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1.3 Der Wahrheit verpflichtet. Das Ethos moderner Wissenschaft (Weber)

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Wahrheitssuche in der Scientific Community. In diesem Kapitel geht es um die moderne Wissenschaft und ihr Selbstverständnis. Der Zusammenhang zwischen Wissenschaft und Selbstdenken wird weiter unten klar werden. Zum Ethos (im Sinne von attitude oder Einstellung) der modernen Wissenschaft gehört es, einer objektiven oder auch intersubjektiven Wahrheit verpflichtet zu sein, welche niemand für sich allein herausfinden und besitzen kann. Seit Francis Bacon (1561–1626) entfernt sich die moderne Wissenschaft vom Vorbild des einzelnen genialen Forschers, seinen besonderen Ideen und Einfällen und seinem exklusiven Zugang zur Wahrheit.

Hintergrund: Einiges am erfolgreichen Vorgehen der modernen Wissenschaft geht auf Francis Bacon zurück. Man solle nicht immer weiter Gründe dafür suchen, was man für wahr halte, sondern solle versuchen, es zu widerlegen. Denn dazu reiche ein einziges Gegenbeispiel. Auch sollten die Forschenden skeptisch gegenüber ihren Grundannahmen über die Welt bleiben, es könnten Vorurteile sein.

Stattdessen wird die Wahrheitssuche auf viele Schultern verteilt. Eine Community der Forschenden, so die neue Idee, produziert Hypothesen und Forschungsergebnisse und stellt sie einander vor. Die gegenseitige Kritik an den Hypothesen und an den Ergebnissen garantiert ein möglichst objektives Wissen, aus dem alle subjektiven Anteile entfernt worden sind. Denn indem die einzelnen Forscher:innen und die einzelnen Arbeitsgruppen stets damit rechnen müssen, von den anderen, mit ihnen konkurrierenden Wissenschaftler:innen auch noch der kleinsten Fehler überführt zu werden, kommt es erst gar nicht zu Behauptungen, die nicht abgesichert sind.

Die Forschung geht immer weiter. Prinzipiell ist diese Art und Weise, wie moderne Wissenschaft vorgeht, unabschließbar. Sie kommt nie an ein Ende, weil jedes Ergebnis neue Fragen aufwirft und weil die Community der Forschenden immer wieder ganz neue Perspektiven einbringt. Dieses objektive, in der Scientific Community immer weiter vertiefte Wissen gehört zum Ideal und zum Paradigma der modernen Wissenschaft.

Das Ethos der Forschenden. Aber auch die einzelnen Forschenden sind einem bestimmten Ethos verpflichtet. Sie setzen die Sache an die erste Stelle. Sie versuchen, ihre Ergebnisse möglichst verständlich darzustellen, um so gemeinsam mit anderen das beste Argument oder die beste Lösung zu finden. Die Forschenden beugen sich dem besseren Argument, der besseren Deutung und Interpretation bestimmter Ergebnisse oder auch dem besseren wissenschaftlichen Modell. Und die eigenen Vorschläge für solche Modelle müssen möglichst objektiv sein, man muss sie reinigen von subjektiven Urteilen oder Vorannahmen, die einem unterlaufen, ohne dass man sie überhaupt bemerkt.

Die Wahrheit über die Wirklichkeit herauszufinden, das ist stets wichtiger als man selbst. Der Soziologe Max Weber (1864–1920) hat diesen Zusammenhang für das Ethos der modernen Forschenden exemplarisch formuliert.

Hintergrund: Max Weber hat gezeigt, wie durch und durch rational unsere moderne Kultur ist. Prinzipiell kann alles wissenschaftlich erklärt werden (Entzauberung der Welt). Wissenschaft darf nicht in eine bestimmte Richtung gedrängt werden, die irgendjemand als wünschenswert erscheint (Wertfreiheit).

Als Wissenschaftler:innen möchten wir vielleicht für geniale Ergebnisse gefeiert werden. Noch wichtiger ist uns aber, dass diese Ergebnisse kleine Bausteine der Forschung sind, auf denen andere weiter aufbauen können. Wir arbeiten für die Sache, nicht für uns selbst.

[…] jede wissenschafliche ‚Erfüllung‘ bedeutet neue ‚Fragen‘ und will ‚überboten‘ werden und veralten. […] Wissenschaftlich aber überholt zu werden, ist […] nicht nur unser aller Schicksal, sondern unser aller Zweck. Wir können nicht arbeiten, ohne zu hoffen, daß andere weiter kommen werden als wir. (Weber 1922 (b), 534, Hervorhebung i. O.)

Uns selbst durchschauen und in der Forschung Wertfreiheit anstreben. Doch Weber geht noch einen Schritt weiter. Bescheidenheit bedeutet nicht nur zurückzutreten, wenn andere Forschende weiterkommen als wir. Sondern Bescheidenheit meint auch, sich darüber klar zu werden, wo in der eigenen Forschung die Tatsachen aufhören und die eigenen Bewertungen anfangen. Als Forschende, insbesondere in den Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften, sollen wir immer besser auch uns selbst und unser Denken durchschauen: Was ist objektive Tatsache und was ist subjektive Bewertung? Weber fordert,

[…] sich selbst unerbittlich klar zu machen: was von seinen jeweiligen Ausführungen entweder rein logisch erschlossen oder rein empirische Tatsachenfeststellung und was praktische Wertung ist. Dies zu tun allerdings scheint mir direkt ein Gebot der intellektuellen Rechtschaffenheit […]. (Weber 1922 (a), 452f., Hervorhebung i. O.)

[…] daß wenn der Lehrer praktische Wertungen sich nicht versagen zu sollen glaubt, er diese als solche den Schülern und sich selbst absolut deutlich mache. (Weber 1922 (a), 460, Hervorhebung i. O.)

Was aber heute der Student im Hörsaal doch vor allen Dingen von seinem Lehrer lernen sollte, ist: 1. die Fähigkeit, sich mit der schlichten Erfüllung einer gegebenen Aufgabe zu bescheiden; – 2. Tatsachen, auch und gerade persönlich unbequeme Tatsachen, zunächst einmal anzuerkennen und ihre Feststellung von der bewertenden Stellungnahme dazu zu scheiden; – 3. seine eigene Person hinter die Sache zurückzustellen […]. (Weber 1922 (a), 455, Hervorhebung i. O.)

Zur modernen Wissenschaft und ihrer Wahrheitssuche gehört es also, Tatsachen einerseits und bewertende Urteile andererseits voneinander zu trennen. Das bedeutet, den eigenen, individuellen Standpunkt zunächst zurückzunehmen.

Intellektuelle Rechtschaffenheit als Tugend. Bescheiden sein, sich gegenseitig Rechenschaft geben, sich dem besseren Argument beugen, unbequeme Tatsachen akzeptieren und Tatsachen von Bewertungen trennen – Weber nennt dies intellektuelle Rechtschaffenheit. Er hat das Ethos moderner Wissenschaft exemplarisch in seinen Aufsätzen Der Sinn der ‚Wertfreiheit‘ in den soziologischen und ökonomischen Wissenschaften (1917/18) und Wissenschaft als Beruf (1919) formuliert. Mit Wertfreiheit ist gemeint, dass die Wahrheitssuche der Wissenschaft keinen ideologischen Interessen oder Weltbildern folgen, sondern sich nur an eine Tugend, die intellektuelle Rechtschaffenheit, halten soll. Weber spricht davon,

[…] daß deshalb die ‚intellektuelle Rechtschaffenheit‘ die einzige spezifische Tugend sei, zu der sie [die Wissenschaftler:innen ihre Studierenden, Ph.Th.] zu erziehen haben. (Weber 1922 (a), 453)

[…], daß innerhalb der Räume des Hörsaals nun einmal keine andere Tugend gilt als eben: schlichte intellektuelle Rechtschaffenheit. (Weber 1922 (b), 555)

Aber ich will gar keine Wissenschaft betreiben. Blicken Sie von hieraus zurück auf die Frage Ihrer Schüler:innen, weshalb sie das Selbstdenken und das Argumentieren lernen sollen. In diesem Kapitel (1.3) ging es nicht um Lösungen in einer sich laufend ändernden Welt (1.1) und auch nicht um Selbstdenken als Menschenrecht (1.2). Zudem möchten Ihre Schüler:innen später vielleicht gar keine Wissenschaft betreiben. Doch vieles spricht dafür, dass der Erfolg und die Geschwindigkeit, mit der die moderne Wissenschaft fortschreitet, nicht zuletzt auf ihr spezifisches, hier beschriebenes Vorgehen zurückzuführen ist: Alles muss nachvollziehbar begründet sein, alles muss jederzeit von allen kritisierbar sein. So funktioniert eine effektive Lösungssuche. Diese Effektivität ist an einen Ethos gebunden, Weber spricht von der intellektuellen Rechtschaffenheit. Dies ist ein Ideal, ein moderner Wert und soll das Bildungsziel des Selbstdenkens beflügeln.

Wissenschaftliche Wahrheitssuche und Selbstdenken. Das Vorgehen der Wissenschaft hat viele Parallelen zum Selbstdenken und Argumentieren, denn der eigene Standpunkt muss stets gegenüber der möglichen Kritik anderer vertreten werden, er muss durch Argumente gestützt werden, die man selbst vielleicht entwickelt hat, die aber von den anderen auch verstanden und akzeptiert werden müssen. Wer immer Lösungen sucht, die besser sind als die konkurrierenden Vorschläge anderer zur Lösung derselben Probleme, ob in der Wissenschaft oder wenn es um die eigene Meinung zu einer wichtigen Frage geht, sollte dem Ethos der wissenschaftlichen Wahrheitssuche folgen. Selbstdenken und intellektuelle Rechtschaffenheit sind Ideale schon in der Schule.

Argumentieren, Begründen, Kritisieren, der Wahrheit verpflichtet sein – dies sind Fähigkeiten, welche die moderen Kultur braucht (Kap. 1.1), welche die Aufklärung als Menschenrecht entdeckt (Kap. 1.2) und welche die moderne Wissenschaft erfolgreich machen (Kap. 1.3). Daher ist Selbstdenken ein Bildungsziel.

Bildungsphilosophie für den Unterricht

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