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Interpretationen
ОглавлениеDie gerade angesprochene Interpretation hat ihren Ursprung in einer sehr viel späteren Niederlage, die nicht nur das Interesse am Dreißigjährigen Krieg erneuert, sondern auch die Sichtweise auf denselben grundlegend verändert hat. Für die Erlebnisgeneration des Dreißigjährigen Krieges und ihre Kinder jedoch behielten die Kriegsereignisse ihre zeitgeschichtliche Unmittelbarkeit. Von Anfang an erregte der Konflikt großes Interesse in ganz Europa und beschleunigte so jene „Medienrevolution“ des frühen 17. Jahrhunderts, aus der auch die moderne Zeitung hervorgehen sollte (siehe Kapitel 23). Der Vertragstext des Westfälischen Friedens, der am Ende des Krieges stand, entwickelte sich zum internationalen Bestseller, der innerhalb eines einzigen Jahres mindestens 30 Auflagen erlebte. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts nahm das Interesse langsam ab, aber da rutschte Mitteleuropa auch schon in einen weiteren 30-jährigen Konflikt hinein – diesmal vor allem mit Frankreich und dem Osmanischen Reich. Die Erinnerung an den „ersten“ Dreißigjährigen Krieg wurde jedoch wachgehalten – durch alljährliche Feste zur Erinnerung an den Friedensschluss von Münster und Osnabrück, aber auch durch eine (vergleichsweise kleine) Anzahl von Büchern für ein breites Publikum. Wie die öffentlichen Feierlichkeiten vermittelten diese Werke eine im Großen und Ganzen positive Sicht der Kriegsergebnisse, schließlich seien die Freiheiten der deutschen Protestanten bewahrt und die Reichsverfassung gestärkt worden.3
Die Französische Revolution und dann die Zerstückelung des Heiligen Römischen Reiches durch Napoleon trübten diese Sichtweise drastisch ein. Der österreichisch-preußische Gegenangriff auf das revolutionäre Frankreich zog die Deutschen 1792 erneut in den Kreislauf aus Invasion, Niederlage, Aufruhr und Verwüstung hinein. Diese Erfahrungen fielen mit neuen geistigen und kulturellen Strömungen zusammen, die zusammenfassend als „Sturm und Drang“ und „Romantik“ bezeichnet werden. Grell-entsetzliche Episoden aus dem Dreißigjährigen Krieg – Geschichten von Massakern, Vergewaltigungen und Folter – stießen beim Publikum sofort auf Resonanz, während die dramatischen Biografien von Figuren wie dem kaiserlichen Heerführer Wallenstein oder dem schwedischen König Gustav Adolf durch den Vergleich mit Napoleon und anderen Männern der Gegenwart mit neuer Bedeutung aufgeladen wurden. Der maßgebliche Vertreter des „Sturm und Drang“, Friedrich Schiller, fand ein nur zu begieriges Publikum vor, als er 1791 seine Geschichte des dreißigjährigen Krieges veröffentlichte, der er in den Jahren 1797–99 seine Wallenstein-Trilogie folgen ließ.
Die romantische Umdeutung des Dreißigjährigen Krieges brachte drei Motive hervor, die sich in Darstellungen des Konflikts noch heute beobachten lassen. Das erste war eine düstere Faszination durch Tod, Verfall und Zerstörung, wobei Deutschland in der Regel als hilfloses Opfer fremder Aggressoren dargestellt wurde. Schauerliche Geschichten von Kriegsgräueln entnahm man Sagen und Märchen aus dem Volk, aber auch der Literatur des 17. Jahrhunderts, allen voran Grimmelshausens Der Abentheurliche Simplicissimus Teutsch, der von den Dichtern der Romantik als „erster echt deutscher Roman“ wiederentdeckt und im frühen 19. Jahrhundert in zahlreichen „verbesserten“ Ausgaben neu aufgelegt wurde.4
Die Wiederkehr solcher Kriegsgeschichten in historischen Romanen, in Historiengemälden sowie als Gegenstand des schulischen Geschichtsunterrichts verstärkte die mündliche Überlieferung zum Dreißigjährigen Krieg in Familien und Gemeinden, nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern, die unter den Kampfhandlungen gelitten hatten. Der Dreißigjährige Krieg wurde zum Maßstab für die Beurteilung aller späteren Kriege. So interpretierten die Bewohner des östlichen Frankreich jede weitere Invasion ihrer Heimat im Lichte alter Geschichten von Schweden und Kroaten, die die Gegend in den 1630er-Jahren verwüstet hatten. Auch Soldaten, die an der Ostfront des Ersten Weltkriegs kämpften, meinten in ihren Schützengräben ein Grauen zu erleben, wie es die Welt seit 300 Jahren nicht mehr gesehen hatte. In seiner Rundfunkansprache vom 3. Mai 1945 verkündete Hitlers Architekt und Rüstungsminister Albert Speer: „Die Verwüstungen, die dieser Krieg Deutschland brachte, sind nur mit denen des Dreißigjährigen Krieges vergleichbar. Die Verluste der Bevölkerung durch Hunger und durch Seuchen dürfen aber niemals das damalige Ausmaß annehmen.“ Nur aus diesem Grunde sehe sich, wie Speer fortfährt, Großadmiral Dönitz genötigt, die Waffen nicht niederzulegen. In den 1960er-Jahren ergaben Meinungsumfragen, dass die Deutschen den Dreißigjährigen Krieg als die größte Katastrophe ihrer Geschichte ansahen, noch vor den beiden Weltkriegen, dem Holocaust und dem Schwarzen Tod.5
Der Einfluss des Fernsehens hat diese Wahrnehmung im späteren 20. Jahrhundert zweifellos verschoben, insbesondere durch die weite Verbreitung von Film- und Fotoaufnahmen der Gräuel aus jüngerer Vergangenheit. Dennoch konnten deutsche Historiker noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts behaupten: „Niemals zuvor und auch niemals nachher, nicht einmal während der Schrecken der Bombenangriffe des Zweiten Weltkrieges, wurde das Land so verheert und die Menschen so gequält“ wie zwischen 1618 und 1648.6
Das zweite Motiv, das die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts hervorgebracht hat, ist die Vorstellung von einer geradezu tragischen Unvermeidlichkeit des Dreißigjährigen Krieges. Dies fällt schon in Schillers Wallenstein auf. Schiller zeichnet die Hauptfigur seiner Trilogie als einen idealistischen, den Frieden suchenden Helden, dessen unabwendbares Schicksal jedoch darin liegt, von seinen engsten Vertrauten ermordet zu werden. Nach den Napoleonischen Kriegen fand dieses Gefühl eines unaufhaltsamen Versinkens im Chaos allgemeine Verbreitung. Die frühere, positive Wahrnehmung des Westfälischen Friedens erschien nun, da das römisch-deutsche Reich 1806 aufgelöst worden war, nicht mehr angemessen. Davon, dass der Dreißigjährige Krieg letztlich sogar die Reichsverfassung gestärkt habe, konnte jetzt keine Rede mehr sein; stattdessen erschien er als der Anfang vom Ende des Alten Reiches. Neuere Forschungen bekräftigen diesen Eindruck, indem sie die Aufmerksamkeit von einzelnen Akteuren und einem möglichen Verfassungsversagen weglenkten und sich stattdessen dem langfristigen Wandel der europäischen Wirtschaft vom Feudalismus zum Kapitalismus zuwandten, der angeblich eine „allgemeine Krise des 17. Jahrhunderts“ heraufbeschwor.7 Andere sehen diese Krise als wesentlich politisch oder ökologisch an, oder als Ausdruck zweier oder mehrerer Faktoren zugleich. In allen ihren Varianten jedoch behauptet die „Krisenthese“, ein tief liegender Strukturwandel am Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit habe Spannungen verschärft, die sich in den Jahren nach 1600 überall in Europa in gewaltsamen Aufständen und internationalen Konflikten entladen hätten.8
Im 19. Jahrhundert brachten verschiedene Sichtweisen dieser Ereignisse im Heiligen Römischen Reich schließlich das dritte und wohl einflussreichste Motiv in der deutschen Diskussion über den Dreißigjährigen Krieg hervor, indem die Erinnerung an 1618/48 mit der Auseinandersetzung um die „deutsche Frage“ ab 1814/15 verwoben wurde. Es entstanden zwei konkurrierende Narrative, die jeweils mit einer Variante des zukünftigen Deutschland in Verbindung gebracht wurden. Die „großdeutsche Lösung“ sah einen losen Staatenbund vor, dem das habsburgische Österreich und das hohenzollerische Preußen angehören sollten, aber auch das „dritte Deutschland“ der Mittel- und Kleinstaaten, darunter etwa die Königreiche Bayern und Württemberg oder das Herzogtum Nassau. Die „kleindeutsche Lösung“ hingegen schloss Österreich aus, was vor allem an den Schwierigkeiten lag, mit denen die Einbindung der habsburgischen Untertanen in Italien und auf dem Balkan verbunden gewesen wäre. Mit dem preußischen Sieg über Österreich im Deutschen Krieg von 1866 setzte die kleindeutsche Lösung sich durch; durch den deutschen Sieg über Frankreich im Krieg von 1870/71, aus dem das Deutsche Kaiserreich hervorging, wurde sie gefestigt. Beide Zukunftsvisionen, die großdeutsche wie die kleindeutsche, waren eindeutig religiös konnotiert, was auch auf den Streit über die Vergangenheit des Landes übertragen wurde. Die Annahme, der Dreißigjährige Krieg sei ein Religionskrieg gewesen, erschien nun so selbstverständlich, dass sie nur selten infrage gestellt wurde.
Als überaus bedeutsam sollte sich herausstellen, dass der Streit um die deutsche Frage mit der Geburt der modernen Geschichtswissenschaft zusammenfiel. Leopold von Ranke, der Gründervater der historisch-kritischen Schule der deutschen Geschichtsschreibung, nahm sich Wallenstein zum Gegenstand der einzigen großen Biografie unter seinen zahlreichen Schriften. Ranke und seine Zeitgenossen scheuten keine Mühen, das erhaltene Archivmaterial zu studieren, und vieles von dem, was sie geschrieben haben, besitzt auch heute noch großen Wert. Zu ihrer Zeit hatte die Ranke-Schule prägenden Einfluss darauf, wie die Historiker anderer Länder über den Dreißigjährigen Krieg dachten, obwohl natürlich ein jeder den Konflikt in seine eigene Nationalgeschichte einzupassen suchte. Die französischen Historiker betrachteten ihn in der Regel durch die Brille von Richelieu und Mazarin, deren Politik angeblich die Grundlagen einer „französischen Vorherrschaft“ auf dem europäischen Kontinent gelegt hatte, die von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis in die Zeit Napoleons andauerte. In der spanischen Geschichtsschreibung hingegen stand das Motiv eines nationalen Niedergangs im Vordergrund, schien Spanien sich doch nach 1618 deutlich übernommen zu haben. Historiker aus der Schweiz, den Niederlanden und Portugal wiederum verbanden den Dreißigjährigen Krieg mit der Unabhängigkeit ihrer Nationen (jeweils von der Herrschaft der Habsburger), während Dänen und Schweden ihn im Kontext ihrer gegenseitigen Rivalität im Ostseeraum einordneten. Die Sicht der britischen Geschichtsschreibung wich am wenigsten von der deutschen Perspektive ab, was unter anderem daran lag, dass die im 17. Jahrhundert über England und Schottland herrschende Dynastie der Stuarts wegen der Heirat Elisabeth Stuarts mit dem pfälzischen Kurfürsten mit dessen folgenreicher Entscheidung in Verbindung gebracht wurde, sich nach dem Prager Fenstersturz an die Seite der böhmischen Aufständischen zu stellen. Viele britische Historiker des 19. Jahrhunderts betrachteten die Verbindung der beiden Adelshäuser in religiösen Begriffen, nämlich als Ausdruck eines gemeinsamen Kampfes für die „protestantische Sache“; ähnliche Ansichten finden sich auch in den deutlich konfessionell gefärbten Arbeiten deutscher Historiker derselben Zeit, deren Werke wiederum die hauptsächlichen Quellen ihrer britischen Fachkollegen darstellten.9
Die Vorstellung vom Dreißigjährigen Krieg als einem Religionskrieg harmonierte zudem mit der protestantischen Meistererzählung, die hinter einem großen Teil der Historiografie des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts stand und der zufolge die Reformation mitsamt ihren Folgen als Befreiung vom katholischen Joch gedeutet wurde. Dieselbe progressive Entwicklungslinie ließ sich aber auch ohne konfessionelle Einfärbung zeichnen, nämlich als rein säkularer Modernisierungsprozess. In einer neueren Darstellung wird der Dreißigjährige Krieg so zur „Entwicklungs- oder … Modernisierungskrise“ der europäischen Zivilisation, zu einem „Inferno“, das die moderne Welt hervorgebracht habe.10
Es ist ein Gemeinplatz der geschichts- und politikwissenschaftlichen Literatur, dass der Westfälische Friedensschluss am Ursprung jenes Systems souveräner Staaten stehe, das in den kommenden Jahrhunderten die zwischenstaatlichen Beziehungen auf der ganzen Welt prägen sollte und deshalb auch als das Westfälische Staatensystem bekannt ist. Unter Militärhistorikern gelten Schlüsselfiguren wie Gustav Adolf gemeinhin als die „Väter“ der modernen Kriegführung. Auf politischer Ebene, heißt es, habe der Dreißigjährige Krieg die Ära des Absolutismus eingeläutet, die das Schicksal weiter Teile Europas bis zur Französischen Revolution bestimmt habe. Die Europäer ihrerseits exportierten ihre Konflikte in die Karibik, nach Brasilien, Westafrika, Mosambik, Ceylon, Indonesien, weit über den Atlantik und den Pazifik. Das Silber, mit dem die Soldaten des katholischen Europa entlohnt wurden, förderten indigene Mexikaner, Peruaner und Bolivianer unter entsetzlichen Bedingungen aus den Minen Südamerikas; viele Tausende von ihnen sollten deshalb zu den Opfern des Dreißigjährigen Krieges gezählt werden. Afrikanische Sklaven plagten sich auf den Plantagen niederländischer Zuckerrohrpflanzer, deren saftige Gewinne zur Finanzierung des Unabhängigkeitskampfes ihrer Republik gegen die Spanier beitrugen, neben Einnahmen aus dem Ostseegetreidehandel und der Befischung der Nordsee.
Oft dominiert in der englischsprachigen Forschung zum Dreißigjährigen Krieg mittlerweile das Interesse an diesem weiteren Kontext; die Geschehnisse innerhalb des Heiligen Römischen Reiches werden entsprechend als Teil eines größeren Machtkampfes zwischen Frankreich, Schweden und den englischen, niederländischen und deutschen Protestanten auf der einen Seite und den Kräften der spanisch-habsburgischen Hegemonie auf der anderen dargestellt. Nach dieser Lesart war der Krieg innerhalb des Reiches entweder von Anfang an nur das „Anhängsel“ eines größeren Konflikts – oder wurde es doch spätestens, sobald in den 1630er-Jahren Schweden und Frankreich in Deutschland eingriffen. Ein führender britischer Vertreter dieser internationalen Perspektive auf den Dreißigjährigen Krieg hat deshalb die national fokussierte Auffassung in Teilen der älteren Geschichtsforschung zurückgewiesen und insbesondere manchen deutschen Historikern vorgeworfen, sich provinziell zu gebärden, neigten sie doch dazu, „den Krieg fast ausschließlich unter lokalem und regionalem Blickwinkel darzustellen“. Dennoch bleibt auch die „internationale Schule“ tief von der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts geprägt: etwa, indem sie den Ausbruch des Konflikts als unvermeidlich darstellt und den weiteren Kriegsverlauf als stetige Eskalation von Gewalt und konfessionellem Ressentiment beschreibt.11