Читать книгу Bildungsphilosophie für den Unterricht - Philipp Thomas - Страница 10
1.1 Wir brauchen junge Menschen, die selbst denken können, denn die Wahrheit ist nie fertig
ОглавлениеEin Generationenvertrag. Es gehört zum Kernbestand unserer modernen Kultur, dass es nur ganz wenige immer schon bestehende und in alle Ewigkeit geltende Wahrheiten gibt. Eine Generation kann nicht einfach für die nächste entscheiden, was für diese unzweifelhaft richtig sein soll. Sie kann nicht für sie entscheiden – und doch kann die ältere etwas für die jüngere Generation tun: Sie kann ihr das Selbstdenken und Argumentieren beibringen. Und sie muss für die nächste Generation den Rahmen dafür sichern: die Freiheit, sich immer weiter eine eigene Meinung bilden zu können und auch zu dürfen. Wir brauchen junge Menschen, die es gelernt und trainiert haben, selbst zu denken. Dies ergibt sich unter anderem aus dem modernen Bewusstsein eines Nichtwissens.
Hintergrund: Moderne bezeichnet hier nicht die gesamte Zeit seit dem Mittelalter und auch nicht die Moderne in der Kunst und Literatur des 20. Jahrhunderts, sondern die Zeit seit der Aufklärung (18. Jahrhundert) und der industriellen Revolution (19. Jahrhundert) bis heute.
Traditionelle Wahrheitsgewissheit. Die moderne Kultur hat sich von etwas verabschiedet, nämlich von einer bestimmten Form von Wahrheitsgewissheit. Solch eine Wahrheitsgewissheit ergibt sich aus einer geoffenbarten transzendenten Wahrheit, wie sie etwa in der Bibel als einer Heiligen Schrift vorliegt. Die mittelalterliche Gesellschaft, die noch viel stärker traditionell und religiös geprägt war, kannte in weit geringerem Maße die Anforderung, dass die Wahrheit immer erst mühsam gefunden werden muss. Stattdessen gab es eine traditionelle und geoffenbarte Wahrheit, die bezogen auf die Herausforderungen einer Gegenwart lediglich neu ausgelegt werden musste. Eine andere Quelle absoluter Wahrheit neben der religiösen war die Institution der erblichen Monarchie. Dass genau diese eine Herrscherfamilie über ein Land herrschen sollte, das schien unantastbar. Auch die Hierarchie der Gesellschaft wurde nicht angezweifelt. Herrschaft und Struktur der Gesellschaft wurden oft genug sogar zurückgeführt auf einen quasi göttlichen Ursprung.
Was ist mit Nichtwissen gemeint? Nichtwissen in einem sehr grundsätzlichen Sinn (Wissen ist prinzipiell begrenzt) wird in Kapitel 4 behandelt. Hier in Kapitel 1 geht es eher um das Bewusstsein der modernen Kultur, dass das traditionelle (religiöse, überlieferte etc.) Wissen nie ausreicht für die sich wandelnden Probleme. Laufend muss neues Wissen hervorgebracht werden. Auch dies ist ein Bewusstsein von Nichtwissen. Die moderne Gesellschaft, in der diese ältere Wahrheitsgewissheit zurücktritt, wird sich einer bestimmten Dynamik bewusst. Das ist die neue Idee eines laufenden historischen Wandels. Dieser umfasst alle Bereiche, nicht nur die Gesellschaft, sondern etwa auch die Wissenschaft. Denn diese gelangt immer wieder zu neuen Erkenntnissen. Schließlich betrifft die laufende Erneuerung auch dasjenige, was jeweils als die richtige Lösung für die anstehenden Probleme einer Zeit gesehen wird, also die sozialen und politischen Lösungsversuche. Doch mehr noch, die Dynamik umfasst sogar die Probleme und Herausforderungen selbst, auch diese befinden sich in ständiger Entwicklung, sie bleiben nicht einfach immer die alten. Das ist mit dem Begriff Nichtwissen gemeint: ein Bewusstsein für lauter noch nicht gelöste Probleme und die Erfahrung, dass Wissen nicht einfach vorhanden ist, sondern dass es erst gesucht und dass es auch immer wieder erneuert werden muss. Und diese neue Situation braucht die Fähigkeit der neuen Generationen, selbst denken und selbst Lösungen finden zu können.
Neue ethische Fragen. Wissenschaft und Technik verändern ihrerseits unsere Welt und durch diese Veränderung entstehen neue Fragestellungen und auch neue ethische Herausforderungen und Probleme, die es früher noch gar nicht geben konnte. Eine neue Technik in der Medizin etwa könnte so teuer sein, dass ungewiss ist, ob sie überhaupt allen Menschen zugutekommen kann. Wenn sie nur für eine begrenzte Anzahl von Menschen zur Verfügung steht, ergeben sich neue ethische Fragen: Soll sie nur für Menschen angewandt werden, die noch eine lange Lebenserwartung haben? Oder ist es gerecht, sie den Kräften des Marktes zu überlassen, sodass zahlungskräftige Patient:innen zum Zuge kommen? Neue Landwirtschafts- oder Kommunikationstechniken könnten Folgen haben, die noch weitgehend unbekannt sind oder aber, zum Beispiel als Gefährdung der natürlichen Ressourcen, die Gesellschaft definitiv vor neue Probleme stellen. Wieder entstehen neben neuen technischen auch neue ethische Fragen.
Wandel der Ansichten und Überzeugungen. Die Dynamik ist sogar noch umfassender. Sie betrifft auch die allgemeinen und vorherrschenden Ansichten darüber, was als sinnvolles und gutes Leben gelten soll; ja sogar, was als ethisch gut und ethisch schlecht bezeichnet werden muss. Nach einigen Jahrzehnten haben sich Ansichten in unserer Gesellschaft schon wieder leicht oder sogar gravierend geändert. Als Beispiele lassen sich das Verhältnis der Geschlechter nennen oder die Form, die Struktur und die Bedeutung der Familie. Was hier Norm und was Normalität ist, diese Ansichten sind im Wandel.
Selbstdenken ist überlebenswichtig. In dieser Lage, also mitten in einer grundsätzlichen Dynamik, welche Veränderungen in den meisten Bereichen mit sich bringt, braucht die Gesellschaft weniger junge Menschen, deren Kompetenz darin besteht, dass sie alte Lösungen und alte Entscheidungen über Richtig und Falsch kennen und vertreten, ohne diese weiter zu hinterfragen. Sondern die Gesellschaft braucht in dieser Lage Menschen, welche die Kompetenz mitbringen, durch kluge Informationsbeschaffung und Auswertung dieser Informationen sowie durch kluge Argumentation zu einem eigenständigen Urteil in den neu sich ergebenden Herausforderungen gelangen zu können. Hinzukommen muss die Fähigkeit, mit einer gewissen Pluralität von Meinungen umgehen zu können, das heißt zunächst einfach: daran gewöhnt zu sein, dass es verschiedene Ansätze zur Lösung von Problemen gibt.
Hintergrund: Pluralistisch nennt man eine Gesellschaft, die ganz unterschiedliche Individuen und Gruppen und ihre Ansichten toleriert, ja diese Pluralität sogar wertschätzt: Der Wettbewerb der Meinungen kann die Gesellschaft weiterbringen.
Bildung in der sich verändernden Welt. Die moderne Gesellschaft muss also in ihrem Bildungsbereich für vieles Sorge tragen. Sie braucht etwa immer genügend Menschen, welche die Technik wissenschaftlich weiterentwickeln können. Sie braucht ebenso immer genügend Menschen, die über hervorragende sprachliche, kulturelle oder politische Kompetenzen verfügen, um neue Aufgaben in der sich globalisierenden Welt anzugehen. Doch über eine Fähigkeit sollten möglichst alle jungen Menschen verfügen, nämlich über die Fähigkeit, selbst zu denken, selbstständig sich ein Bild der Herausforderungen zu verschaffen und zu einem eigenen Urteil zu kommen. Denn nur so können dann in einem fruchtbaren Streit um die besten Lösungen nach und nach und immer wieder neu auch tatsächlich sehr gute Lösungen gefunden werden und sich durchsetzen – Lösungen, die nicht Teil einer absoluten Wahrheit sind, Lösungen, die es nicht einfach schon gibt, sondern die in einem pluralen System gefunden werden müssen.
Wir müssen jungen Menschen das Selbstdenken beibringen, denn in der modernen Kultur kann eine Generation nicht für die nächste schon wissen, welche neuen Herausforderungen es geben wird und welche Lösungen richtig sein werden.