Читать книгу Der Dreißigjährige Krieg - Peter H. Wilson - Страница 12

Was dieses Buch will

Оглавление

Das Geschehen des Dreißigjährigen Krieges war außerordentlich komplex. Die angesprochenen Interpretationsprobleme ergeben sich aus dem Versuch, diese Komplexität zu reduzieren und das Kriegsgeschehen zu vereinfachen – meist durch die übermäßige Betonung einer einzelnen Facette des Konflikts zulasten aller anderen. Das vorliegende Buch soll, erstens, die unterschiedlichen Aspekte wieder miteinander verknüpfen, und zwar durch den ihnen gemeinsamen Bezug zur Reichsverfassung. Der Krieg innerhalb der Reichsgrenzen hing mit anderen Konflikten zusammen, aber er blieb doch immer klar umrissen. Selbst außerhalb des Heiligen Römischen Reiches waren viele Zeitgenossen der Ansicht, es sei ein und derselbe Krieg, der mit dem Böhmischen Aufstand begann und mit dem Westfälischen Frieden endete. In den frühen 1620er-Jahren begannen sie, von einem „fünfjährigen“ oder „sechsjährigen Krieg“ zu sprechen, und so zählten sie bis 1648 immer weiter.12

Gleichwohl betraf der Konflikt ganz Europa, und die europäische Geschichte wäre wohl sehr viel anders verlaufen, wenn es den Dreißigjährigen Krieg nicht gegeben oder dieser zu einem anderen Ergebnis geführt hätte. Unter den führenden Mächten Europas blieb allein Russland unbeteiligt. Sowohl Polen als auch das Osmanische Reich übten beträchtlichen Einfluss aus, ohne direkt einzugreifen. Den Niederländern gelang es gerade so, ihren eigenen Kampf gegen die Spanier von dem gesamteuropäischen Geschehen getrennt zu halten; zugleich bemühten sie sich aber, das Geschehen im römisch-deutschen Reich durch begrenzte, indirekte Hilfeleistungen in ihrem Sinne zu beeinflussen. Das Engagement der englisch-schottischen Krone auf dem Kontinent war substanzieller; ein formeller Kriegseintritt fand jedoch gleichfalls nicht statt. Frankreich und Spanien mischten sich zwar ein, trennten ihre Teilnahme am Dreißigjährigen Krieg allerdings deutlich von dem Konflikt, den sie zur selben Zeit gegeneinander ausfochten; dieser hatte seine eigenen Ursprünge und sollte nach 1648 noch elf weitere Jahre andauern. Dänemark und Schweden waren vollwertige Kriegsparteien, obgleich ihre Beteiligung kaum etwas mit den Ursprüngen des Konflikts zu tun hatte. Auch andere benachbarte Territorien, wie etwa Savoyen oder Lothringen, wurden in die Auseinandersetzung hineingezogen, ohne darüber ihre eigenen Ziele und lokalen Streitigkeiten aus dem Blick zu verlieren.

Die zweite Hauptthese der vorliegenden Studie ist diese: Der Dreißigjährige Krieg war nicht in erster Linie ein Religionskrieg.13 Religion und Konfession stellten wirkmächtige Identifikationsmerkmale dar, keine Frage; doch mussten sie sich dabei gegen politische, soziale, sprachliche, geschlechtliche und andere Unterscheidungen durchsetzen. Die meisten zeitgenössischen Beobachter sprachen von kaiserlichen, bayerischen, schwedischen oder böhmischen Truppen, nicht von katholischen oder protestantischen – überhaupt sind „katholisch“ und „protestantisch“ anachronistische Kennzeichnungen, die sich seit dem 19. Jahrhundert aus Gründen der Bequemlichkeit eingebürgert haben, um zu einer einfacheren Darstellung des Geschehens zu gelangen. Der Dreißigjährige Krieg war nur insofern ein Religionskrieg, als der Glaube in der Frühen Neuzeit das leitende Prinzip in allen Bereichen öffentlichen oder privaten Handelns lieferte. Um den tatsächlichen Zusammenhang zwischen dem militärischen Konflikt und den theologischen Streitigkeiten innerhalb des Christentums zu verstehen, müssen wir zwischen militanten und gemäßigten Gläubigen unterscheiden. Fromm waren sie jedoch alle, und wir sollten die Moderaten unter ihnen nicht gleich für die rationaleren, vernünftigeren oder gar säkulareren Menschen halten. Der Unterschied zwischen Moderaten und Militanten lag nicht im Ausmaß ihres religiösen Eifers, sondern darin, wie eng Glauben und Handeln für sie miteinander verbunden waren. Alle waren sie davon überzeugt, dass ihre eigene Spielart des christlichen Glaubens die einzig seligmachende sei, dass sie allein zur Richtschnur in allen Fragen der Gerechtigkeit, der Politik und des alltäglichen Lebens tauge. Die Moderaten allerdings waren pragmatisch gesinnt; für sie stellte die ersehnte Wiedervereinigung aller Christen in einer einzigen Kirche eher ein grundsätzliches Fernziel als ein konkretes Handlungsmotiv dar. Ganz anders die Militanten: Ihnen schien dieses Ziel bereits in Reichweite, und so waren sie nicht nur gewillt, zu seiner Erreichung Gewalt statt guter Worte einzusetzen, sondern verspürten dazu sogar einen göttlichen Auftrag. Die biblische Botschaft sprach zu ihnen mit der Stimme der Vorsehung, als Ankündigung einer bevorstehenden Endzeit, und sie setzten die Ereignisse ihrer Gegenwart in einen direkten Zusammenhang mit dem biblischen Text. Für sie war der Konflikt ein Heiliger Krieg – ein kosmischer Showdown zwischen Gut und Böse, in dem der Zweck fast jedes Mittel heiligte.

Wie wir noch sehen werden, blieben die Militanten in der Minderheit. Den Krieg erlebten sie meist als Beobachter oder als Opfer von Kampf und Vertreibung. Dennoch erwies sich, damals wie heute, Militanz genau dann als besonders gefährlich, wenn sie mit politischer Macht in eins fiel. Dann nämlich erzeugt sie bei den Herrschenden das wahnhafte Gefühl, sie seien Gottes Auserwählte, erfüllten Gottes Willen und dürften schließlich auch mit göttlichem Lohn rechnen. Wer so denkt, der glaubt an die absolute und alleinige Geltung der eigenen Normen, an die unbedingte Überlegenheit der eigenen Regierungsform und die alleinige Wahrheit der eigenen Religion. Wenn solche Fundamentalisten „die anderen“ als von Grund auf böse dämonisieren, ist das die psychologische Entsprechung zu einer militärischen Kriegserklärung, die jede Möglichkeit zu Dialog oder Kompromiss torpediert. Einmal radikalisiert meinen sie, ihre Gegner nicht mehr als Menschen behandeln zu müssen. Probleme, die sie vielleicht selbst mitverursacht haben, werden ausschließlich dem Feind in die Schuhe geschoben. Ein derart übersteigertes Selbstbewusstsein birgt freilich Gefahren für beide Seiten. Der Glaube an den göttlichen Beistand ermuntert Fundamentalisten, Risiken einzugehen. Wenn die Chancen auf Erfolg verschwindend gering erscheinen, sehen sie darin lediglich die Absicht der göttlichen Vorsehung, ihren Glauben auf die Probe zu stellen. An ihrer festen Überzeugung, dass der Sieg ihnen am Ende sicher sei, kann nichts rütteln. Eine solche Einstellung kann zu wilder Entschlossenheit oder verbissenem Widerstand führen, aber für einen langfristigen militärischen Erfolg taugt sie kaum. Fundamentalisten haben keine wirkliche Kenntnis ihrer Gegner, denn sie geben sich nicht die geringste Mühe, diese zu verstehen. Gewiss haben fundamentalistische Auffassungen einigen Schlüsselmomenten des Dreißigjährigen Krieges ihren Stempel aufgedrückt, etwa dem Prager Fenstersturz oder der Entscheidung des pfälzischen Kurfürsten, sich dem Böhmischen Aufstand anzuschließen. Der Einfluss militanter Kräfte mag bisweilen in einem Missverhältnis zu ihrer tatsächlichen Zahl gestanden haben; das heißt aber nicht, dass wir den ganzen Konflikt durch ihre Augen betrachten und interpretieren sollten.

Die dritte entscheidende These dieses Buches ist, dass der Dreißigjährige Krieg keineswegs unvermeidlich war. Der Einfluss ökologischer und ökonomischer Probleme auf das gesamteuropäische Kriegsgeschehen im 17. Jahrhundert ist bestenfalls marginal gewesen. Es war ja auch nicht so, dass tatsächlich der gesamte Kontinent von einer Welle der Gewalt überrollt worden wäre: Weite Teile des Heiligen Römischen Reiches blieben nach 1618 friedlich, obwohl sie bestimmte fundamentale Probleme mit den Kriegsgebieten gemein hatten; erst als der Konflikt 1631/32 eskalierte, brach die Gewalt sich hier ebenfalls Bahn. Auch aus dem Augsburger Religionsfrieden von 1555, der die Spannungen der Nachreformationszeit beilegen sollte, ergab sich nicht zwangsläufig gleich ein Krieg. Zwar folgten ihm einige wenige, über das gesamte Reich verstreute Gewaltausbrüche, aber vor 1618 eben doch kein allgemeiner Konflikt. Wir sprechen hier immerhin von der auf lange Zeit längsten Friedensperiode der neueren deutschen Geschichte – erst 2008, 63 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, sollte dieser Rekord gebrochen werden! Was das bedeutet, wird noch deutlicher, wenn wir dem relativen Frieden im Heiligen Römischen Reich des späteren 16. Jahrhunderts etwa die brutalen Bürgerkriege gegenüberstellen, die von den 1560er-Jahren an Frankreich und die Niederlande erschütterten.

Angesichts des großen Erfolges der Augsburger Regelung von 1555 erscheint der allgemeine Kriegsausbruch ab 1618 umso erklärungsbedürftiger. Der erste Teil dieses Buches soll eine solche Erklärung liefern; außerdem legt er die allgemeine Situation im damaligen Europa dar und stellt die Hauptproblematik sowie zahlreiche Hauptfiguren des Dreißigjährigen Krieges vor. Im zweiten Teil folgt dann eine weitgehend chronologische Betrachtung der Kriegsereignisse, wobei dem Geschehen ab 1635, das in der bisherigen Forschung zu Unrecht vernachlässigt worden ist, besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird – wer die Jahre nach 1635 außer Acht lässt, wird nie verstehen, warum ein Friedensschluss lange Zeit unerreichbar blieb. Die abschließenden Kapitel beleuchten die politischen Konsequenzen des Dreißigjährigen Krieges, seine immensen Kosten (an Material und Menschenleben) sowie die Frage, was der Krieg bedeutete – für jene, die ihn erlebten, aber auch für nachfolgende Generationen.

Der Dreißigjährige Krieg

Подняться наверх