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b) Reichstag

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Der Reichstag war das erste gesamtdeutsche Parlament nach der Paulskirchenversammlung. Die Wahlen hatten allgemein, direkt und geheim zu erfolgen (Art. 20 Abs. 1 RV). Vorbild für das Wahlgesetz für den Reichstag des Norddeutschen Bundes (sog. Bundeswahlgesetz) vom 31. Mai 1869[29], das um das Reglement zur Ausführung des Wahlgesetzes vom 28. Mai 1870[30] ergänzt wurde und bis 1918 galt, war das Frankfurter Reichswahlgesetz von 1849. Hinsichtlich der Allgemeinheit der Wahl bestand – im Vergleich zu heute – eine gewichtige Einschränkung: Das Wahlrecht stand nur Männern ab dem vollendeten („zurückgelegten“) 25. Lebensjahr zu (§§ 1, 4 des Bundeswahlgesetzes). Die Gleichheit der Wahl wurde in der Verfassung und im Wahlgesetz nicht erwähnt. Sie bestand nur hinsichtlich des Zählwerts, keineswegs aber hinsichtlich des Erfolgswerts: In jedem Wahlkreis errang der Bewerber mit den meisten Stimmen das Mandat (Ein-Mann-Wahlkreise).

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Wegen des Zuschnitts und der ungleichen Bevölkerungszahl in den Wahlkreisen benötigten die Parteien äußerst unterschiedliche durchschnittliche Stimmenmengen pro Reichstagsmandat. So genügten im Jahr 1871 den Konservativen durchschnittlich 9.600 und den Nationalliberalen 9.300 Stimmen; die SPD benötigte im Schnitt hingegen 62.000 Stimmen. Im Jahr 1907 benötigten die Konservativen pro Mandat 17.700, das Zentrum 20.800 und die SPD 75.800 Stimmen.[31] Eine Wahlrechtsreform vom 24.8.1918[32] beseitigte gröbere Ungleichheiten. Die Mitgliederzahl des Reichstages wurde von 397 auf 441 angehoben. Die neuen Sitze wurden bis dahin verhältnismäßig zu schwach vertretenen Orten mit hoher Bevölkerungsdichte und damit vor allem den größten Städten und einigen Industriebezirken, zugeteilt. Die größten Städte, z.B. Berlin, Frankfurt a.M., München und Hamburg, bildeten jeweils einen Wahlkreis (§ 2 des Gesetzes). In weiteren großen Städten, z.B. Köln und Düsseldorf, wurden Wahlkreise zusammengelegt (§ 3 des Gesetzes). Die Abgeordneten dieser Wahlkreise waren nach dem Verhältniswahlrecht (und nicht mehr nach dem Mehrheitswahlrecht) zu wählen (§§ 4-6 des Gesetzes). Bedeutung konnte diese Reform nicht mehr gewinnen.

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Im Gegensatz zum Reichstagswahlrecht waren die Wahlen zum preußischen Abgeordnetenhaus, der Zweiten Kammer des preußischen Parlaments, nicht unmittelbar und nicht geheim. Die Abgeordneten wurden durch Wahlmänner gewählt. Die Wahl der Wahlmänner durch das Wahlvolk und die Wahl der Abgeordneten durch die Wahlmänner erfolgten öffentlich und mündlich. Eine eklatante Ungleichheit ergab sich aus der Abstufung des Stimmengewichts nach der Höhe der gezahlten direkten Steuern (Dreiklassenwahlrecht). Das anachronistische Wahlrecht, das auf einer Verordnung vom 30. Mai 1849 beruhte, blieb bis zur Revolution im November 1918 in Kraft.

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Der Reichstag besaß folgende Kompetenzen: Er wirkte an der Gesetzgebung mit (Art. 5 RV) und hatte ein Gesetzesinitiativrecht (Art. 23 RV). In der Praxis wurde die Initiative allerdings in der Regel der Reichsleitung (der Bürokratie, den „Fachleuten“ – im Gegensatz zum Abgeordneten als „Parteipolitiker“) überlassen. Denn Regieren galt personell wie sachlich als gesteigerte Form des überparteilichen Verwaltens.[33] Der Reichstag verabschiedete den Reichshaushalt in Form eines Gesetzes (Art. 69 RV). Er genehmigte auswärtige Verträge, welche Gegenstände der Reichsgesetzgebung betrafen (Art. 11 Abs. 3 RV). Das Parlament hatte keinen Einfluss auf die personelle Zusammensetzung und politische Gesamtrichtung der Reichsleitung. Die parlamentsrechtlichen Artikel der Verfassung des Norddeutschen Bundes und der Reichsverfassung waren, z.T. wörtlich, der Preußischen Verfassung von 1850 nachgebildet.[34]

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Die Einberufung, Vertagung und „Schließung“ des Parlaments stand allein dem Kaiser zu (Art. 12 RV). Der Reichstag durfte sich nicht aus eigenem Antrieb versammeln. Der Kaiser durfte den Reichstag jederzeit auflösen, sofern der ihm in aller Regel gewogene Bundesrat zustimmte. Der Reichstag nahm die Mandats- und Wahlprüfung autonom vor (Art. 27 S. 1 RV, §§ 3 ff. GO-RT). Seine Mitglieder hatten ein freies Mandat inne (Art. 29). Sie genossen Indemnität (Art. 30) und Immunität (Art. 31 RV). Diäten, d.h. ein Abgeordnetengehalt, durften Reichstagsabgeordnete (anders als die Mitglieder mitgliedstaatlicher Parlamente) zunächst nicht erhalten (Art. 32 RV). Erst 1906 wurde das Diätenverbot durch eine Verfassungsänderung aufgehoben. Damit sollte das Problem gelöst werden, dass wegen des Diätenverbots viele Abgeordnete an den Sitzungen nicht teilnahmen und der Reichstag dauernd beschlussunfähig war.[35] Der Reichstag bestimmte allein über den Geschäftsgang und die Disziplin in seinen Sitzungen (Art. 27 S. 2 RV, Geschäftsordnungsautonomie). Als Geschäftsordnung (GO-RT) übernahm er am 21. März 1871 die Geschäftsordnung des Reichstages des Norddeutschen Bundes vom 12. Juni 1868. Sie baute auf der Geschäftsordnung des Preußischen Abgeordnetenhauses vom 6. Juni 1862 auf. Der Reichstag besaß eine Parlamentsverwaltung, die in den Anfangsjahren beim Kanzleramt und ab 1878 beim Reichsamt des Innern angesiedelt war. Die Parlamentsmitarbeiter waren also Ministerialbeamte. Gleichwohl legte § 14 GO-RT (wie auch § 12 GO-NRT) fest, dass der Reichstagspräsident über die Annahme und Entlassung des für den Reichstag erforderlichen Verwaltungs- und Dienstpersonals sowie über die Ausgaben zur Deckung der Bedürfnisse des Reichstags innerhalb des Haushaltsvoranschlags bestimmte. Hierin lag ein wichtiger Schritt in Richtung einer vollständigen Parlamentsautonomie[36] (s. Rn. 89, Rn. 312 ff.).

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Das politische Gewicht des Reichstages im Verhältnis zur Reichsleitung war zunächst eher gering. Zwar änderte der Reichstag mehrere Gesetzentwürfe ab. Stärkere Einflüsse des Parlaments bzw. der Parteien auf die Regierungsarbeit waren aber erst seit 1890, wenngleich auch nicht ununterbrochen, spürbar.[37] So stützte sich Reichskanzler Bernhard von Bülow zeitweise auf bestimmte Fraktionen („Bülow-Block“). Er trat 1909 zurück, als seine parlamentarischen Unterstützer ihn verließen. Sein Nachfolger Theobald von Bethmann Hollweg suchte sich wechselnde Reichstagsmehrheiten. Er musste ab der Reichstagswahl 1912 mit der deutlich erstarkten SPD rechnen. Die Sozialdemokraten besaßen 110, das katholische Zentrum 91 und die freisinnige Volkspartei 42 der insges. 397 Mandate. Der Reichstag verstärkte 1912 seine Kontrollbemühungen gegenüber der Reichsleitung durch die Einführung erweiterter Fragerechte und eines (rechtlich folgenlosen) Misstrauensvotums. Zu Beginn des Krieges unterstützte der Reichstag mehrheitlich noch den Kurs der Reichsleitung, v.a. bei der Bewilligung der Kriegskredite („Burgfrieden“). In der zweiten Hälfte des Ersten Weltkriegs, insb. seit Juli 1917, verstärkte sich der Einfluss des Parlaments erneut. Die Fraktionen der SPD, des katholischen Zentrums und der liberalen Fortschrittlichen Volkspartei (FVP), die im Reichstag über die Mehrheit der Sitze verfügten, bildeten den Interfraktionellen Ausschuss als informelles Abspracheforum. Sie nahmen Einfluss auf die Regierungsbildung im Oktober 1917 (Reichskanzler Georg von Hertling) und im Oktober 1918 (Reichskanzler Prinz Max von Baden). Einige Staatssekretäre des letzten Jahres des Kaiserreichs entstammten den Reichstagsfraktionen. Sie mussten aber wegen Art. 21 Abs. 2 RV mit dem Amtsantritt ihr Mandat aufgeben. Friedrich von Payer (FVP) wurde im November 1917 Vizekanzler; Max von Baden nahm Philipp Scheidemann und Gustav Bauer (beide SPD) im Oktober 1918 als Staatssekretäre ohne Geschäftsbereich in sein Kabinett auf.

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