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Warum muss ich das alles wissen? Um Botschafter:in für unsere Kultur zu werden!
ОглавлениеMeine Kollegin, die Kulturbotschafterin. Als ich Lehrer war, hatte meine Kollegin mit dem Fach Spanisch einen eigenen Unterrichtsraum. Alle Spanischlerngruppen mussten zu diesem Raum kommen, und sie war die Gastgeberin. Ihren Raum hatte sie nicht nur mit spanischsprachiger Lektüre ausgestattet, sondern auch mit schönen Bildern aus Spanien und Südamerika dekoriert. Ich kann mich noch an Flamenco-Kostüme erinnern, die etwas wild, aber schön an den Wänden hingen. Die Kollegin verstand sich als Kulturbotschafterin. Sie wollte ihren Schüler:innen nicht nur die Sprache beibringen, sondern auch für die spanische Kultur werben.
Nicht nur für eine Fachkultur, sondern für unsere Kultur als Ganzes werben. Egal, welches Fach Sie später unterrichten, auch Sie sind sozusagen Kulturbotschafter:innen. Zum einen vermitteln Sie Ihre Fächer und begeistern für diese. Genauso wie meine frühere Kollegin für ihr Fach Spanisch. Doch daneben haben alle Lehrpersonen noch eine weitere Aufgabe und um die geht es in diesem Buch. Ähnlich wie Eltern ihre Kinder in unsere Welt einführen, führen auch Sie Kinder und Jugendliche in unsere Welt, in unsere Kultur ein. Weshalb ist das so wichtig? Weil Kultur das ist, wovon wir träumen, wofür wir leben und was uns wichtig ist. Weil Kultur die großen Erzählungen umfasst, all das Bedeutende, wofür das Leben lohnt, und all die großen, ewig ungelösten Fragen, die wir der nächsten Generation doch weitererzählen. Der indianische Häuptling Seattle sagt im Eingangszitat, dass er den weißen Mann nicht versteht, der im Amerika des 19. Jahrhunderts Land von ihm kaufen will. Er spürt immer nur Macht und Gier und Ausbeutung der Natur. Er spürt nicht, wofür das alles gut ist: Welche Hoffnungen und Visionen gibt der weiße Mann seinen Kindern weiter? Dies Ihren Schüler:innen zu erklären, auch das gehört zu Ihrer Aufgabe.
Sie sollen Fachleute werden – auch für sehr allgemeine Fragen. Für die erste Aufgabe (für Ihr Fach begeistern) müssen Sie Expert:innen Ihrer Fächer werden. Für die zweite Aufgabe (Werbung für die Kultur als Ganzes) sollen Sie Fachleute für diese allgemeine Kulturbotschaftsaufgabe werden. Im Fachstudium erarbeiten Sie sich fachliches und fachdidaktisches Wissen. Außerdem erwerben Sie pädagogisch-psychologisches Wissen, z.B. über Themen wie Heterogenität oder Motivation. All dieses Wissen brauchen Sie für Ihren täglichen Unterricht. Doch daneben gibt es noch einen weiteren Bereich Ihrer Lehramtsausbildung und das ist die Bildungsphilosophie oder Bildungstheorie. Hier werden Sie Expert:innen für sehr allgemeine Fragen, die aber auch zur Bildung Ihrer Schüler:innen gehören und die hier, etwas vereinfacht, als Kulturbotschaftsaufgabe bezeichnet werden.
Um welche Orientierungsfragen geht es? Und was heißt das, Ihre Schüler:innen in unsere Kultur einzuführen? Die Antwort fällt leichter, wenn wir zu den Flamenco-Kostümen zurückkehren. Angenommen, auch Sie würden später einen eigenen Unterrichtsraum bekommen, so wie damals meine Spanisch-Kollegin. Wie würden Sie diesen Raum einrichten und dekorieren, um für Ihr Fach zu begeistern? Als Geographielehrer:in würden Sie allerlei Landkarten und einen Globus haben, als Kunstlehrer:in vielleicht künstlerische Objekte. Doch wie würden Sie Ihren Raum für jene andere Aufgabe schmücken, nämlich die, Ihre Schüler:innen in die großen Orientierungsfragen unserer Kultur einzuführen? Wie können Sie das veranschaulichen, wovon unsere Kultur träumt und was ihr wichtig ist? Hier kommt dieses Buch ins Spiel. Um seine Aufgabe zu veranschaulichen, dient folgendes Bild: Sie könnten große Bilderrahmen aufhängen und in diese jeweils ein großes Thema schreiben. In einem stünde Selbstdenken!, in einem anderen Vernunft! In einem besonders großen Rahmen stünde Moralisch gut sein! und in einem besonders bunten Rahmen Durch Bildung man selbst werden!
Wie soll ich diese Themen unterrichten? Vielleicht nicht so sehr als eigene Unterrichtsstunden. Orientierungsfragen gehen über Ihren Fachunterricht meist hinaus. Doch ‚zwischen den Zeilen‘ kommen diese großen Themen in Ihrer Arbeit mit den Lerngruppen laufend vor. Auch in Ihrem Verhalten, in dem, worauf Sie Wert legen und auch in den Hoffnungen und Visionen, die Sie Ihren Schüler:innen weitergeben. Daher die fiktiven Bilderrahmen. In einem stünde Ich weiß, dass ich nichts weiß, in einem anderen Die Werte unserer Kultur verlebendigen! und in einem besonders schönen stünde Herzensbildung. Jedes Orientierungsthema an der Wand Ihres fiktiven Unterrichtsraums ist ein Kapitel in diesem Buch. Und jedes Kapitel können Sie für die tägliche Unterrichtspraxis verwenden.
Ihre Schüler:innen werden nicht gleich begeistert sein. Das waren die meiner früheren Spanisch-Kollegin auch nicht. O je, so mögen sie geklagt haben, jetzt sollen wir uns auch noch für Flamenco begeistern, was denn noch alles! Und ebenso werden die Kinder und Jugendlichen kritisch sein, wenn es um die großen Orientierungsfragen geht. Ist das nicht alles bloß bildungsbürgerlicher Ballast? Werde ich durch diese ganze Kultur nicht allzu brav? Sollte ich nicht stattdessen wild und gefährlich leben? Doch wir Lehrpersonen werden jeden Tag unser Bestes geben, um unsere Schüler:innen einzuführen in die großen Fragen und Themen der Kultur. Es gilt, junge Menschen zu begeistern.
Menschliche Kultur ist etwas Kostbares. Etwas, das sich nicht von selbst versteht, etwas, das von vielen Voraussetzungen abhängt, das verletzlich ist und immer wieder erneuert werden muss. Leider auch etwas, das ganz leicht zerstört werden kann und das dann lange Pflege braucht, um wieder zu gedeihen. Sie werden später vielleicht keinen eigenen Unterrichtsraum bekommen wie meine Spanisch-Kollegin damals. Und Sie werden für die schönen, fiktiven Bilderrahmen mit den großen Orientierungsthemen keinen Platz an den Wänden haben, weil diese schon voll sind. Und dennoch: Wenn Sie und wenn alle Lehrer:innen zusammen jeden Tag nicht nur für unsere Fächer, sondern auch für die großen kulturellen Themen und Werte begeistern, dann können wir den Staffelstab später einmal an die neue Generation weitergeben. Denn dann haben wir den Kindern und Jugendlichen erzählt, „wovon der weiße Mann träumt, welche Hoffnungen er seinen Kindern an langen Winterabenden schildert und welche Visionen er in ihre Vorstellungen brennt, so daß sie sich nach einem Morgen sehnen“, wie es im Eingangszitat hieß (www.humanistische-aktion.de/seattle.htm). Bildung ist mehr als Information und Wissen und Kompetenz, Bildung ist mehr als Ausbildung. Nur wenn wir groß und weit denken, wird unsere Arbeit wirklich sinnvoll.