für die Aufgabenstellung zivilrechtlicher und öffentlich-rechtlicher Hausarbeiten und Klausuren gilt der Sache nach nichts anderes. Wenn beispielsweise im Sachverhalt der Abschluss eines Kaufvertrages mit anschließender Eigentumsverschaffung geschildert ist und sich bei Zwei- oder Mehrpersonenverhältnissen die Fallfrage konkret auf einen möglichen Kaufpreisanspruch des A gegenüber B bezieht, wäre es nicht nur unangebracht, sondern verfehlt, ergänzend einen denkbaren Übereignungsanspruch des B gegen A zu prüfen. Ist ganz allgemein danach gefragt, welche Ansprüche A gegen B oder B gegen A haben könnte, sind alle in Betracht kommenden Anspruchsgrundlagen zu prüfen; eine selbstbestimmte Reduzierung der Fallprüfung auf Kaufpreis- oder Übereignungsansprüche etc. entspräche nicht der Aufgabenstellung.

53Genauso verhält es sich in öffentlich-rechtlichen Klausuren und Hausarbeiten. Ist konkret danach gefragt, ob eine bestimmte im Sachverhalt beschriebene Verwaltungsmaßnahme gegen ausdrücklich benannte gesetzliche Vorschriften verstößt, wäre es ein Bearbeitungsfehler mit „falscher Weichenstellung“, das betreffende Verwaltungshandeln auf weitere Gesetzesverstöße zu überprüfen. Ist umgekehrt allgemein nach der Rechtmäßigkeit z. B. eines behördlichen Verwaltungsakts gefragt, erfordert die Fallbearbeitung eine Durchprüfung sämtlicher für die Rechtmäßigkeit bzw. Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts maßgebenden gesetzlichen Bestimmungen.

54Man erleichtert sich die sachgetreue Umsetzung der Fallfragen in die Fallbearbeitung übrigens, wenn man sich im Kontext mit dem jeweiligen Sachverhalt klar macht, dass Fallfragen aus der Perspektive des Aufgabenstellers ein Steuerungsinstrument zur Bestimmung und Begrenzung von Inhalt und Umfang der erwarteten Fallbearbeitung darstellen. Dieses „funktionell-technische“ Verständnis der Fallfrage(n) animiert oftmals dazu, die gestellten Fallfragen unbefangen und gerade deshalb in ihrem „wahren“ Sachgehalt zu erfassen und bewahrt gleichermaßen vor einem Zuviel oder Zuwenig an Fallbearbeitung und -lösung.

Methodik der juristischen Fallbearbeitung

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