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3.2 Das Gute tun, weil man sofort spürt und weiß: Das Gute ist das Richtige (Jonas, Levinas)

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Sieh’ hin und du weißt, was zu tun ist! Der erste philosophische Begründungsversuch für das Gutsein, den ich Ihnen vorstellen will, geht davon aus, dass wir gewissermaßen unmittelbar von unserer Umwelt aufgefordert werden, das Gute zu tun und wir darauf nur reagieren müssen. Es ist nicht etwa der Ruf unseres Gewissens, sondern etwas noch Ursprünglicheres. Etwas in der Welt stellt eine Forderung an uns, tritt also als ein Sollen an uns heran.

Hintergrund: Philosophie unter Hitler. Bevor Jonas, geboren in Mönchengladbach, in New York Philosophieprofessor und weltberühmt wurde, kämpfte er fünf Jahre lang in verschiedenen Armeen gegen Hitlerdeutschland. Studiert und promoviert hatte er bei Martin Heidegger. 1933 war er aus Deutschland geflohen. Seine Mutter wurde nach Auschwitz deportiert und ermordet.

Der Philosoph Hans Jonas (1903–1993) nennt in seinem Werk Das Prinzip Verantwortung das Beispiel eines Säuglings (Jonas 1984, 235). Vom neugeborenen Kind gehen die Forderung und der Anspruch aus, sich um dieses Wesen zu kümmern. Tatsächlich fiele es uns nicht im Traum ein, diesen Anspruch des Säuglings für überzogen oder für ungerechtfertigt zu halten. Ein moralischer Anspruch ist zusammen mit dem Säugling in der Welt, hier und jetzt. Wir selbst sind gemeint. Das Gute besteht darin, im Sinne dieses Anspruchs zu handeln.

Zeigt uns einen einzigen Fall […] wo jener Zusammenfall stattfindet [von Sein, also dem Dasein des Säuglings, und dem Sollen, das von diesem Sein ausgeht, also etwa der Aufforderung, dem Säugling zu helfen, Ph.Th.], so kann man auf das Allervertrauteste hinzeigen: das Neugeborene, dessen bloßes Atmen unwidersprechlich ein Soll an die Umwelt richtet, nämlich: sich seiner anzunehmen. Sieh hin und du weißt. Ich sage „unwidersprechlich“, nicht „unwiderstehlich“: denn natürlich läßt sich der Kraft dieses wie jedes Soll widerstehen, sein Ruf kann auf Taubheit stoßen […] oder durch andere „Rufe“, wie etwa vorgeschriebene Kindesaussetzung, Erstgeburtsopfer und dergleichen […] übertönt werden – an der Unwidersprechlichkeit des Anspruchs als solchen und seiner unmittelbaren Evidenz ändert dies nichts. Ich sage auch nicht: eine „Bitte“ an die Umwelt („nehmt euch meiner an“), denn der Säugling kann noch nicht bitten […]. So ist auch von Mitgefühl, Erbarmen, oder welche Gefühle unsererseits ins Spiel kommen mögen, sogar von der Liebe hier nicht die Rede. Ich meine wirklich strikt, daß hier das Sein eines einfach […] Daseienden ein Sollen für andere immanent und ersichtlich beinhaltet. (Jonas 1984, 235)

Der moralische Anspruch ist schon in der Welt. Tatsächlich kennen wir alle solche Situationen, in welchen aus einem Sein ein Sollen folgt, wie man in philosophischer Begrifflichkeit sagt. Wichtig ist: Dieses ‚Folgen‘ des Sollens aus dem Sein ist kein kognitives Folgern oder logisches Schließen. Vielmehr ist hier das Sein, also eine bestimmte Situation in der Welt, identisch mit dem Sollen. Weshalb sollen wir gut sein? Lohnt sich das denn? Jonas’ Begründungsversuch des Guten zielt darauf, dass das Sein selbst schon ein Sollen ist. So ließe sich auch sagen: In der Wahrnehmung des Seins, wie z.B. des Säuglings, liegt schon die Erfahrung, die Einsicht und das Wissen darum, was von uns verlangt wird und was hier und jetzt das Gute ist. Eigens begründen müssten wir allenfalls, weshalb wir trotz dieses Wissens das Gute nicht einsehen oder tun.

Von meinem Gegenüber geht etwas Absolutes aus, eine ethische Forderung. Ähnlich denkt der Philosoph Emmanuel Levinas (1906–1995).

Hintergrund: Philosophie unter Hitler. Bevor Levinas, geboren in Kaunas/Litauen, in Paris Philosophieprofessor und weltberühmt wurde, war er fünf Jahre in deutschen Arbeitslagern inhaftiert. Als Juden wurden seine Eltern und Brüder während dieser Zeit ermordet. Studiert hatte er u.a. bei Martin Heidegger in Freiburg.

Levinas spricht vom Antlitz des Anderen, welches uns gewissermaßen in Beschlag nimmt, und zwar, noch bevor wir denken oder abwägen können. Das Antlitz meint mehr als das menschliche Gesicht des Gegenübers, es stellt so etwas wie dessen eigentümliche Präsenz dar, eine Art Aura. Und von dieser Aura, die uns fordert und in Anspruch nimmt, sagt Levinas, dass sie eine kontextlose und damit absolute Bedeutung hat. Was ist damit gemeint? Üblicherweise ergibt sich die Bedeutung von etwas immer aus dem Kontext. Die Bedeutung von Wörtern oder Zeichen verweisen immer auf das Ganze eines Satzes, seinen Sinn und Inhalt, wodurch der Satz erst seine bestimmte Bedeutung erhält. Wenn Sie etwa sagen: ‚Das ist mir zu schwer‘, dann ist die Bedeutung des Satzes und auch der Satzteile nur aus dem Kontext heraus zu verstehen. ,Das‘ kann ein schwerer Gegenstand, eine komplizierte Rechenaufgabe oder ein schwerer Schicksalsschlag sein. Entsprechend ändert sich auch die Bedeutung von ‚schwer‘. Beim Antlitz aber scheint es anders zu sein.

[Interviewer, Ph.Th.]: Kriegserzählungen besagen tatsächlich, daß es schwer ist, jemanden zu töten, der einem ins Gesicht blickt.

[Levinas, Ph.Th.]: Das Antlitz ist Bedeutung, und zwar Bedeutung ohne Kontext. Ich will damit sagen, daß der Andere in der Geradheit seines Antlitzes nicht eine Person innerhalb eines Kontextes darstellt. Normalerweise ist man eine ‚Person‘: man ist Professor an der Sorbonne, Vize-Präsident im Staatsrat, Sohn eines Soundso, alles das, was im Paß vermerkt ist, die Art sich zu kleiden, sich zu präsentieren. Und jede Bedeutung, im üblichen Sinn des Begriffs, bezieht sich auf einen derartigen Kontext: Der Sinn einer Sache beruht in ihrer Beziehung zu etwas anderem. Hier hingegen ist das Antlitz für sich allein Sinn. Du, das bist du. In diesem Sinn kann man sagen, daß das Antlitz nicht ‚gesehen‘ wird. Es ist das, was nicht ein Inhalt werden kann, den unser Denken umfassen könnte; […] Aber die Beziehung zum Antlitz ist von vornherein ethischer Art. Das Antlitz ist das, was man nicht töten kann oder dessen Sinn zumindest darin besteht, zu sagen: ‚Du darfst nicht töten.‘ (Levinas 1996, 65f., Hervorhebung i. O.)

Das Antlitz des Anderen. Jonas spricht vom Beispiel des Neugeborenen, Levinas dehnt dies aus auf jedes Gegenüber und seine Präsenz oder Aura, sein Antlitz. Das Antlitz ist schon der Anspruch des Anderen an uns, sich seiner anzunehmen. Wir müssen nicht erst folgern vom Sein, vom Antlitz, auf ein Sollen, die Fürsorge. In diesem Sinne kann Levinas sagen, dass wir das Antlitz nicht sehen – nämlich nicht in der Art, wie wir ein Objekt sehen und wie wir es dabei als etwas Bestimmtes, zum Beispiel als eine bestimmte Person, erkennen und wiedererkennen, einordnen und identifizieren. Wir nehmen nicht die ganze Situation wahr, von der unser Gegenüber ein Teil ist, um diese dann ethisch zu analysieren, zu bewerten und schließlich begründet einen möglichen Entschluss zu fassen, hier müsse so oder so gehandelt werden. Sondern bevor wir überhaupt ein neutrales Erkenntnissubjekt sein können, das dann ethisch nachdenkt, stehen wir schon im Anspruch des Anderen. Wir entwickeln uns nicht unabhängig zu Subjekten. Wir werden Subjekte erst durch den Anspruch des Anderen.

Das Ethische geht allem voraus und liegt ihm zugrunde. Philosophen wie Jonas oder Levinas geht es darum, dass wir das Gute nicht durch eine philosophische Ethik rational begründen müssen. Die ethische Reflexion einer möglichen Handlung fragt, ob diese gut oder schlecht ist, ob man zu ihr verpflichtet ist oder nicht. Der Anspruch eines Seins, das zugleich ein Sollen ist, geht einer solchen ethischen Reflexion voraus. Natürlich werden wir oft taub für diesen Anspruch sein, natürlich haben wir viele Gründe, um uns auf die eine oder andere Weise diesem Anspruch zu entziehen. Doch Jonas und Levinas beharren darauf, dass wir diesen Anspruch dennoch erfahren. Eine solche philosophische Ethik ist nicht naiv, sie setzt das Gute nur viel grundsätzlicher an und sieht es als etwas, das als ein Sollen unser Leben bestimmt, noch vor aller Reflexion.

Sich dem Anspruch des Anderen zu öffnen, heißt ganz Mensch zu werden. Fragen wir uns von hier aus, weshalb wir eigentlich gut sein sollen, dann ließe sich so antworten: Zwar können wir dem Anspruch des Anderen nicht immer entsprechen, doch es gehört ein gewisser Aufwand dazu, diesen Anspruch des Anderen laufend zu verdrängen. Anders gesagt: Ohne dass wir das Sollen (uns des Anderen anzunehmen), welches uns mit dem Sein des Anderen unmittelbar gegeben ist, zumindest erfahren und fühlen, werden wir als Menschen nicht ganz Menschen sein können. Ohne dass wir dem Sollen wahrnehmend, erfahrend oder handelnd entsprechen, kann unser Leben nur auf eine eingeschränkte Weise ein gutes Leben werden. Öffnen wir uns dagegen dem Anspruch des Anderen, dann öffnen wir uns für so etwas wie die Tiefe des Lebens, die immer auch unbequem ist, die uns aber überhaupt erst richtig leben und, so ließe sich sagen, die uns überhaupt erst richtig Mensch sein lässt.

Weshalb sollen wir gut sein? Ethiken, die schon im Dasein unseres Gegenübers selbst (Sein) einen Anspruch an uns (Sollen) beschreiben, geben diese Antwort: Weil wir nur auf volle Weise Mensch sein können, indem wir diesen Anspruch wahrnehmen und ihm folgen.

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