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Religion und Reichsrecht

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Der Augsburger Frieden von 1555 ist als „Religionsfrieden“ in die Geschichte eingegangen, aber in Wahrheit befasste sich nur ein kleiner Teil der in Augsburg getroffenen Vereinbarungen mit konfessionellen Streitfragen – den weitaus größeren Teil des auf dem Reichstag geschlossenen Abkommens machte ein vielfältiges Reformpaket aus, das sich mit einer ganzen Reihe von Themen beschäftigte.30 Die Regelung des Religionsstreits wurde somit in den größeren Zusammenhang weiterer Verfassungsreformen gestellt, die entweder um Fragen der öffentlichen Ordnung und des Landfriedens kreisten oder etwa um die Reichssteuerquote, eine Neuordnung der Münz- und Währungspolitik oder die Funktionsweise des Reichskammergerichts. Paragraf 29 verpflichtete den Kaiser, die Religionsklauseln des Textes unter die Grundgesetze des Heiligen Römischen Reiches aufzunehmen. Als Ferdinand von Habsburg, der den Frieden in Vertretung seines Bruders Karls V. ausgehandelt hatte, 1558 selbst Kaiser wurde, bestätigte er diese Vereinbarung.

Anders als noch im Augsburger Interim von 1548 wurde die Befriedung des Reiches in dem neuen Frieden nicht an dogmatische Aussagen geknüpft. Keiner der sogenannten Religionsartikel definierte konkrete Glaubensinhalte. Stattdessen zielten sie darauf ab, die Anhänger der beiden zerstrittenen Konfessionen in einem gemeinsamen Rechtsrahmen zu vereinen. Die Schwierigkeiten bei der Umsetzung dieses Vorhabens sollten zwar nach 1618 eine Hauptursache für die Eskalation des Krieges darstellen; die Verantwortung für den Ausbruch des Konflikts kann man den Verfassern des Friedens von 1555 aber nicht geben. Diese hatten immerhin vor der übermächtigen Aufgabe gestanden, jene zerbrochene Einheit von Glaube und Gesetz wiederherzustellen, die zu Ausgang des Mittelalters noch gegolten hatte. Dass die beiden Elemente notwendig zusammengehörten, war für die meisten Zeitgenossen klar: Weil die Religion eine perfekte Richtschnur für alle Aspekte menschlichen Handelns darstellte und es auch nur eine Wahrheit geben konnte, konnte es auch nur ein Gesetz geben. Jetzt aber erhoben sowohl Katholiken als auch Lutheraner den Anspruch, im Besitz der Wahrheit zu sein. Selbst wenn das Landfriedensrecht die Reichsstände nicht zum Gewaltverzicht untereinander verpflichtet hätte, ließen die fruchtlosen Kämpfe der Jahre 1546–52 erkennen, dass eine Wiederherstellung der alten Einigkeit mit Waffengewalt vollkommen ausgeschlossen war.

Eine gänzlich säkulare pax civilis war für das Reich als Ganzes keine Option. Diese Lösung sollte 20 Jahre später von dem französischen Juristen Jean Bodin mit Blick auf sein eigenes, vom Bürgerkrieg zerrissenes Vaterland vorgeschlagen werden. Bei Bodin erscheint der Staat noch immer als ein im Grunde christlicher, der jedoch keiner konkreten Konfession zuneigt und seine Macht zum Schutz der religiösen Vielfalt und öffentlichen Ordnung einsetzt. Eine derart mächtige, quasi-säkulare Monarchie ließ sich jedoch weder mit den „teutschen Freiheiten“ noch mit dem Anspruch des Kaisers vereinbaren, Oberhaupt eines Heiligen Römischen Reiches zu sein.

Stattdessen bemühten sich die Friedensstifter von 1555 nach Kräften, alle religiösen Unterscheidungen zu verwischen, damit zumindest ein Hauch der alten Idee von einer umfassenden, einigen Christenheit bewahrt werden konnte. Die Lutheraner nannten sie in ihrem Text die „Augspurgischen Confessions-Verwanten“, ohne im Einzelnen darauf einzugehen, was das denn nun hieß. Durch die Verwendung von Begriffen wie „Frieden“, „Glauben“ und „Reformation“ wollten die Zeitgenossen bestimmte Wertvorstellungen vermitteln, die zwar von allen geteilt, von allen aber auch unterschiedlich verstanden wurden. Für die Lutheraner bedeutete „Reformation“ die Befugnis einer rechtmäßigen Obrigkeit zur Revision der Glaubenspraxis im Einklang mit der ursprünglichen Lehre der Glaubensgründer. Für Katholiken hingegen bestätigte der Begriff die zentrale Rolle ihrer eigenen Kirche in spirituellen und seelsorglichen Fragen.

Ähnlich doppelbödige Formulierungen ziehen sich auch durch den Teil des Abkommens, der sich mit im engeren Sinne konfessionellen Fragen befasst. Während in Frankreich, Spanien und den Niederlanden noch immer blutig darum gekämpft wurde, eine einzige Konfession durchzusetzen, erkannte das Heilige Römische Reich – auf der Ebene seiner Territorien – sowohl Katholiken als auch Lutheraner an. Im Gegensatz zu dem später entstandenen Eindruck bedeutete das jedoch nicht, dass die Landesherren völlig frei zwischen den beiden Bekenntnissen wählen konnten. Die bekannte Formel cuius regio, eius religio („Wes das Land, des der Glaube“) findet sich in dem Dokument jedenfalls nicht; sie entstand erst in der späteren Diskussion um die Friedensregelung in den Jahren nach 1586. Der Frieden von Augsburg war auch gar nicht dazu gedacht, einen ständigen Wandel der religiösen Landschaft zu ermöglichen, sondern sollte – ganz im Gegenteil – die Situation der Jahrhundertmitte verbindlich festschreiben. Zwar wurden einige seiner Paragrafen zusammengenommen als ein „Recht auf freie Wahl der Religion“ oder „Reformationsrecht“ (ius reformandi) verstanden, aber damit sollte eher die Pflicht der Landesherren betont werden, in ihren Territorien als säkulare Hüter der Religion aufzutreten, als dass ihnen damit die einseitige Vollmacht zu einem Religionswechsel nach Gutdünken verliehen worden wäre. Andere Paragrafen schränkten das Reformationsrecht stark ein, insbesondere Paragraf 19, der das Datum des Passauer Vertrags von 1552 als Stichtag festlegte. Herzog Moritz von Sachsen hatte sich von Ferdinand zusichern lassen, dass die Lutheraner allen vormals katholischen Besitz, den sie bis zu diesem Tag ihren neuen Landeskirchen einverleibt hatten, würden behalten dürfen, und dies bekundete der Augsburger Frieden nun auch ganz offiziell. Um die Katholiken zu beschwichtigen, ließ Ferdinand gegen lutherischen Protest im Gegenzug den Paragrafen 18 aufnehmen. Dieser bestimmte, dass die Kirchenfürsten der verbliebenen geistlichen Territorien, die nach 1555 zu der neuen Religion übertreten würden, zum Rücktritt von ihren Ämtern verpflichtet seien. Diese als reservatum ecclesiasticum oder „geistlicher Vorbehalt“ bezeichnete Klausel bewahrte den rein katholischen Charakter der Reichskirche und damit die gleichsam „eingebaute“ katholische Mehrheit in den Institutionen des Reiches. Auch nach 1555 blieb das Reich dezidiert „Heilig“ und „Römisch“. Der Reichsritterschaft blieb das ius reformandi verwehrt, da ihre Mitglieder keine vollberechtigten Reichsstände waren. Für die Reichsstädte wiederum wurde der gegenwärtige Stand ihrer konfessionellen Zugehörigkeit als künftig verbindlich festgeschrieben. Das galt auch für acht gemischtkonfessionelle Reichsstädte, die in Zukunft paritätisch, also von Katholiken und Lutheranern gemeinsam, verwaltet werden sollten.

Andere Paragrafen sollten Reibungen zwischen den beiden Konfessionen minimieren. So wurde etwa die Jurisdiktion katholischer Bischöfe über lutherische Gebiete aufgehoben, indem man die Anwendung der bestehenden Häresiegesetze in solchen Fällen untersagte und beide Parteien dazu verpflichtete, sich zur Schlichtung im Streitfall an das Reichskammergericht zu wenden. Durch die letztere Bestimmung wurde der Religionsfrieden in den säkularen Rahmen der Reichslandfriedensordnung eingebettet. Die Aufnahme eines Emigrationsrechts (ius emigrandi) stellte einen weiteren säkularen Eingriff dar, durch den das Reformationsrecht der Landesfürsten beschnitten wurde. Untertanen, die sich der Konfession ihres Landesherrn nicht anschließen wollten, stand es frei, dessen Territorium zu verlassen, ohne dabei mit Strafe oder Enteignung rechnen zu müssen. Diese neuartige Regelung deutete bereits den späteren Rechtsstandpunkt an, wonach Individualrechte den Vorrang erhalten sollten vor Kollektiv- und Gruppenrechten. Dahinter stand die Vorstellung einer allgemeinen Gewissensfreiheit, für die sich die protestantischen Unterhändler zu Augsburg eingesetzt hatten, um damit ihre Glaubensbrüder in katholischen Territorien zu schützen. Durch den Widerstand der katholischen Delegation blieb davon letztlich nur das Emigrationsrecht übrig. Ferdinand von Habsburg erließ jedoch eine Zusatzerklärung, die wie der Religionsfrieden selbst auf den 24. September 1555 datiert war und tags darauf, wie dieser, in den Reichsabschied aufgenommen wurde. Diese Declaratio Ferdinandea gewährte dem bestehenden lutherischen Adel und den lutherischen Bürgern der geistlichen Territorien zumindest eine eingeschränkte Gewissensfreiheit.

Der Friedensschluss von Augsburg war ohne Frage vieldeutig, ja sogar widersprüchlich. Es wäre jedoch verfehlt, mit Geoffrey Parker zu dem Schluss zu kommen, er habe lediglich „dem offenen Glaubenskrieg in Deutschland vorübergehend ein Ende gemacht“.31 Schließlich kam es in den 63 Jahren nach dem Augsburger Religionsfrieden zu keinem größeren Krieg mehr, und selbst dort, wo in Mitteleuropa nach 1583 offene Konflikte ausbrachen, blieben diese lokal begrenzt und – insgesamt gesehen – weniger brutal als die schier endlosen Gewaltexzesse in Frankreich oder den Niederlanden. Mit Lazarus von Schwendis Angst vor den Osmanen ist ein Faktor bereits angesprochen worden, der zur Wahrung des Friedens beitrug. Allerdings entlud die sogenannte Türkengefahr sich erst 1593, mit Ausbruch des Langen Türkenkrieges, und zu jener Zeit wuchs die konfessionelle Spannung eher, als dass sie nachließ. Der Hauptgrund für die Langlebigkeit des Augsburger Friedens lag letztlich wohl darin, dass dieser für eine ganze Reihe religiöser und politischer Probleme vergleichsweise zufriedenstellende Lösungen bereithielt. Seine Stärke wird auch dadurch deutlich, dass der Westfälische Frieden ihn nicht eigentlich ersetzte, sondern modifizierte und aktualisierte: Noch die innere Neuordnung des Reiches 1648 basierte im Grunde auf dem Augsburger Religionsfrieden.

Die drei „Dubia“ Der wirkliche Grund für die späteren Schwierigkeiten lag in der abweichenden Interpretation dreier zentraler Bestimmungen der Augsburger Regelung. Das erste und wichtigste dieser „Dubia“ oder Bedenken betraf das weitere Schicksal des reichsunmittelbaren Kirchenbesitzes. Als anerkannte Reichsstände hatten bis 1552 die meisten Erzbischöfe, Bischöfe und Reichsprälaten ihre Territorien davor bewahren können, in den Besitz der neuen lutherischen Landeskirchen überführt zu werden. Die Kurfürsten von Brandenburg und Sachsen waren zwar gerade dabei, ihren Fürstentümern jeweils drei Bistümer einzuverleiben, doch rührten diese Bemühungen von alten territorialen Begehrlichkeiten her, die noch aus der Zeit vor der Reformation stammten. Die unmittelbarere Bedrohung war von den Katholiken ausgegangen. Kaiser Karl V. selbst hatte Utrecht annektiert und diverse andere Bistümer, die an seine habsburgischen Territorien grenzten, unter sein „Protektorat“ gestellt. Und Frankreich hatte, wie bereits erwähnt, Metz, Toul und Verdun an sich gebracht. Alles in allem waren die Gebietsverluste für die Reichskirche jedoch zu verschmerzen gewesen, vor allem wenn man bedenkt, dass sie noch immer drei geistliche Kurfürstentümer, etwa 40 Fürsterzbistümer und Fürstbistümer sowie rund 80 Klöster ihr Eigen nannte. Nun wurde der katholische Charakter dieser Gebiete zwar durch den geistlichen Vorbehalt unter Schutz gestellt, die Declaratio Ferdinandea erlaubte es dem dort ansässigen Adel aber, gegebenenfalls seinen lutherischen Glauben zu praktizieren. Die protestantische Infiltration der Domkapitel setzte sich also weiter fort, zumal auch lutherische Fürsten und Adlige sich unter keinen Umständen die politischen und gesellschaftlichen Vorteile entgehen lassen wollten, die der Dienst in der Reichskirche mit sich brachte. Die Tatsache, dass Martin Luther persönlich spätestens in den 1540er-Jahren mit dem Gedanken an protestantische Bischöfe liebäugelte, gab diesbezüglichen Ambitionen die theologische Basis.32 Die Lutheraner argumentierten, der geistliche Vorbehalt sei kein Bestandteil des eigentlichen Friedensschlusses gewesen, da sie dagegen Einspruch erhoben hätten – die Wahl eines protestantischen Bischofs durch ein entsprechend geneigtes Domkapitel sei also prinzipiell nicht ausgeschlossen.

Der Kaiser wich der Frage aus, indem er Protestanten im Zweifelsfall als Administratoren eines Bistums anerkannte, nicht jedoch als Bischöfe. Die betreffenden Territorien blieben zwar Teil der Reichskirche, aber ihre neuen Herren übten ihre Herrschaftsrechte als weltliche Landesfürsten aus, nicht als Geistliche. Das verhinderte einerseits eine völlige Säkularisierung und ließ andererseits die Möglichkeit offen, dass bei der nächsten Bischofswahl wieder ein „sicherer“, katholischer Kandidat zum Zuge kommen würde. Auch die protestantischen Fürsten des Reiches waren mit dieser Regelung einverstanden, hatten sie doch kein Interesse daran, die betreffenden Gebiete geradeheraus zu annektieren: Es wären kostbare Stimmen in den Institutionen des Reiches verloren gegangen, wie es etwa tatsächlich geschah, als Brandenburg sich im Verlauf des 16. Jahrhunderts gleich drei Bistümer einverleibte. Freilich wurden derartige Fragen erst nach 1582 tatsächlich dringlich, denn nun begann die wachsende Zahl der protestantisch kontrollierten geistlichen Territorien, den katholischen Mehrheiten im Reichstag und in anderen Institutionen und Gremien gefährlich zu werden (siehe Kapitel 7).

Der zweite unklare Punkt betraf jenes mittelbare Kirchengut, das zwar im Herrschaftsbereich eines lutherischen Fürsten lag, jedoch bis 1552 nicht in die Landeskirche seines Territoriums eingegliedert worden war. Der rechtliche Status solcher Stiftungen war schon vor der Reformation viel diskutiert worden, denn weltliche Herrscher hatten immer wieder das Recht in Anspruch genommen, einzelne Klöster unter ihren „Schutz“ zu nehmen oder Rechte und Einkünfte mit ihnen zu teilen. Bisweilen war auch unklar, ob ein bestimmtes Kloster mittelbar oder reichsunmittelbar war – ob es also dem Landesherrn unterstellt war oder selbst als Reichsstand auftreten durfte. Die Reichsstandschaft nahmen etwa einige süddeutsche Äbte in Anspruch, als ihre Klöster von der Annexion durch Württemberg oder andere lutherische Territorien bedroht waren. Landesherren, die erst nach 1555 zum Luthertum konvertierten, standen vor noch größeren Schwierigkeiten, konnten sich aber, wollten sie das Kirchengut ihrer Territorien auch in Zukunft kontrollieren, immerhin auf die Bestimmungen des Augsburger Friedens berufen, denen zufolge die Jurisdiktion katholischer Bischöfe über lutherische Gebiete aufgehoben war.

Der dritte Streitpunkt war die Religionsfreiheit der Untertanen. Es gab wohlgemerkt mehr katholische Territorien mit lutherischen Minderheiten als umgekehrt. Wenig überraschend interpretierten nun die Katholiken den Wortlaut des Friedens so, dass dem Landesherrn ein exklusives Vorrecht zur Ausweisung „Irrgläubiger“ zukomme, während die Lutheraner ihn als Garantie für eine Wahlfreiheit ihrer Glaubensgenossen auffassten, ihre lutherische Religionsausübung entweder an Ort und Stelle fortzuführen oder aber – freiwillig – zu emigrieren. Die Klärung dieser Frage wurde immer drängender, nachdem in den 1570er-Jahren katholische Landesherren der zunehmenden Verbreitung des Luthertums in ihren Territorien dadurch einen Riegel vorzuschieben versuchten, dass sie die religiöse Konformität zum Maßstab der politischen Loyalität erhoben (siehe Kapitel 3).

Die Diskussion dieser drei Dubia war es, die ab den 1560er-Jahren die Reichspolitik ausfüllte, wobei Katholiken wie Lutheraner jedem neuen Reichstag umfangreiche „Gravamina“ vorlegten, juristisch argumentierende Beschwerdeschriften, in denen sie ihre jeweilige Interpretation des Augsburger Friedens verteidigten. Alle drei Dubia berührten materielle und personelle Interessen gleichermaßen, aber die komplexen Argumente, die vorgebracht wurden, verschleierten nur das grundlegende Problem: Der Friedensschluss hatte zwar den Lutheranern Rechtsgleichheit gegeben, den Katholiken jedoch eine politische Mehrheit. Dies war eine ernste Sache, denn das Rechtssystem des Heiligen Römischen Reiches ließ sich letztlich weder von dessen politischem System trennen noch war es in der Lage, die hohen Erwartungen von 1555 zu erfüllen und alle konfessionellen Streitigkeiten beizulegen. Die Unfähigkeit der höchsten Gerichte des Reiches, hierin zu einer Klärung zu gelangen, warf letzten Endes die verfassungsrechtliche Frage auf, wo denn nun die höchste Autorität in derartigen Streitfragen liege. Dass der Papst hinzugezogen würde, war völlig ausgeschlossen – selbst die Katholiken stellten seine juristische und politische Zuständigkeit infrage, sobald es um das Reich ging. Die Idee der „teutschen Freiheiten“ machte es problematisch, sich an den Kaiser zu wenden: Ihn betrachtete man eher als Schiedsrichter denn als Gesetzgeber. Die umstrittensten Bestimmungen des Friedens von 1555 – der geistliche Vorbehalt und die Declaratio Ferdinandea – wurden von ihren jeweiligen Gegnern als autoritäre kaiserliche Diktate angeprangert, die verbindliche Übereinkünfte ersetzten, die zwischen sämtlichen im Reichstag vertretenen Interessengruppen frei ausgehandelt worden wären. Das Vermögen des Kaisers, bei derartigen Meinungsverschiedenheiten für Ausgleich zu sorgen, hing maßgeblich von seinem Ansehen unter den Fürsten des Reiches ab. Sowohl Ferdinand I. als auch Maximilian II. setzten sich unermüdlich für Mäßigung und Kompromiss ein, aber der launenhafte Rudolf II. sah nach seiner Wahl zum Kaiser 1576 einfach zu, wie das zuvor Erreichte zunichtegemacht wurde.33

Recht früh schon waren in allen späteren Streitpunkten klar unterschiedene protestantische beziehungsweise katholische Positionen deutlich geworden, und schon bei Abschluss des Friedens dürfte allen Beteiligten bewusst gewesen sein, dass in wesentlichen Fragen keine wirkliche Einigung erreicht war, sondern weiterhin Unklarheit herrschte. Die verbreitete Ansicht, in den Jahren zwischen 1559 und 1618 habe im Heiligen Römischen Reich eine stetige Polarisierung der konfessionellen Standpunkte stattgefunden, hat folglich kaum eine Grundlage. Vielmehr bestanden auf beiden Seiten gemäßigte und militante Positionen nebeneinander; welches Lager zu einer gegebenen Zeit die Oberhand gewann, hing vom Zusammenspiel einzelner Persönlichkeiten und allgemeiner Rahmenbedingungen ab. Die zeitliche Abfolge dieser Umgewichtungen wird in einem späteren Kapitel aufgegriffen; auf den verbliebenen Seiten des gegenwärtigen Kapitels sollen noch die gegensätzlichen Sichtweisen der beiden konfessionellen Lager skizziert werden.

Der katholische Standpunkt Die katholische Position hinsichtlich der Dubia legte 1566 Papst Pius V. fest, der den Frieden von Augsburg als taktisches Zugeständnis interpretierte – als das kleinere Übel konfessioneller Toleranz, um dem größeren Übel eines Religions- und Bürgerkrieges zu entgehen (zumal an den östlichen Grenzen der Christenheit bereits die Osmanen aufmarschierten). Diese Sicht der Dinge begegnet in Äußerungen über den Augsburger Religionsfrieden von katholischer Seite immer wieder, bis hin zu den Worten Papst Pius’ XII. anlässlich der Vierhundertjahrfeier von 1955. Allerdings ließ sich dieselbe Position sowohl in gemäßigter als auch in militanter Absicht vertreten. Die Vertreter der gemäßigten Variante sahen in dem Frieden von Augsburg ein festgeschriebenes Zugeständnis an die Lutheraner als die Angehörigen einer widerständigen Glaubensminderheit, die gleichwohl durch einen gemeinsamen Rechtsrahmen mit ihren katholischen Nachbarn verbunden sei. Zum Wohl der Allgemeinheit müssten sie toleriert werden, seien den „Rechtgläubigen“ jedoch nicht völlig gleichgestellt und hätten daher auch keinen Anspruch auf weitergehende politische Rechte. Viele, auch gemäßigte Katholiken gingen weiter und behaupteten, 1555 habe schlicht dem Luthertum eine Schranke gesetzt; wer jedoch von den Abtrünnigen seinen Fehler einsehe, dürfe durchaus in den Schoß des wahren Glaubens zurückkehren. Eine Veränderung der Ausgangssituation sei also möglich und erlaubt – allerdings nur in eine Richtung. Die militanten Katholiken beriefen sich auf die jesuitische Lesart der Lehre vom kleineren Übel und argumentierten, dass der ursprüngliche, 1521 gegen Luther und seine Anhänger ausgesprochene Kirchenbann durch die Regelung von 1555 lediglich ausgesetzt worden sei. Eine gewisse Rechtfertigung erwuchs dieser Ansicht aus Paragraf 25 des Augsburger Vertragstextes, in dem festgehalten war, dass der Friedensschluss nur so lange Bestand haben solle, bis die Theologen ihre Differenzen beigelegt hätten. Aus katholischer Sicht waren jedoch die strittigen Fragen schon durch die tridentinischen Dekrete von 1564 abschließend geklärt worden, woraus sich die Frage ergab, ob der Frieden von Augsburg danach überhaupt noch gültig sei. Sowohl gemäßigte als auch militante Katholiken konnten sich also auf das Reichsrecht berufen, wenn sie behaupteten, sie folgten lediglich dem „klaren Buchstaben“ des Augsburger Religionsfriedens.

Protestantische Widerstandslehren Auch auf protestantischer Seite berief man sich auf den Augsburger Frieden und klammerte sich an die Hoffnung, die Einheit der Christenheit werde wiederhergestellt und das Schisma werde bald vorübergehen. Allerdings betrachteten die Protestanten den Reichstag von 1555 nicht als das Ende, sondern vielmehr als den Auftakt ihres Vorhabens, alle Christen zur Annahme von Luthers Reform zu bewegen. Die Calvinisten waren zudem der Ansicht, auch sie sollten in die Regelung aufgenommen werden; schließlich sei ihre Konfession ebenfalls aus dem Augsburgischen Bekenntnis von 1530 hervorgegangen. Sobald die katholische Seite sich jedoch weigerte, bestimmte „Verletzungen“ des Friedens von 1555 hinzunehmen, gingen die Meinungen im protestantischen Lager auseinander: Am militanten Ende des Spektrums wurden Verfassungsänderungen und sogar offener Widerstand in Erwägung gezogen, was unter gemäßigten Protestanten noch lange nicht der Fall war.

Die Idee eines grundsätzlichen Widerstandsrechts war dem katholischen Denken durchaus nicht fremd, gewann für die Protestanten aber eine größere Bedeutung, weil sie im Reich als Ganzem ebenso eine politische Minderheit bildeten wie in den habsburgischen Territorien, wo lutherische Adlige und Städte sich einer herrschenden Dynastie gegenübersahen, die entschieden hinter der römischen Kirche stand. Wie schon in der Frage der konfessionellen Spannungen, so sollte man sich auch hier davor hüten, die Diskussion um das Widerstandsrecht als einen stetigen Radikalisierungsprozess zu interpretieren oder etwa davon auszugehen, dass Calvinisten von vornherein rebellischer gewesen seien als Lutheraner. Oft wird die politische Ideengeschichte teleologisch verzerrt, indem man den Urhebern späterhin revolutionärer Ideen schon von Anfang an einen größeren Einfluss zuschreibt als ihren traditionelleren Zeitgenossen.34 Französische und niederländische Widerstandslehren wurden durch die blutigen Bürgerkriege, die diese Länder im späten 16. Jahrhundert verheerten, zumindest teilweise diskreditiert. Im deutschen Raum konzentrierte man sich deshalb in der Diskussion um das Widerstandsrecht vor allem auf die eigene Erfahrung in der ersten Jahrhunderthälfte sowie auf Theorien aus Ungarn und Polen, wo der Widerstand des Adels gegen eine als Tyrannei empfundene Oberherrschaft eine lange Tradition hatte.

Jede Widerstandslehre musste sich früher oder später mit drei Fragen auseinandersetzen, die der Einsatz von Gewalt auf internationaler Ebene aufwarf. Ein Krieg oder Aufstand durfte dann als gerechtfertigt gelten, wenn diejenigen, die mit dem Blutvergießen begonnen hatten, ihr Handeln mit den christlichen Geboten in Einklang bringen und so der ewigen Verdammnis entgehen konnten. Ein gerechter Krieg konnte nur von einer anerkannten Autorität erklärt werden – mit Blick auf einen Aufstand war aber schon nicht mehr klar, wer dies sein sollte. Ebenso unklar war, was einen hinreichenden Grund zum Widerstand bildete – und durfte man nur zur Verteidigung religiöser Überzeugungen Widerstand leisten oder auch aus weltlichen Interessen? Zu guter Letzt war unklar, ob ein Widerstandsrecht nur so lange bestand, bis das Unrecht abgestellt war, oder ob man dessen Verursacher stürzen durfte oder sogar sollte.

Die Theologen aller Richtungen sprachen sich prinzipiell für den Gehorsam aus. Die weltliche Obrigkeit sei von Gott eingesetzt; selbst die Herrschaft eines Tyrannen müsse als Glaubensprobe erduldet werden. Calvin ermahnte sogar die Christen im Osmanischen Reich, dem Sultan unter allen Umständen zu gehorchen. Diese pauschale Bejahung obrigkeitlicher Autorität begann allerdings zu bröckeln, sobald das Schicksal der eigenen Konfession auf dem Spiel zu stehen schien. Schon 1524 verwiesen manche Protestanten auf das antike Modell von Kontrollinstanzen, speziell auf das Beispiel der spartanischen Ephoren oder der römischen Tribunen, welche die Rechte der Bürger gegen einen potenziell tyrannischen Souverän verteidigt hätten. Als man ihn bat, seine Unterstützung für den Schmalkaldischen Bund kundzutun, ließ Luther sich widerstrebend zu einer Parallelisierung von Ephoren und Kurfürsten bewegen. Das kam den Gründern des Fürstenbundes insbesondere deshalb gelegen, weil ihnen durchaus bewusst war, wie gefährlich nahe die (immerhin biblische) Lehre, man müsse „Gott mehr gehorchen als den Menschen“, den Argumenten der aufständischen Bauern kam, deren Rebellion sie in den Jahren 1524–26 selbst blutig niedergeschlagen hatten. Da die Fürstenherrschaft erblich war, akzeptierte Luther sie als gottgewollt – der Kaiser hingegen wurde, so seine Sicht, „nur“ von den Fürsten gewählt. Die Menschen sollten ihren Fürsten gehorchen, die Fürsten jedoch durften sich, so die Überlegung, dem Kaiser widersetzen, sobald dieser den wahren Glauben missachtete. Solche Argumente passten ausgezeichnet zu der Rede von den „teutschen Freiheiten“, der zufolge Kurfürsten und Fürsten gemeinsam für das Wohlergehen des Reiches verantwortlich waren. Der Widerstand gegen einen bestimmten Kaiser konnte so mit einem Gefühl ungebrochener Loyalität zur Reichsverfassung als solcher in Einklang gebracht werden.

Die meisten Lutheraner distanzierten sich nach den Erlebnissen der Jahre 1546–52 rasch von derartigen Ansichten. Außerdem ließ die offizielle Anerkennung ihrer Religion im Augsburger Frieden von 1555 ein allgemeines Widerstandsrecht weniger notwendig erscheinen als zuvor. Auch die Ausbreitung des Calvinismus schwächte die lutherische Opposition gegen den Kaiser ab, denn der neue Glauben gewann seine Konvertiten fast ausschließlich auf Kosten der Lutheraner. Deren Loyalität zum Reich wurde zudem durch die Weigerung des Kaisers gestärkt, an der Seite Spaniens und der anderen katholischen Konfliktparteien in die Bürgerkriege Frankreichs und der Niederlande einzugreifen. Die Lutheraner lehnten die calvinistische Auffassung ab, die Massaker der Bartholomäusnacht hätten einen Angriff auf alle Protestanten bedeutet. Die französischen Hugenotten, so das Gegenargument, müssten sich ihr Unglück selbst zuschreiben – immerhin seien sie es gewesen, die gegen ihren König zu den Waffen gegriffen hätten. Als religiöse Minderheit in der Minderheit tendierten die Calvinisten schon eher dazu, zur Verteidigung ihrer Interessen auch Mittel in Erwägung zu ziehen, die der Reichsverfassung zuwiderliefen. Die wachsende Militanz im katholischen Lager sowie Zweifel an den Führungsqualitäten Rudolfs II. brachten manche Lutheraner dazu, sich ihnen anzuschließen. Eine wirkliche Radikalisierung erfolgte dann aber nur, weil die Habsburger ihre protestantischen Untertanen derart bedrängten, dass einige von ihnen zu der Ansicht gelangten, das Widerstandsrecht gelte auch für den Adel und sogar die Bürger, sofern diese unter Verfolgung litten.

Der Dreißigjährige Krieg

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