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2.1 Aristoteles zeigt, wie das vernünftige Leben das beste Leben ist

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Vernunft ist Unabhängigkeitskompetenz. Weshalb hat Vernunft in unserer Tradition einen so hohen Stellenwert? Dies lässt sich gut anhand eines einzigen Werkes verständlich machen, nämlich der Nikomachischen Ethik des Aristoteles (Kap. 2.1), ergänzt durch Gedanken anderer Philosophen, nämlich Epikur (Kap. 2.2) und Epiktet (Kap. 2.3). Diese aus der griechischen Antike stammenden Gedanken sind für unsere Kultur überaus bedeutend und einflussreich. Um gleich anzudeuten, wohin die Reise geht: Bei der Vernunft geht es um so etwas wie Unabhängigkeitskompetenz. Ja, die Welt funktioniert nicht unbedingt nach Prinzipien der Vernunft und dies gilt auch für uns selbst. Unser Leben ist zunächst einmal nicht vernünftig. Und gerade deshalb ist es gut, über die Kompetenz zu verfügen, immer wieder frei zu werden von den ‚unvernünftigen‘ Kräften und Leidenschaften, nämlich durch die Kraft der Vernunft.

Hintergrund: Vernunft, das ist hier kein anthropologisch-beschreibender Begriff, er bezeichnet nicht das Wesen des Menschen. Er bezeichnet auch nicht einfach unsere kognitiven Fähigkeiten, dafür sagt man eher Verstand. Sondern hier geht es um die Fähigkeit einer bestimmten Beziehung zu uns selbst, z.B., dass wir uns durch Vernunft immer wieder befreien können von unseren Ängsten oder Antrieben.

Die Nikomachische Ethik. Aristoteles (384–322) war Schüler Platons in dessen Akademie in Athen, wurde später Lehrer Alexander des Großen in Makedonien, danach lehrte und forschte er in Athen. Aristoteles ist durch seine Werke in der Philosophie bedeutend und er wurde von der christlichen und der islamischen Theologie rezipiert. Zugleich aber ist Aristoteles ebenso bedeutend in der Wissenschaft.

Hintergrund: Logik: Wie muss man formal richtig argumentieren? Rhetorik: Wie kann man überzeugend reden? Metaphysik: Aus was besteht die Welt im Innersten?

Ob Logik oder Rhetorik, ob Metaphysik oder Staatslehre, ob Theorie der Dichtkunst oder Naturwissenschaft, Aristoteles hat in all diesen Bereichen Werke verfasst, die für Jahrhunderte einen sehr großen Einfluss gehabt haben. Bis heute erforschen weltweit Philosoph:innen sein Denken und versuchen es weiterzuentwickeln. Ein besonders bedeutendes Werk ist seine Nikomachische Ethik, deren Name sich vielleicht auf seinen Sohn bezieht, der Nikomachos hieß. Viele Themen sind es, die Aristoteles in dieser Ethik behandelt, sie reichen von der Frage nach dem Glück, der Bestimmung der Tugenden, dem Nachdenken über Staatsformen und über die Bedeutung der Freundschaft bis hin zur Frage, welche Lebensform für den Menschen als die höchste gelten kann. Und hier wird Aristoteles’ Antwort sein, dass der Mensch dann sein eigentliches Ziel erreicht, wenn er sein Leben nach der Vernunft ausrichtet. Wie ist dies gemeint, was hat das mit dem gerade verwendeten Begriff Unabhängigkeitskompetenz zu tun und wie kann uns Aristoteles’ Aussage weiterhelfen, das beste Leben sei das gemäß der Vernunft geführte?

Worin besteht das wahre Leben? Schauen wir Aristoteles dabei zu, wie er in seiner Nikomachischen Ethik nach dem richtigen Leben fragt und wie er das Leben sucht, das uns Menschen eigentlich angemessen ist. Am Ende wird seine Antwort sein, dass die Eudaimonia, meist übersetzt als Glückseligkeit, das höchste Ziel des menschlichen Lebens ist. Und wenn wir ihn fragen, in welchem Zustand oder in welcher Tätigkeit genau die Glückseligkeit, die Eudaimonia, besteht, dann wird Aristoteles antworten: Glückseligkeit besteht für uns Menschen nicht darin, worin wir sie vermuten, nämlich in körperlichem Genuss oder in Reichtum oder in Erfolg und sozialer Anerkennung, auch nicht in großer Macht oder großem Einfluss – sondern Glückseligkeit besteht darin, dass wir uns selbst durch Vernunft bestimmen. Aber gehen wir Schritt für Schritt vor und verfolgen wir mit, wie Aristoteles zu diesem überraschenden Ergebnis kommt.

Schritt Eins: Finde Handlungen, die kein äußeres Ziel mehr haben, sondern sich selbst genügen. Aristoteles schickt uns auf die Suche nach derjenigen Tätigkeit, die ihren Zweck in sich selbst hat, die Ziel und Ende all unseres Handelns ist und dieses Ziel wird zunächst noch ganz formal bezeichnet als Eudaimonia, als Glückseligkeit.

[…] Es zeigt sich aber ein Unterschied in den Zielen: denn die einen sind Tätigkeiten, die andern sind bestimmte Werke außer ihnen. Wo es Ziele außerhalb der Handlungen gibt, da sind ihrer Natur nach die Werke besser als die Tätigkeiten. […] Wenn es aber ein Ziel des Handelns gibt, das wir um seiner selbst willen wollen und das andere um seinetwillen; wenn wir also nicht alles um eines andern willen erstreben […], dann ist es klar, daß jenes das Gute und das Beste ist. (Aristoteles 1986, 55)

Praktisch alles tun wir nicht als Selbstzweck, sondern als Mittel zu einem der Handlung äußeren Zweck. So studieren Sie nicht als Selbstzweck, sondern um später einen Beruf ausüben zu können, um dabei Geld zu verdienen, um davon wiederum Ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können. Denkt man so über das eigene Leben nach, dann stellt sich tatsächlich bald die Frage nach dem Sinn des Ganzen: Wozu sollen wir denn unseren Lebensunterhalt verdienen? Um Kinder zu bekommen und diesen zu ermöglichen aufzuwachsen? Oder für teure Urlaube und Hobbys? Und der Sinn der Existenz unserer Kinder? Auf diese Weise ließe sich immer weiter fragen. Die philosophische Analyse menschlicher Handlungen in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles durchbricht diese trüben und endlosen Gedanken, denen früher oder später alles sinnlos vorkommt. „Fast alles begehren wir als Mittel, ausgenommen die Glückseligkeit. Denn sie ist das Ziel“ (Aristoteles 1986, 294).

Tugendhaftes Handeln ist nicht auf äußere Zwecke bezogen, sondern genügt sich selbst. Doch Handlungen, die wir nicht um eines äußeren Ziels, sondern um ihrer selbst willen tun, gibt es einige – die Glückseligkeit ist nur deren höchste. Wir sind im Flow, sagt man in der Psychologie, wenn wir in einer Handlung ganz aufgehen. Dies erinnert an Aristoteles’ selbstzweckhafte Handlungen. Aber Achtung: Eudaimonia ist dem Leben gemäß der Vernunft vorbehalten, also nicht einfach gleichbedeutend mit Flow. Daher: der Reihe nach. Aristoteles beschreibt verschiedene Handlungen, die wir nicht als Mittel, sondern als Zweck tun. Solche Handlungen sind Kandidat:innen für den Sinn in unserem Leben. Ein Beispiel für sich selbst genügende Handlungen sind tugendhafte Handlungen. Bei denen wissen wir, dass unser Handeln einfach so und so sein soll, hier fragen wir nicht nach einem äußeren Sinn, einem Zweck.

Und an sich begehrenswert sind die Tätigkeiten, bei denen man nichts weiter sucht als die Tätigkeit selbst. Diesen Charakter scheinen die tugendgemäßen Handlungen zu haben, da es an sich begehrenswert ist, schön und tugendhaft zu handeln. (Aristoteles 1986, 293)

Wir wissen, dass es sich einfach gehört, dass wir uns tugendhaft verhalten. Ein sehr einfaches Beispiel, die Tugend der Gastfreundschaft: Stellen Sie sich vor, Sie halten Ihr Geld zusammen, Sie lieben es, sparsam zu sein. Da kündigen sich spontan Gäste an. Plötzlich fällt es Ihnen leicht, etwas Gutes zu Essen oder zu Trinken zu besorgen und dafür auch einiges an Geld auszugeben. Denn das gehört sich so. Und das meinen Sie nicht nur in einem äußerlichen Sinn und Sie schielen auch nicht auf einen Nutzen für sich selbst, zumindest nicht, wenn Ihnen an Ihren Gästen wirklich etwas liegt. Sondern die Gastfreundschaft macht Ihnen Freude, ein Stück Leben geht hier gewissermaßen auf wie eine Blüte und kommt an sein Ziel.

Ein Stück Lebenssinn: die selbstzweckhafte Handlung. Gehen Sie in sich und fragen sich genauer, was Sie damit meinen, wenn Sie sagen, es gehöre sich, Gäste gut zu empfangen und zu bewirten. Vielleicht denken Sie dann an das Folgende. Mit dieser tugendhaften Handlung, so könnten Sie es beschreiben, identifiziere ich mich maximal, in ihr komme ich gewissermaßen selbst vor. An dieser kleinen Stelle meines Lebens erfüllt sich dieses Leben, hier scheint alles fraglos, hier ist die Kette durchbrochen, in der jede Handlung im Dienste von etwas anderem getan wird. Meine Gäste liebevoll und aufwändig zu empfangen und zu bewirten, das ist ein Stück Lebenssinn. Sie könnten es auch so ausdrücken: Bei tugendhaften Handlungen müssen wir nicht weiter fragen, wozu das gut ist, sondern diese Handlungen tragen ihren Sinn, ihren Zweck schon in sich. Genau das möchte Aristoteles damit sagen, dass wir zwar fast alles als Mittel zu einem anderen Zweck tun, dass aber tugendhafte Handlungen selbstzweckhafte Handlungen sind.

Schritt zwei: Finde innerhalb des tugendhaften Handelns die höchste Form, finde die höchste Tugend. Im Feld der selbstzweckhaften Handlungen, also der tugendhaften, müssen wir nun die oberste dieser Handlungen suchen und das ist dann die Eudaimonia, die Glückseligkeit. Diese Suche kann dadurch gelingen, dass wir fragen, was die höchste und eigentliche Tugend des Menschen ist oder auch: die dem Menschen angemessenste. Es gibt für Aristoteles also eine gewisse Hierarchie der Tugenden im Menschen und es ist unschwer zu erkennen, dass eine bestimmte Anthropologie hinter dieser Hierarchie steckt. Aristoteles schreibt:

Nun ist jedem [gemeint sind die verschiedenen Gruppen von Lebewesen, Ph.Th.] diejenige Tätigkeit am liebsten, die seiner eigentümlichen Art entspricht. (Aristoteles 1986, 294)

Welche mag sie [die für den Menschen wichtigste Tätigkeit, die seiner eigentümlichen Art entspricht, Ph.Th.] nun wohl sein? Das Leben offenbar nicht, denn dies besitzen auch die Pflanzen, wir suchen aber das dem Menschen Eigentümliche. Das Leben der Ernährung und des Wachstums ist also auszuscheiden. Es würde darauf das Leben der Wahrnehmung folgen, aber auch dieses ist uns gemeinsam mit dem Pferde und Rinde und allen Tieren überhaupt. Es bleibt also das Leben in der Betätigung des vernunftbegabten Teiles übrig. (Aristoteles 1986, 66)

Der Geist [νους, Geist, Vernunft, Ph.Th.] nämlich ist das beste in uns, und die Objekte des Geistes sind wieder die besten im ganzen Bereich der Erkenntnis. (Aristoteles 1986, 295)

Das Vernunftwesen Mensch ist am meisten in der Vernunft es selbst. Wenn das Wichtigste am Menschen das Erkennen durch die Vernunft ist (also nicht etwa nur sinnliche Erfahrung), dann müssen wir hier, in diesem Bereich suchen, wenn wir das höchste selbstzweckhafte Handeln finden wollen, die Eudaimonia. Während wir mit allen Lebewesen das Leben und Wachsen und mit den Tieren die Wahrnehmungsfähigkeit gemeinsam haben, kommt nur den Menschen die Vernunftbegabung zu. Die angemessenste Tätigkeit des Menschen ist für Aristoteles daher die der Vernunft gemäße:

Denn mag es [die Vernunft als das Beste im Menschen, Ph.Th.] auch klein an Umfang sein, ist es doch an Kraft und Wert das bei weitem über alles Hervorragende. […] Was einem Wesen von Natur eigentümlich ist, ist auch für es das beste und genußreichste. Für den Menschen ist dies das Leben gemäß dem Geiste, da ja dieses am meisten der Mensch ist. (Aristoteles 1986, 297f.)

Verwirklichung als Vernunftwesen. Worin besteht der Zusammenhang zwischen der Tugend und der Tätigkeit der Vernunft? Aristoteles meint, dass auch die Vernunft eine Tugend ist. Vereinfacht gesagt: Der Mensch ist ein soziales Wesen und (unter anderem) in der Gastfreundschaft verwirklicht er dieses Wesen. Dafür muss er z.B. seine egoistische Sparsamkeit überwinden. Er ist aber nicht nur ein soziales, sondern vor allem ein Vernunftwesen – und im Leben gemäß der Vernunft verwirklicht er sich als Vernunftwesen. Dafür muss der Mensch frei werden von seinen Leidenschaften, etwa seinen übertriebenen Ängsten und Begierden, frei werden von seinen Bedürfnissen nach Anerkennung und Erfolg. Wie in der Gastfreundschaft ist das Leben hier momentweise am Ziel, die Frage nach einem äußeren Ziel, für das das Vernünftigsein ein Mittel wäre, ist überflüssig. Innerhalb der selbstzweckhaften, der tugendhaften Handlungen gibt es eine Hierarchie. Hier steht die Vernunft ganz oben – weil sie dem Menschen das Angemessenste ist, weil einzig der Mensch Vernunft hat.

Wunderbare Vernunft. Was heißt Vernunft nun konkret? Die Tätigkeit der Vernunft, verstanden auch als menschliche Sinnerfüllung, besteht im Erkennen und Verstehen der Welt und in einem Leben, das der Weisheit folgt. Dieses Erkennen und Verstehen ist z.B. eine sehr genussreiche Tätigkeit.

Nun ist aber unter allen tugendgemäßen Tätigkeiten die der Weisheit zugewandte eingestandenermaßen die genußreichste. Und in der Tat bietet die Philosophie Genüsse von wunderbarer Reinheit und Beständigkeit. (Aristoteles 1986, 295f.)

Weiter begeistert sich Aristoteles für mehrere günstige Eigenschaften der Vernunft (Aristoteles 1986, 296f.): Zum Betrachten, Erkennen und Nachdenken braucht man nur sich selbst – und keine weiteren Gegenstände oder Umstände, welche unsere Hobbys oft so teuer machen. Und, noch ein Argument, mit der Muße ist eigentlich nur die Tätigkeit der Vernunft vereinbar. Das Theoretisieren, das Nachdenken, die Betrachtung von Weisheiten, es stört die Muße nicht, ist sogar förderlich für diese – anders als Krieg zu führen, den Staat zu lenken, anders als Streben nach Ehre und Macht. Letztere Tätigkeiten schließen die Muße aus. Ein letzter Vorteil der Vernunft: Man kann sie völlig ermüdungsfrei ausüben, das Denken geht von selbst immer weiter. Zugegeben, die Vernunft hat einige prinzipielle Vorteile, doch ist sie deshalb gleichbedeutend mit Glückseligkeit? Zwar können wir nachvollziehen, wie Aristoteles dies ungefähr meint, aber wenn wir nicht ohnehin schon seiner Meinung waren, wird uns diese Ableitung aus der Definition des Menschen als vernünftiges Lebewesen, dass nämlich die Eudaimonia in der Vernunft liegt, nicht ohne weiteres überzeugen. Doch es gibt noch einen anderen Weg, uns und unsere Schüler:innen von den Vorzügen der Vernunft zu überzeugen.

Schritt drei: Eudaimonia ist Leben gemäß der Vernunft – gemäß der Unabhängigkeitskompetenz. Vernunft bedeutet frei zu werden von dem, was normalerweise unser Leben bestimmt. Ruhm und Ehre, Vergnügungen und Zeitvertreib, Anerkennung und Bewunderung und vieles mehr: In unserem Alltag jagen wir vielen Zielen hinterher und sind Spielball unserer Bedürfnisse. Immer haben wir Angst, zu kurz zu kommen und schauen ängstlich auf die anderen. Aristoteles möchte uns zeigen, worauf es wirklich ankommt. Und dies ist nichts Übliches, also gerade nicht Ruhm, Ansehen usw. Alle normalen Lebensziele werden eingeklammert und sind nicht mehr wichtig. Es geht um eine Art Verwesentlichung des Lebens, die vor allem in einer großen Souveränität und Freiheit gegenüber unseren mächtigen Bedürfnissen besteht. So müssen wir uns das freie, vernunftgeleitete Leben vorstellen, Aristoteles’ Ideal.

Vernunft ist nicht normal. Noch einmal in aller Deutlichkeit: Indem die üblichen und alltäglichen Zwecke unseres Lebens eingeklammert werden, wird jenes, worauf es für Aristoteles in unserem Leben eigentlich ankommt, gerade jenseits von dem gesucht, was für uns zunächst normal ist. Man kann also sagen, Aristoteles verabschiede Normalität – und bestimme stattdessen das richtige Leben anders: Wir sollen uns eine neue Normalität schaffen und diese ist das Leben, das sich von der Vernunft leiten lässt.

Vernunft bedeutet Unabhängigkeitskompetenz. Waren die Vorteile des theoretischen, des betrachtenden Lebens bisher vielleicht nur für Menschen überzeugend, welche selbst in diese Richtung veranlagt sind, kommt mit der Frage der Lebensform eine so grundsätzliche Ebene ins Spiel, dass Aristoteles’ Argumente immer überzeugender werden:

Die Mehrzahl der Leute und die rohesten wählen die Lust. Darum schätzen sie auch das Leben des Genusses. […] Die große Menge erweist sich als völlig sklavenartig, da sie das Leben des Viehs vorzieht […] Die gebildeten und energischen Menschen wählen die Ehre. Denn dies kann man als das Ziel des politischen Lebens bezeichnen. Aber es scheint doch oberflächlicher zu sein als das, was wir suchen. [Denn man scheint] die Ehre zu suchen, um sich selbst zu überzeugen, daß man gut sei. […] Die dritte Lebensform ist die betrachtende [θεωρητικός, die theoretische]. (Aristoteles 1986, 59f.)

Sein Leben dem Genuss zu widmen, das bedeutet für Aristoteles, zu leben wie das Vieh, bzw. sich freiwillig zum Sklaven der eigenen Leidenschaft und Begierde zu machen. Die Mutigen und Energischen, so Aristoteles, wählen ein anderes Leben, nämlich ein solches, das ihnen Ruhm und Ehre einbringt, wir würden vielleicht sagen: viel Anerkennung und höchstes soziales Prestige. Doch Aristoteles ist überzeugt: Dies kann noch nicht das letzte Wort sein, noch nicht die gesuchte höchste Lebensform. Denn beim Streben nach Ruhm und Ehre sind wir nicht wirklich frei, vielmehr verhalten wir uns so, dass wir möglichst viel Erfolg haben und eine möglichst große Anerkennung bekommen. Mitunter verhalten wir uns wie außengesteuert, ja wie ferngelenkt. Denn wir sind abhängig von der Anerkennung durch die anderen. Erst die durch Vernunft geprägte Lebensform bringt uns, so Aristoteles, die eigentliche innere Freiheit. Es ist normal, von seinen Leidenschaften und vom Wunsch nach Anerkennung und Bewunderung beherrscht zu werden. Doch Aristoteles plädiert dafür, neu zu definieren, was normal heißen sollte. Vernunft ist die möglichst große Freiheit und Unabhängigkeit von jenen Bedürfnissen, deren Spielball wir üblicherweise sind. Vernunft ist eine neue, befreite Normalität.

Aristoteles als Kollege an Ihrer Schule. Übertragen wir dies auf die Schule, dann lautete Aristoteles’ Empfehlung: Sie sollen die Unabhängigkeitskompetenz Ihrer Schüler:innen stärken. Diese sollen lernen, frei zu werden von der Jagd nach dem Vergnügen, auch von der Sucht nach Anerkennung und Erfolg. Und Sie als Lehrkräfte sollen ihnen diese Freuden der Unabhängigkeit nahebringen. Ein Beispiel, das Sie alle kennen: Wie schaffe ich es, meinen ‚inneren Schweinehund‘ zu überwinden und angestrengt zu trainieren oder endlich eine neue Sprache zu lernen oder etwas anzugehen, das ich schon lang angehen will? Indem ich mich dazu entschließe und es einfach mache. Dies zu erleben heißt, sozusagen auf elementarer Ebene zu erleben, dass ich mich durch das, was ich frei entscheide, gegen alle anderen Antriebe selbst bestimmen kann. Diese Erfahrung einer Unabhängigkeitskompetenz kennen Ihre Schüler:innen. Und dies gilt auch auf komplexerer Ebene. Falls ich nach langer Überlegung zu dem Schluss komme, meine Ernährung umzustellen oder meinen Lebensstil zu ändern, dann ist es möglich, dies auch wirklich zu tun. Und auf wieder anderer Ebene kann ich versuchen, die Dinge zu verstehen und zu erklären, wie sie wirklich sind, und durch vernünftiges Nachdenken über vernünftige Argumente selbst zu urteilen – wodurch wir wieder auf das Ideal des Selbstdenkens stoßen, siehe Kapitel 1 – nicht verzerrt durch Ideologien, die mir eine falsche Sicherheit geben. All das sind Erfahrungen der Vernunft als Unabhängigkeitskompetenz.

In der Nikomachischen Ethik führt Aristoteles vor, wie wir zum höchsten Ziel menschlicher Existenz (Eudaimonia, Glückseligkeit) nur gelangen, wenn wir die Vernunft in uns ganz stark werden lassen. Das Ideal ist ein selbstständiges und freies, durch Vernunft gesteuertes Leben.

Bildungsphilosophie für den Unterricht

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