Читать книгу IMMODESTIA - Philipp Spiering - Страница 20
Sommer
ОглавлениеMila Sommer dachte über unendliche Momente nach.
Unendliche Momente; das waren in ihrer Vorstellung äußerst seltene Augenblicke, in denen so viel positive oder aber negative Energie freigesetzt wurde, dass man selbst den erlebten Moment zeit seines Lebens nicht mehr vergisst. Man erinnert sich an jedes Detail dieses Augenblicks - an das Blickfeld, den Geruch, das Gefühl. Diese Vorstellung hatte Mila vor einiger Zeit einem fiktiven Artikel entnommen und sie mochte sie sehr.
Sie ließ ein Glas fallen. Das Klirren riss sie aus ihren Gedanken. Ihr Chef stand schon hinter ihr, bevor sie überhaupt richtig realisiert hatte, was geschehen war.
„Das ist das dritte Glas heute! Was ist mit dir los, Mila?“, fragte er und wurde dabei wohl etwas lauter, als er beabsichtigt hatte.
„Sorry“, antwortete Mila und versuchte, ihm nicht in die Augen zu schauen.
Das bemerkte er.
„Guck mich mal an“, sagte er deutlich leiser, aber auf irgendeine Art sehr viel bedrohlicher.
Fuck, dachte sie. Und schaute ihm in die Augen. Sein Unterkiefer klappte ungläubig nach unten. Erst war es Überraschung, dann Enttäuschung und dann Wut, die aus seinen Gesichtszügen sprach, als er erkannte, dass sie high war. Ihre Pupillen waren so groß und ihre Augen so glasig, dass jeder es bemerkt hätte.
„Sorry“, sagte Mila noch einmal. Dieses Mal aber nicht für das Glas.
Eine Weile herrschte Stille.
„Mach, dass du wegkommst“, zischte ihr Chef noch ein wenig leiser, damit der eine betrunkene Gast, der in der Kneipe war, es nicht hören konnte.
„Ich brauche den Job. Du weißt das. Es kommt nicht wieder vor.“
Ihr Chef war ein weichherziger Mann, das wusste sie.
„Ich finde das scheiße Mila. Echt scheiße“, sagte Frank Meis schließlich, „Schlaf dich aus und sei morgen pünktlich hier.“
Als Mila die Kneipe verließ, war sie schon fast wieder nüchtern. Als sie sich umsah, fiel ihr ein Mann auf, der im Licht einer Straßenlaterne stand und sie musterte. Erst wollte sie kehrt machen und zurück in die Kneipe gehen, wo sie in Sicherheit war, dann jedoch erkannte sie den Mann. Es war der Kerl, der am vorigen Abend mit Luca einige Gläser Bier getrunken hatte. Allerdings machte er nun einen ganz anderen Eindruck auf sie. Er stand aufrecht und trug braune Lederschuhe, ein hellblaues Hemd und eine beige Hose, darüber einen halblangen Mantel und einen dicken Schal. Im Gegensatz zu gestern sah er heute aus wie jemand, dem es gut ging.
Er ging auf sie zu und blieb lächelnd vor ihr stehen.
„Guten Abend, Mila. Erinnerst du dich an mich?“, fragte er.
„Du bist Daniel“, sagte sie.
Sein Lächeln wurde noch breiter, aber bevor er etwas erwidern konnte, fragte Mila: „Was ist mit dir passiert? Gestern sahst du anders aus.“
„Gestern war nicht mein Tag“, gab Daniel zur Antwort, „Darf ich dich nach Hause bringen?“
Krimineller Wichser, dachte Mila.
„Wenn du willst“, sagte sie.
Sie gingen die Straße entlang und wirkten einsam inmitten der meterhohen Häuserfassaden, vom Laternenlicht angestrahlt auf dem schneebedeckten Asphalt. Sonst war weit und breit niemand zu sehen. Sie sprachen nicht viel, aber es war keine unangenehme Ruhe, wie man sie kennt, wenn man allein mit jemandem ist, mit dem man einfach nicht harmoniert.
„Arbeitest du schon lange da?“, fragte Daniel schließlich.
„Viel zu lange“, antwortete sie.
Eine Weile kehrte wieder Ruhe ein, bevor sie sagte: „Und du? Was machst du?“
„Ich arbeite für eine Spedition.“
„Gestern als Lagerarbeiter und heute als Geschäftsführer?“
„Wieso muss ich Geschäftsführer sein, um mich ordentlich anzuziehen?“
„Es ist nicht nur deine Kleidung. Dein ganzes Auftreten ist ein anderes.“
„Magst du es?“
„Weiß ich noch nicht“, antwortete sie keck.
Als sie unten vor ihrer Wohnungstür standen, fragte sie ihn, ob er Gras rauche. Er überlegte, dann verneinte er freundlich, bedankte sich für den Spaziergang und schlenderte davon.
Das hatte sie noch nie erlebt.