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2. Bundesrepublik Deutschland

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Nach dem Ende des NS-Regimes und des Zweiten Weltkrieges begann das parlamentarische Leben unter Aufsicht der Westalliierten zunächst wieder in den Ländern. 1948 beauftragten die drei Westalliierten die elf Ministerpräsidenten aus den drei westlichen Besatzungszonen, eine Verfassung für die Westzonen zu entwerfen. Die Landesparlamente wählten die Mitglieder des Parlamentarischen Rates. Dieser erarbeitete den Entwurf des Grundgesetzes. Das Bonner Grundgesetz wurde von den Landtagen mehrheitlich angenommen, von Konrad Adenauer am 12. Mai verkündet und trat am 23. Mai 1949 in Kraft.

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Das Grundgesetz stellt den Bundestag in das Zentrum des parlamentarischen Regierungssystems. Der Bundestag wählt den Bundeskanzler (Art. 63, 67 GG). Er darf sich nicht selbst auflösen. Allein der Bundespräsident kann den Bundestag auflösen – und dies nur in den in Art. 63 Abs. 4 S. 3 und Art. 68 Abs. 1 GG genannten beiden Fällen. Dazu ist es bislang dreimal gekommen (1972, 1982 und 2005).

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Die Kabinettsmitglieder sind üblicherweise auch Parlamentsmitglieder (wenn nicht von Anfang an, dann sobald wie möglich). „Neutrale Fachminister“ spielen, anders als in der Weimarer Zeit oder in anderen europäischen Staaten, keine Rolle. Das ist eine logische Folge des parlamentarischen Regierungssystems. Die Bundeskanzler spielen eine starke Rolle (Kanzlerdemokratie). Die Bundesregierungen waren bislang sehr stabil, insb. wenn man sie mit ihren Weimarer Vorgängern oder den Regierungen mancher europäischer Staaten vergleicht. Ihre durchschnittliche Amtszeit wurde in der Weimarer Republik nicht einmal ansatzweise erreicht. Der Bundestag gehört im internationalen Vergleich zu den starken Parlamenten.[73] Er ist das „wahrscheinlich zweitstärkste Parlament der Welt“[74] nach dem US-Kongress. Der Bundestag hat entscheidenden Anteil an der positiven Entwicklung, welche die Bundesrepublik seit 1949 genommen hat.[75] Bundesrat und Bundesverfassungsgericht[76] bilden Gegengewichte zum Bundestag. Die Bundesregierung ist nicht Gegenspieler, sondern Produkt des Parlaments.

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Nicht nur die Verfassung und die gute wirtschaftliche Lage, sondern auch die Struktur des Parteiensystems war für die politische Entwicklung und Stabilität der Bundesrepublik zentral. Dazu seien einige Eckpunkte der Entwicklung der politischen Parteien unter dem Grundgesetz in Erinnerung gerufen.[77] Das Wahlrechtssystem wie auch das sich ausbildende parlamentarische Regierungssystem haben spätestens ab der dritten Bundestagswahl 1957 die Anzahl der Parteien zunächst deutlich verringert. Prägend für die Bundesrepublik war bei Rückgang der weltanschaulichen und ideologischen Ausrichtung die Ausbildung des Typus der schichten-, konfessions- und milieuübergreifenden, möglichst alle Politikfelder abdeckenden Volkspartei.[78] Die Unionsparteien CDU und CSU stellen – teilweise anknüpfend an die schichtenübergreifende, freilich konfessionell gebundene Zentrumspartei der Weimarer Republik – die Prototypen dar.[79] Die SPD folgte nach dem Godesberger Programm 1959.[80] Das sich in den 1950er Jahren ausbildende Dreiparteiensystem (CDU/CSU, SPD, FDP) erweiterte sich seit den 1980er Jahren zum Vierparteiensystem mit dem Aufkommen der „Grünen“, um sich nach der Wiedervereinigung weiter auszudifferenzieren.[81] Die Volksparteien, die durch innerparteilichen Interessenausgleich die parlamentarische Kompromissfindung erleichtern und über die föderalen und gewaltenteiligen Brüche hinweg einheitlich Personal zur Verfügung stellen, haben die beispiellose Stabilität der Bundesrepublik in den ersten 60 Jahren ihres Bestehens ermöglicht. In der Gegenwart sind hier jedoch durch die Schwäche sozialmoralischer Milieus und ihre Ersetzung durch stärker individualistisch-fragmentierte Öffentlichkeiten Auflösungserscheinungen festzustellen.[82] Traurige Konstante der öffentlichen Wahrnehmung des Wirkens der politischen Parteien in Deutschland ist eine tief verwurzelte, durch Wahrheits- und Einheitssehnsüchte genährte Parteienkritik als Teil antiparlamentarischer Grundstimmungen über die Epochen der Parteiengeschichte und der rechtlichen Institutionalisierung der Parteien hinweg.[83] Interdisziplinäre Aufgabe muss es demgegenüber sein, Parteien nicht als pathologische Erscheinungen, sondern als für die pluralistische Auseinandersetzung notwendige Einrichtungen, die aus erkenntnistheoretischer, partizipatorischer und integrativer Sicht unverzichtbar sind, erneut bewusst zu machen.[84]

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Parlamentsrechtlich besteht eine nicht zu übersehende Kontinuität, die vom Preußischen Abgeordnetenhaus, dem Reichstag und einigen Landesparlamenten der Kaiserzeit und der Weimarer Republik bis zum Bundestag und den Landesparlamenten der Bundesrepublik reicht[85] (s. Rn. 36, 47, 59). Das Parlamentsrecht ist das Paradigma für normative Kontinuität:[86] Die Volksvertretungen der Nachkriegszeit knüpften wie ihre Vorgänger in der Zwischenkriegszeit an den jeweils „letzten Stand“ des Geschäftsordnungsrechts an. Bspw. übernahm der 1. Bundestag vorläufig die Geschäftsordnung des Reichstages vom 12. Dezember 1922, die im Wesentlichen auf der Geschäftsordnung des kaiserzeitlichen Reichstages basierte, die wiederum in Vielem auf der Geschäftsordnung des Preußischen Abgeordnetenhauses aufbaute. Während das Anknüpfen des Bundestages an das Geschäftsordnungsrecht des Reichstags der Weimarer Republik plausibel sein mag, war der Rückbezug Weimars auf das Kaiserreich angesichts der anders gearteten parlamentarischen Struktur unreflektiert und problembehaftet.

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Die Kontinuität gilt zum einen für die Regelungsform des autonomen Parlamentsrechts: Obwohl deren maßgebliche Triebfeder aus dem Konstitutionalismus (die Umgehung des Mitwirkung des Monarchen bei der förmlichen Gesetzgebung) weggefallen ist, wird die Geschäftsordnung bis heute als Rechtssatz eigener Art oder – wie die h.M. meint – „autonome Satzung“ erlassen. Die Kontinuität ist zum anderen bei den Regelungsinhalten zu beobachten: Ein Kanon an parlamentarischen Institutionen und Rechtsinstituten steht im Kern seit der Paulskirchenversammlung, spätestens aber seit der Geschäftsordnung des Preußischen Abgeordnetenhauses fest. Er wird stetig ergänzt, aber kaum mehr substanziell gekürzt.

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Vieles im Bundestag gemahnt an den Reichstag: die Anordnung der Regierungs- und der Bundesratsbank, die Sitzordnung im Plenum, die Beachtung des Fraktionsproporzes (unter anderem bei den Redezeiten), das jederzeitige Zutritts- und Rederecht der Mitglieder und Beauftragten von Bundesregierung und Bundesrat (Art. 43 Abs. 2 GG), der vergleichsweise sachorientierte und wenig lebendige Debattenstil und das Selbstverständnis als „Arbeitsparlament“ (mit hoher Bedeutung der Ausschüsse und interfraktionellen Absprachen) sowie die betonte Eigenständigkeit des Bundestages im Verhältnis zur Bundesregierung (z.B. beim Hinweis auf das „Struckʼsche Gesetz“, wonach das beschlossene Gesetz nahezu immer vom Gesetzentwurf abweicht).

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Allerdings wurden in der Bundesrepublik sehr viele Neuerungen eingeführt. Bereits am 6. Dezember 1951 (mit Wirkung ab dem 1. Januar 1952) erließ der Bundestag eine neue Geschäftsordnung (GO-BT). Sie enthielt ca. 30 Änderungen im Vergleich zur früheren Geschäftsordnung des Reichstages und sah z.B. öffentliche Anhörungen vor.[87] Die GO-BT ist seitdem immer wieder geändert und ergänzt worden. Der Bundestag führte die Fragestunde (1960), eine Geheimschutzordnung (1964), die Aktuelle Stunde (1965), die Möglichkeit zur Einsetzung einer Enquêtekommission (1969) und das Format der Befragung der Bundesregierung im Plenum (1988) ein. Er lässt seit 1969 strafrechtliche Ermittlungsverfahren, jeweils bis zum Ende einer Wahlperiode, pauschal zu. Auch bei den Leitungsorganen gab es Änderungen. Der Vorstand wurde mit dem Ältestenrat „zu einem neuen kräftigen Lenkungsgremium zusammengefasst“[88] – mit der Bezeichnung „Ältestenrat“. Der Bundestag führte im Jahr 1972 erstmals Verhaltensregeln ein, die seitdem mehrfach verschärft wurden, zuletzt grundlegend im Jahr 2005. Seitdem sind die Einkünfte aus Tätigkeiten neben dem Mandat dem Bundestagspräsidenten anzuzeigen und von diesem in (mittlerweile zehn) Stufen zu veröffentlichen. Eine größere Geschäftsordnungsreform (unter anderem mit einer Änderung der Paragraphenfolge) datiert vom 25. Juni 1980. Diese Version der GO-BT gilt – mit weiteren Änderungen und Ergänzungen – noch heute.

§ 2 Geschichte der Parlamente und des Parlamentsrechts › IV. Scheinparlamente

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