Читать книгу Obsession - Piedro Vargas Koana - Страница 12
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Ich fühle mich gehetzt. Eine große Spannung droht mich zu zerreißen. Ich verfolge sie, und sie kann mir jetzt entkommen. Deshalb versuche ich schneller zu laufen, damit sie nicht absagen kann. Ängstlich öffne ich jeden Tag den Briefkasten. Wenn sie schreibt, dann wird es auf alle Fälle negativ sein. Also muss ich nachlegen, bevor sie meinem Vorhaben Einhalt gebietet.
Liebe Anja,
kennst du das Gefühl, dass du einen Gedanken hast, der dir in einem bestimmten Moment sehr wichtig ist? du hast den Eindruck, etwas sehr Bedeutendes gefunden zu haben. Der Gedanke wirkt groß und stark. Um ihn nicht zu verlieren, schreibst du dir ein Stichwort auf. Einige Tage später erinnerst du dich daran. Du kennst den Gedanken noch und schaust nach dem Stichwort, stellst aber fest, dass auf dem Zettel auch nicht mehr steht als du noch weißt. Und beim Nachdenken über diesen Gedanken spürst du, dass er irgendwie flüchtig geworden ist. Du hast immer noch eine Ahnung über die vorher gespürte Größe; aber er scheint nicht mehr so deutlich zu sein, du kannst ihn nicht mehr so richtig (be)greifen.
Mit passierte dies vor wenigen Tagen. Der Gedanke lautete, dass ich es für mich als extrem spannend empfinde, an der Grenze meiner persönlichen Erkenntnis zu weilen. Das ist ein Gefühl, als ob ich vor einem großen Abgrund stünde. Einerseits ist mir schwindelig, andererseits geht davon eine süße Kraft aus; denn ich sehe etwas in diesem Abgrund und in diesem einen Augenblick auch mit ungeheurer Klarheit. Und ich vermute, dass hinter diesem großen schwarzen Loch eine andere Welt sein könnte, von der eine große Faszination ausgeht. Gleichwohl weiß ich, dass ich jedenfalls jetzt nicht über diese Tiefe hinweggehen kann. Vielleicht nie. Vielleicht verschiebt sich aber beim nächsten Mal das Bild. Vielleicht sehe ich wieder etwas Neues. Dennoch vermittelt dieser Eindruck ein wunderschönes Gefühl - ein Gefühl sowohl von Traurigkeit und Unerreichbarkeit, als auch von Stärke und Kraft.
Diese Gefühle empfinde ich . Trotz des aufgeschriebenen Stichworts weiß ich allerdings kaum noch etwas über die Inhalte des Gesehenen. Wie gesagt, es hat etwas mit der aktuellen Grenze meines Wissens und Erkennens zu tun. Indem ich diesen Brief schreibe (der diesmal sehr autobiographisch ist), versuche ich, die Inhalte wieder hervorzulocken. Der Gedanke betraf das Leben, den Sinn des Lebens, den Ablauf des Lebens in zyklischen Strukturen, die Abfolge von Hochs und Tiefs, das Verständnis für das Handeln des Menschen, die Anwendung dieser allgemeinen Erkenntnisse auf mein persönliches Handeln, die Integration von Kopf (Verstand) und Selbst...
Von Paul Watzlawick stammt der wichtige Satz (die Weisheit?), dass die Erkenntnis der eigenen Unkenntnis wahrscheinlich (!) die Grundlage für die Toleranz darstelle. Ich finde diesen Gedanken faszinierend. Er bestimmt seit langem schon mein Handeln.
Ich glaube, dass ich fast jeden Mensch mit diesem Brief überfordere - verstehe ich den Inhalt doch selbst kaum. Vielleicht besteht aber einmal die Gelegenheit, sich darüber auszutauschen - es müsste wieder ein so kreativ offen meditativer Moment sein, in dem Zusammenhänge sich langsam finden, die sonst verborgen bleiben.