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1.Sachverhalt mehrmals und genau lesen

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75Der im Rahmen einer juristischen Hausarbeit oder Klausur unter dem Blickwinkel der dazugehörigen Aufgabenstellung zu bearbeitende Sachverhalt versteht sich – darauf ist während der gesamten Fallbearbeitung immer wieder Acht zu geben – als konkreter Lebenssachverhalt, mit anderen Worten: als die sprachlich umgesetzte Wiedergabe eines – wenn auch kleinen – Ausschnitts aus der gesellschaftlichen Lebenswirklichkeit. Das ist allerdings nur die eine Seite der Genese juristischer (!) Sachverhalte. Ein anderer, für das Verstehen von Sachverhalten in juristischen Hausarbeiten und Klausuren mindestens ebenso wichtiger Aspekt resultiert daraus, dass der Sachverhalt für den Aufgabensteller ähnlich wie die Aufgabenstellung mit ihrem Kernstück, der(n) konkreten Fallfrage(n), ein Steuerungsinstrument zur Bestimmung und Begrenzung dessen darstellt, was nach Inhalt und Umfang von der Fallbearbeitung erwartet wird. Der Sachverhalt ist daher nicht lediglich konkreter Lebenssachverhalt, sondern er ist zugleich das Medium, mit dem der Aufgabensteller rechtliche Fragestellungen kommuniziert und an den Fallbearbeiter heranträgt.

76Insbesondere mit dieser „Steuerungsfunktion“ des Sachverhalts verbindet sich manche Unsicherheit und Unwägbarkeit bei der Arbeit am und mit dem Sachverhalt; denn was als Sachverhalt der(n) Fallfrage(n) vorangestellt ist, verdankt seine Entstehung viel zu oft nicht der „wahren“ Realität einzelmenschlicher oder gesellschaftlicher Lebensvorgänge und -verhältnisse, sondern umgekehrt rechtlichen Problemkonstellationen, deren zugehörige Lebenswirklichkeit in Form einer knappen Aufzählung nur der unbedingt notwendigen Fakten geschildert wird. Nicht selten sind es aus zwei oder drei BGH-Entscheidungen, den Entscheidungen anderer Gerichte, oder der Lehrbuch- und Kommentarliteratur entnommene rechtliche Problemlagen, die – bisweilen mehr schlecht als recht „kompositorisch“ zusammengefügt – qua Schilderung der maßgeblichen (Rechts-)Tatsachen einen Sachverhalt produzieren, der zwar Lebenswirklichkeit vorgibt, im Grunde aber wirklichkeitsfremd ist.

77Nicht wesentlich anders verhält es sich mit Sachverhalten, die zwar von Personen, Vorgängen, Zuständen des wirklichen Lebens initiiert werden, jedoch in ihrem Tatsachenstoff auf das zur (gewünschten) Erörterung bestimmter rechtlicher Fragestellungen „zwingend“ Erforderliche reduziert sind. Es liegt auf der Hand, dass dem Aufgabensteller bei der Abfassung von Sachverhalten (mangels so gut wie ausgeschlossener Unfehlbarkeit) immer wieder einmal Nachlässigkeiten und sonstige Unzulänglichkeiten unterlaufen können, die – etwa weil zu wenige Tatsachen geschildert sind, sich falsche Zahlenwerte einschleichen oder dem Gebrauch bestimmter sprachlicher Wendungen eine eigene Wortdeutung unterlegt ist – den zu bearbeitenden Sachverhalt in sich unstimmig erscheinen lassen. Diese Abhängigkeit des Sachverhalts von individuellen, auf die Person des jeweiligen Aufgabenstellers zugeschnittenen Entstehungsmodalitäten birgt die Gefahr von Missverständnissen und Fehldeutungen des Sachverhalts durch den Fallbearbeiter.

78Dem entgegenzuwirken (ausschließen lässt sich das Risiko von Fehldeutungen etc. nie) setzt zu Beginn der Arbeit am und mit dem Sachverhalt voraus, ihn mehrmals konzentriert zu lesen. Mehrmaliges konzentriertes Lesen des Sachverhalts zielt darauf ab, sich den geschilderten Tatsachenstoff, ebenso wie möglicherweise erläuternd beschriebene rechtliche Gegebenheiten und Zusammenhänge, fest einzuprägen, und zwar so, dass im Wege sorgfältigen Durchlesens und Durcharbeitens eine sichere Kenntnis des Sachverhalts bis ins kleinste Detail gewonnen wird. Es bei dem schon erwähnten neugierigen „diagonalen“ Überfliegen des Sachverhalts zu belassen, genügt deshalb in keinem Fall.

79Das gilt insbesondere für die Fallbearbeitung im Rahmen einer Klausur. Gewiss ist es verlockend, sich angesichts knapper Zeitressourcen bei der Klausurbearbeitung in gewagter Überschätzung der eigenen Auffassungsfähigkeiten schon während des ersten (!) Durchlesens des Sachverhalts in die – wie sich nach mehrfachem Lesen des Sachverhalts häufig herausstellt: nur vermeintlichen – Rechtsprobleme des geschilderten Lebenssachverhalts hineinzudenken. Die Gefahr ist groß, dass man sich dann von der mehr intuitiv im ersten Zugriff gelenkten Problemdeutung und -erkenntnis innerlich nur schwer lösen kann und dann alles im Lichte dieser Problemerfassung versteht. Das kann fatale Folgen haben, wenn die so „schnellschüssig“ identifizierte Fallproblematik in der Sache ein Fehlgriff war. Es kommt deshalb darauf an, sich auch im Rahmen einer Klausur zu disziplinieren und den Sachverhalt möglichst noch „problemdistanziert“ und unbefangen mehrfach Wort für Wort durchzulesen; denn nur eine detailgetreue Kenntnis des Sachverhalts gewährleistet später eine zutreffende Fallbearbeitung. Wer bei der Erfassung des Sachverhalts auf Zeitersparnis setzt, erweist sich und seiner Fallbearbeitung einen von vornherein unnötigen „Bärendienst“ (vgl. dazu auch Mann, Arbeitstechnik, Rn. 155 f., 157; Möllers, Arbeitstechnik, § 2 Rn. 4 mit Rn. 7).

Methodik der juristischen Fallbearbeitung

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