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1.4 Selbstdenken, Wahrheitssuche und Argumentieren

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Selbstdenken ist mehr als eine private Ansicht zu äußern. Ihre Schüler:innen sollen lernen, ihre eigene Meinung durch Gründe zu stützen und für andere nachvollziehbar zu machen. Sie sollen lernen, mit Kritik und mit Gegenargumenten umzugehen. Sie sollen auch lernen, den Zwang des besseren Arguments anzuerkennen. Sie sollen lernen, was es heißt, gemeinsam nach der Lösung eines Problems oder gar nach dem besten Modell der Wirklichkeit, ja, nach der Wahrheit zu suchen.

Regeln des Argumentierens einerseits. Geht es hier nicht einfach um bestimmte Regeln des Argumentierens, die erlernt werden sollen? Das richtige Argumentieren scheint einfach eine formale Fähigkeit zu sein (Schleichert 2004): So darf man sich in seiner Argumentation zum Beispiel nicht widersprechen, man muss stringent und folgerichtig seine Gedanken entwickeln und weitere Regeln beachten, um eine gewisse Fairness der Diskussion zu gewährleisten. Oder man soll mit seinen Argumenten nicht persönlich werden und die sogenannten Argumente ad hominem vermeiden, also Argumente, die auf die Person selbst zielen und diese etwa in ihrer Glaubwürdigkeit angreifen, statt sich auf die Sache zu beziehen, die sie mit Argumenten vertritt (Schleichert 2004, 43ff.).

Ethos des Argumentierens andererseits. Doch beim Bildungsziel Selbstdenken und Ethos der Wahrheitssuche geht es um mehr als um Argumentationsregeln. Denn im Fokus steht nicht einfach ein erfolgreiches Argumentieren, sondern ein Wert, ein Ethos, eine moralische Gesinnung. Genauer gesagt geht es um die Unterscheidung zwischen einem Argumentieren, das der Wahrheitssuche dient und einem ganz anderen Argumentieren, das der möglichst effektiven Durchsetzung bestimmter Interessen dient. Letzteres können wir vom Ethos der Wahrheitssuche dadurch unterscheiden, dass wir es als instrumentelles, also als zweckgerichtetes Argumentieren bezeichnen.

Wahrheit versus Interesse. Was genau unterscheidet die Wahrheitssuche mit der Tugend der intellektuellen Rechtschaffenheit (Weber) einerseits (und für diese wollen Sie Ihre Schüler:innen begeistern) und andererseits das zweckgerichtete Argumentieren? Hier stoßen wir wieder auf die moderne Einsicht ins Nichtwissen. Nichtwissen im prinzipiellen Sinn behandelt das Kapitel 4 (Kant: Erkenntnistheorie). Hier ist mit Nichtwissen dagegen gemeint: Eine Generation kann nicht für die nächste entscheiden (s.o.; Kant: Was ist Aufklärung?). Während wir bei der intellektuell redlichen Wahrheitssuche die Wahrheit noch nicht kennen, sondern sie in der Auseinandersetzung mit anderen suchen und ihr näher kommen wollen, scheint in der instrumentellen Vernunft die ‚Wahrheit‘ schon bekannt zu sein und soll nun von ihren Vertreter:innen argumentativ durchgesetzt werden. Oft ist diese ‚Wahrheit‘ eine Art Interesse. Beim Ethos der Wahrheitssuche, die gewissermaßen stets ‚auf dem Weg‘ ist, sagen wir sinngemäß: Dies ist mein Argument, ich habe versucht, es sehr stark und überzeugend zu machen. Aber vielleicht habt Ihr ein besseres Argument, das mich überzeugen könnte? Dann werde ich es akzeptieren. Im Rahmen des zweckgerichteten Argumentierens dagegen bedienen wir uns einer ganz anderen Argumentation und Kommunikation, man kann sie persuasive (überredende) Kommunikation nennen. Hier versuchen wir, unser Gegenüber von einer ‚Wahrheit‘ zu überzeugen, die für uns schon feststeht. Wir sind nicht mehr offen, weil wir von einem vermeintlichen Wissen ausgehen und nicht, wie bei der Wahrheitssuche, vom Nichtwissen.

Persuasives Argumentieren. Persuasiv kommunizieren wir zum Beispiel, wenn wir etwas verkaufen wollen, sogar, wenn wir uns selbst sozusagen ‚verkaufen‘ wollen, etwa wenn wir flirten (Schönbach 2019). Auch wenn wir zum Beispiel ein Team führen müssen, werden wir eher persuasiv kommunizieren und argumentieren und meist im Dienste bestimmter Interessen sprechen (Schönbach 2019). Diese Interessen und Ziele können durchaus legitim sein. Entscheidend ist, dass wir, anders als beim Ethos der Wahrheitssuche, in der persuasiven Argumentation schon am Ziel sind. Zuerst steht fest, was richtig ist, zuerst ist klar, dass wir bestimmte Interessen durchsetzen möchten. Dann suchen wir die richtigen Argumente dazu und versuchen, die anderen von unserem Standpunkt, also von unserem Ziel, unserem Interesse, zu überzeugen.

Was soll die Jugend lernen? Beim Ethos der Wahrheitssuche dagegen sind wir keinem Interesse verpflichtet, sondern allein der Wahrheit, konkret der bestmöglichen Antwort auf eine offene Frage. Selbst wenn diese Antwort für uns unbequem sein sollte und unseren Interessen im Extremfall sogar zuwiderläuft: Das Argumentieren wird nicht in den Dienst von Interessen, sondern in den Dienst eines Zwangs des besseren Arguments gestellt, in den Dienst der bestmöglichen Lösung. Schauen Sie von hieraus wieder zurück auf die Fragen Ihrer Schüler:innen. Jetzt können Sie genauer sagen, was es ist, dass die junge Generation lernen soll. Zunächst: Es geht nicht einfach um die Abfrage privater Meinungen, sondern um das Argumentieren und Begründen. Die junge Generation soll das Selbstdenken und das Argumentieren nicht im Sinne der geschickten Durchsetzung eigener Interessen lernen. Sondern es kommt darauf an, dass sie eingeführt wird in das Ethos der Wahrheitssuche. Dass sie lernt, im Dienste von Lösungen zu argumentieren, welche es nicht schon gibt.

Kulturelle Werte. Über dem Kapitel Einführung steht das Zitat von Häuptling Seattle. Er spüre nicht, so der Indianerhäuptling, was der weiße Mann seinen Kindern an langen Winterabenden erzähle. Das Ethos der Wahrheitssuche und das Selbstdenken sind Werte – und Beispiele für solche Erzählungen.

Argumentieren im Dienste der Wahrheitssuche kennt die Wahrheit noch nicht und unterwirft sich dem Zwang des besseren Arguments. Persuasives Argumentieren kennt die ‚Wahrheit‘ bereits (meist: eigene Interessen) und sucht nach dazu passenden Argumenten so lange, bis die anderen ‚überzeugt‘ sind.

Ihre Antwort auf die Frage Ihrer Schüler:innen:

Weshalb soll ich lernen, selbst zu urteilen und zu denken? Steht nicht schon fest, was richtig und was falsch ist? So könnten Sie antworten:

 Unsere Generation kann für Eure nicht einfach alles entscheiden. Wir können Euch aber das Selbstdenken und Argumentieren beibringen.

 Das ist nötig, weil die besten Lösungen für neue Probleme nur im Austausch der besten Argumente gefunden werden können. Dazu ist auch Pluralität wichtig, dass es also eine Art ‚Pool‘ verschiedener Ansichten gibt.

 Irgendwann, wenn wir Lehrkräfte alt geworden sind, müssen wir mit einem guten Gefühl ‚den Staffelstab übergeben‘ können an Euch.

 Selbstdenken und Selbstbestimmung ist für unsere Kultur der Moderne auch ein Wert an sich, ja, Euer Menschenrecht.

 Begründen und Argumentieren bedeutet mehr als andere zu überreden. Es glaubt nicht, die Wahrheit schon zu besitzen, sondern folgt dem Ethos der gemeinsamen Wahrheitssuche.

Bildungsphilosophie für den Unterricht

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