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Geschichte: ein Leben (be)schreiben

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Kommen wir zur zweiten Form der Annäherung, der Geschichte. Die Haltung von Historikern zum Nutzen einer „Biografie“ hat selbst bereits eine Geschichte.20 Die Romantik und die positivistische Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts im Allgemeinen begeisterten sich für Biografien, nicht nur, weil sie für ein breites Publikum interessant waren, dem Nationalstolz schmeichelten und Stellung und Rolle des Historikers untermauerten, sondern auch aufgrund der Art, die Vergangenheit zu konstruieren, auszumalen und den Lauf der Zeit in Regierungszeiten und aufeinanderfolgende Reiche zu unterteilen. Eine bedeutende Person verkörperte eine ganze Epoche, ein Jahrhundert und seinen Geist: Ihr Leben mit seinen Höhen und Tiefen stand stellvertretend für das ihrer Zeitgenossen und spiegelte die kollektiven Vorgänge, die diese Person durch ihr Handeln ihrerseits mitgestaltete. Für das Mittelalter standen in diesem Sinne unter anderem Karl der Große, Ludwig der Heilige, Jeanne d’Arc und Friedrich II.

Aus eben diesen Gründen kritisierte die neue historiografische und erkenntnistheoretische Strömung, in Frankreich unter anderem vertreten durch die Annales-Schule, das Genre der Biografie als zu eng, zu emotional, zu personalisiert.21 Nach der Abkehr von den großen systemischen Ideologien des 20. Jahrhunderts, der Rückbesinnung auf Subjekt und Akteur und eine dichte, nah am Gegenstand bleibende Schilderung durch die fachübergreifende Zusammenarbeit insbesondere mit Kunst und Literatur, den Aufbau von Spannungsbögen und schließlich das, was man Mikrogeschichte nennen könnte, gesteht man dem Genre der Biografie seit einigen Jahrzehnten wieder eine Deutungsfähigkeit zu, die man ihm eine Zeit lang abgesprochen hatte. Nun jedoch aufgrund seines hybriden, transversalen und experimentellen Charakters, der sich nicht auf den Triumph des Willens einer überragenden Persönlichkeit über den Lauf der Ereignisse beschränkt.22

Das ist das Anliegen des vorliegenden Bandes: Es geht weder (nur) darum, das Privatleben eines Königs aufzudecken, noch ein umfassendes Bild seiner Regierungszeit zu zeichnen, erst recht nicht um die Wiederherstellung einstigen Ruhms. Man möchte vielmehr diese Einzelperson quasi zum Beobachtungsposten erklären und mit ihrer Hilfe einen Zeitausschnitt ausleuchten.23 Als Jacques Le Goff 1996 seine Biografie Ludwigs des Heiligen in Angriff nahm, definierte er mehrere methologische Prämissen für eine solche Lebensgeschichte: Die betreffende Person muss dokumentarisch hinreichend belegt sein, sei es von eigener Hand oder durch andere, damit man von ihr ausgehend weiterreichende Fragen diskutieren kann; sie muss im kollektiven Gedächtnis Spuren hinterlassen haben, die bis heute relevant sind; die oder der Historiker*in muss das Wechselspiel zwischen Individuum und Gesellschaft aufzeigen können; und er oder sie muss eine gewisse Sympathie für die biografierte Person verspüren.24 Le Goff strebte eine „Gesamtgeschichte“ Ludwigs des Heiligen an. Im Fall Karls IV. sind diese Prämissen erfüllt. Hinzu kommt eine Dimension, die bei Ludwig dem Heiligen fehlte, nämlich die der Autobiografie.25 Sie bestärkt den Eindruck, dass dieser Mann sich seiner Individualität bewusst war, oder zumindest dessen, was seine Zeit sich darunter vorzustellen vermochte.

Somit ist geklärt, welche Ziele die nachstehende Biografie verfolgt und welche Vorbehalte zunächst ausgeräumt werden mussten. Bleibt noch zu gestehen, dass sie zweifellos zu wenig tschechisch ist, weil ihr Autor diese Sprache nicht beherrscht.26 Stattdessen kommt Karl IV. in diesem Fall (hoffentlich) französischer und deutscher, ja sogar möglichst europäisch daher, und zwar nicht aus politischer Korrektheit und Konvention, sondern zum einen aus der Überzeugung heraus, dass dieser Monarch, der fünf Sprachen in Wort und Schrift beherrschte, zu seiner Zeit ein Herzogtum, mehrere Markgrafentümer, vier Königreiche und ein Kaiserreich zu einem Gebiet verschmolz, in dem zehn bis zwanzig Sprachen oder Dialekte gesprochen wurden, das sich über vier Klimazonen mit warmen und kalten Meeresküsten, Gebirgen, Ebenen, Strömen und Fernstraßen erstreckte, auf eine Weise regierte und Unvereinbares zusammenzuhalten verstand, die bis heute zum Nachdenken anregt. Der zweite Aspekt ist die Gewissheit, dass die Pluralität der Blickwinkel auf Karl IV. in seiner französischen, italienischen, deutschen, tschechischen und Luxemburger Gestalt beileibe kein Hindernis, sondern Voraussetzung dafür ist, ihn zu verstehen. Was auch beinhaltet, dass der Rückzug auf einen engen, nationalen Blickwinkel fatal und wissenschaftlich unangebracht wäre.

Auch auf die Gefahr hin, gelegentlich zu verwirren, hält sich dieser Band deshalb nicht immer an den traditionellen Lebenslauf von der Jugend bis zum Tod, sondern wechselt immer wieder die Perspektive und verlässt die Chronologie, um nicht nur einen, sondern mehrere Karl IV. zu entdecken. Sein Leben entfaltet sich in drei Akten wie in drei Daseinszuständen eines dem Herrschen geweihten Lebens, drei Zeitstufen und damit drei Atemzügen der Geschichtsschreibung. Im ersten Akt – Erobern – konstituieren sich die Gestalten eines Fürsten, Königs und später Kaisers. Im zweiten – Herrschen – geht es um die ungewöhnlichen neue Wege des Königtums. Im Mittelpunkt des letzten Akts schließlich stehen Porträts, Reliquien, Schriften und Gedenken. Von diesen drei Ansätzen, in denen sich Ereignisse und Strukturen vermischen, erscheint uns keiner wahrhaftiger oder legitimer als die anderen. Jeder davon hilft uns zu klären, was in jener Epoche möglich und unmöglich war, welche Entscheidungen Karl IV. mit Blick auf seine diversen Kronen traf oder vermied und welche Vorbehalte er hegte, um die Verflechtungen und Widersprüche einer Geschichte zu entwirren, die zur Erinnerung geworden ist.

Karl IV.

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