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Das 14. Jahrhundert

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Das 14. Jahrhundert – soweit diese Einteilung Historiker noch überzeugt6 – hat einen schlechten Ruf. Das Zentennium zwischen dem glänzenden 13. Jahrhundert mit seinen aufblühenden Städten und seinem demografischen und wirtschaftlichen Wachstum, und dem 15., das bereits einen Vorgeschmack auf die Neuzeit gab, ist gleichbedeutend mit Seuchen, Hungersnöten und Kriegen.7 Es wirkt wie der Inbegriff all der Ängste, die sich in einer uralten Litanei widerspiegeln: „Herr, erlöse uns von der Pest, vom Hunger und vom Krieg.“ Nicht genug, dass ab 1318 erste Missernten die Kleine Eiszeit ankündigten, zwischen den beiden größten Königreichen des Abendlands – Frankreich und England – Krieg ausbrach, der gesamte Alpenraum im Januar 1348 von einem bis Venedig spürbaren Erdbeben erschüttert wurde, 1338 und 1346 Schwärme von Heuschrecken über Europa herfielen, die Pest ab 1347 innerhalb weniger Jahre 30 bis 40 Prozent der Bevölkerung dahinraffte und blutige Pogrome in Hunderten jüdischer Gemeinden auslöste und eine Währungskrise eintrat, zerriss 1378 zu allem Überfluss das Abendländische Schisma die Christenheit. Ein Jahrzehnt lang erschütterten immer wieder Aufstände die großen Städte, und schließlich drangen die Türken nach ihrem Sieg in der Schlacht bei Nikopolis 1396 in das christliche Europa vor.8 Dieses von Todeshauch durchwehte Zeitalter, ferner Spiegel9 unserer eigenen Ängste, inspirierte Historiker seit der Renaissance zu gewaltigen, düsteren Tableaus von verblüffender Aktualität in ihrer Voraussage, das Anthropozän werde zunehmend durch Wirren geprägt sein. Und dennoch schrieb Johan Huizinga in Herbst des Mittelalters 1919 – bezeichnenderweise unmittelbar nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs –, diese Epoche habe den „Geruch von Blut und Rosen in einem Atemzug“ ertragen.10 Nicht zuletzt war das 14. Jahrhundert auch die Epoche, in der Karl V., genannt der Weise, seine Bibliothek gründete, Petrarca und Dante, Froissart und Christine de Pizan schrieben, die Fresken der Guten und der Schlechten Regierung in Siena entstanden11 und Jean de Mandeville von seiner Reise ins Heilige Land berichtete, der Papstpalast in Avignon gebaut, in Brügge die erste Börse gegründet wurde und Venedig sich als wirtschaftliche Weltmacht etablierte.

Und es ist auch das Jahrhundert Karls IV., inmitten einer umfassenden Verschiebung oder eher noch Neuausrichtung der Machtverhältnisse zwischen West und Ost in Europa. Karl IV. ist Zeuge und zugleich Akteur dieses Wandels, der vielleicht erst dazu führte, dass dieser Teil des Kontinents sich als Europa zu verstehen beginnt.12 Die bedeutendsten Messen finden nun nicht mehr in der Champagne statt, sondern in Flandern, in den Städten am Rhein, in Frankfurt und in Leipzig; Silber aus den Minen in Kuttenberg, Freiberg und Iglau überschwemmt die Münzprägestätten in ganz Europa; die Nürnberger Hütten verarbeiten Luppen aus Rennöfen in der Oberpfalz, im Bayerischen Wald, Niederösterreich und dem Erzgebirge zu Eisenwaren für das ganze Abendland; Süddeutschland orientiert sich an den dynamischen Innovationen Norditaliens; die Hanse erhält 1358 eine konkrete Struktur und dominiert den Handelsaustauch zwischen England und Russland; in Preußen und östlich davon weitet der Deutschherrenorden sein Territorium aus und bekehrt die letzten „Heiden“ des Kontinents; in Polen, Böhmen und Ungarn schließlich entstehen neue Metropolen, werden neue Kathedralen errichtet und neue Universitäten gegründet.

Die Versuchung, einen einzelnen Mann, und sei er noch so herausragend, lediglich als Aufhänger für die Schilderung eines von Krisen geschüttelten Zeitalters zu benutzen, war groß. Doch nicht weniger gering war die Gefahr, nichts als die spannende Lebensbeschreibung eines Königs von der Wiege bis zum Grab zu präsentieren. Für beides hätte es eine solide Grundlage gegeben. Doch erst in der Schnittmenge beider Perspektiven lässt sich einerseits Karl IV. als Individuum anschaulich darstellen und andererseits der methodische Ansatz auf den Prüfstand heben. In der Tat geht es in diesem Buch weniger um die Lebensumstände eines einzelnen Mannes als vielmehr um Fragen, die eine Betrachtung der Epoche, in der er lebte, im Licht seiner Überlegungen und Bedenken aufwirft. Aus den von ihm eingeführten Neuerungen – das Regieren durch Wort und Bild, die Verwaltung einer Vielfalt von Territorien und Kulturen, die Umstrukturierung seines Reiches, die Annäherung der Randbereiche an die Mitte, die Anbindung von Ost- und Westeuropa oder die Begründung einer Tradition – ergab sich für die Zeitgenossen Karls IV. ein Problem, das auch heutige Historiker beschäftigt und dessen sich der Kaiser zweifellos mehr als jeder andere bewusst war: die Frage nach dem Individuum und seinem Aufstieg zum Herrscher. In diesem Fall das Problem der Definition und Darstellung der Person des Königs, die, allen Porträts, Unterschriften, Siegeln und seiner Autobiografie nach zu urteilen, im 14. Jahrhundert trotz – höchstwahrscheinlich sogar aufgrund ‒ aller Wirren eine neue Dimension erhielt.13 Insofern geht es in dieser biografischen Annäherung unter anderem um eine Form der Selbstfindung.

Doch ist ein solcher Ansatz angesichts einer mittlerweile offenbar global ausgerichteten Geschichtswissenschaft, die ihren Blick auf die ganze Welt und alle Jahrtausende erweitert, überhaupt noch zeitgemäß? Diese Frage legt zwei Arten der Annäherung nahe: über die Erinnerung und über die Geschichte. Beide sind untrennbar und dennoch grundverschieden, und gerade ihre Verknüpfung ist für Historiker von Interesse.

Karl IV.

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