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Auf dem Höhepunkt kaiserlicher Macht? Die Goldene Bulle

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In Goethes Lebenserinnerungen Dichtung und Wahrheit kommt die Goldene Bulle von 1356 gleich mehrmals vor. Mit seiner Heimatstadt Frankfurt am Main ist sie eng verknüpft, denn die römisch-deutschen Könige wurden dort gewählt und vom 16. Jahrhundert bis 1806 zum König und später direkt zum Kaiser gekrönt. Die erste Erwähnung der Bulle bei Goethe findet sich in der Schilderung der Besuche, die er als junger Mann dem Kaiserdom St. Bartholomäus abstattete, wo bis heute die Wahlkapelle zu besichtigen ist: „[…] Wir fanden diesen in der deutschen Geschichte so merkwürdigen Raum, wo die mächtigsten Fürsten sich zu einer Handlung von solcher Wichtigkeit zu versammeln pflegten, keinesweges würdig ausgeziert, sondern noch obenein mit Balken, Stangen, Gerüsten und anderem solchen Gesperr, das man beiseitesetzen wollte, verunstaltet. Desto mehr ward unsere Einbildungskraft angeregt und das Herz uns erhoben, als wir kurz nachher die Erlaubnis erhielten, beim Vorzeigen der Goldnen Bulle an einige vornehme Fremden auf dem Rathause gegenwärtig zu sein.“1 Mit geradezu mittelalterlichem Blick interessiert sich Goethe mehr für die Rituale als für den nur wenige Quadratmeter großen Schauplatz mit den zwei oder drei Bänken, wo die Königswahl ab 1356 offiziell stattfand. Rund hundert Seiten weiter berichtet er uns: „Ich hatte von Kindheit auf die wunderliche Gewohnheit, immer die Anfänge der Bücher und Abteilungen eines Werks auswendig zu lernen, zuerst der fünf Bücher Mosis, sodann der ‚Äneide‘ und der ‚Metamorphosen‘. So machte ich es nun auch mit der Goldenen Bulle, und reizte meinen Gönner2 oft zum Lächeln, wenn ich ganz ernsthaft unversehens ausrief: ‚Omne regnum in se divisum desolabitur: nam principes ejus facti sunt socii furum.‘ [Jedes Reich, das in sich selbst zerspalten ist, wird veröden, denn seine Fürsten sind Gefährten der Diebe geworden.] Der kluge Mann schüttelte lächelnd den Kopf und sagte bedenklich: ‚Was müssen das für Zeiten gewesen sein, in welchen der Kaiser auf einer großen Reichsversammlung seinen Fürsten dergleichen Worte ins Gesicht publizieren ließ.‘“3 Auch diese eine eher mittelalterliche als moderne Sichtweise: Schon das Incipit bestimmt Tenor und Anspruch der Urkunde.

Noch vier Jahrhunderte später spürte der Dichterfürst, dass der Verfasser Würde und Zweck der auf den beiden Reichstagen in Nürnberg im Januar und in Metz im Dezember 1356 verabschiedeten Bestimmungen, als so außerordentlich empfunden hatte, dass er sie in einem Prolog hervorheben wollte. Dieses Proömium macht aus der Bulle eine Quelle des Lichts, der Eintracht, der Einheit, zu gleichen Teilen getragen vom Kaiser und den designierten Kurfürsten. Deren Zahl hat Symbolcharakter, etwa wenn die Bulle die Fürsten „sieben strahlende Leuchter“ nennt. Von der Urkunde selbst über den majestätischen Rahmen bis hin zum Verkündungsdatum war alles dazu angetan, Karl IV. als Gesetzgeber in Erscheinung treten zu lassen, der den Vergleich mit erlauchten Vorgängern wie Alfons X. dem Weisen, Ludwig dem Heiligen oder Friedrich II. nicht zu scheuen brauchte. Dieses „Image“ gefiel dem Kaiser; bereits im zweiten Kapitel seiner Vita definierte er den idealen König erstmals anhand von Psalm 99,4: „Die Würde des Königs strebt nach gerechtem Gericht.“4 Dieser Satz findet sich als Inschrift auf der König David geweihten Platte der achteckigen Reichskrone, mit der Karl IV. wenige Monate zuvor zum Kaiser gekrönt worden war. Bezeichnenderweise bildete die Bulle 1356 seine erste wichtige Amtshandlung seit seiner Salbung in Rom.5

Die 31 Bestimmungen der Urkunde, die am Weihnachtstag in Gegenwart der Reichsfürsten, von Boten der Reichsstädte, Äbten (darunter demjenigen von Cluny), des Kardinallegaten des Papstes, der Kaiserin „sowie Karls, des erstgeborenen Sohnes des Königs von Frankreich, erlauchten Herzogs der Normandie und Dauphins von Vienne“ in Metz feierlich verkündet wurden, nennt die Vorrede schlicht „Gesetze“, doch in die Geschichte des Heiligen Römischen Reiches sind sie als dessen bedeutendste „Verfassung“ eingegangen. Zugleich enthalten sie die langlebigste Nachfolgeregelung der europäischen Geschichte, die erst 1806 mit dem Untergang des alten Kaisertums, das sie erst mitbegründete, ihre Gültigkeit verlor.6 Zu Lebzeiten des Kaisers nannte man die Urkunde „Anordnung“, „kaiserliches Gesetz“ oder auch „Kodifizierung des kaiserlichen Rechts“. Der Name, unter dem sie uns heute bekannt ist – „Goldene Bulle“ –, tauchte ein erstes Mal in einer Abschrift des Diploms aus dem Umfeld des Trierer Erzbischofs Kuno von Falkenstein (1363-1388) auf und etablierte sich zu Beginn des 15. Jahrhunderts., nachdem Wenzel, der Sohn Karls IV., 1400 als römisch-deutscher König abgesetzt worden war. Wenzel hatte eine Prachthandschrift der väterlichen Urkunde in Auftrag gegeben, in der dem Prolog ein Satz vorangestellt wurde: „Hier beginnt die Goldene Bulle der Kaiserwahl.“7 Ein Jahrhundert später – 1519 – bezeichnete Karl V. die Urkunde als „wichtigstes Reichsgesetz“ und legte 1530 die Abläufe und Zusammenkünfte der Reichstage in einer weiteren Urkunde fest, der „Bulla Aurea Caroli Quinti“.

Diese Kanonisierung von Wortlaut und Gesetzeswerk ging mit einer bemerkenswert weiten Verbreitung des Textes einher: 173 Handschriften und Wiegendrucke sind allein aus dem 15. Jahrhundert bekannt, eingebunden in die unterschiedlichsten anderen Schriften. Dabei handelt es sich beileibe nicht nur um juristische Konvolute wie Privilegiensammlungen, Reichs- oder Stadtchroniken, Landfriedensbündnisse und Verträge gemäß kanonischem, konziliarem, Zivil- oder Gewohnheitsrecht. Auf die Goldene Bulle berufen sich auch die großen Abhandlungen über Reichsreformen, etwa das als Reformatio Sigismundi bekannte anonyme Traktat, das vermutlich 1439 beim Konzil von Basel verfasst und 1476 erstmals veröffentlicht wurde,8 die Concordia catholica von 1433/34 von Nikolaus von Kues9 oder das von Peter von Andlau 1460 verfasste Libellus de Cesarea monarchia.10 Interessanterweise ist über das gesamte 15. Jahrhundert hinweg eine Art Konstitutionalisierungsprozess zu beobachten, in dessen Zuge sich der Status der Bulle von 1356 von einem bloßen Privileg zugunsten der Kurfürsten zu einem „Grundgesetz“ des Heiligen Römischen Reiches weiterentwickelt.

In der Einladung zum Reichstag in Nürnberg war neben dem Wahlverfahren eine Reform des Landfriedens, der Wegzölle und des Münzwesens auf die Tagesordnung gesetzt worden.11 In den Augen Karls IV. war also die Königswahl so eng mit dem Frieden im Reich verknüpft, dass beide Aspekte zur selben Zeit geregelt werden sollten. Nichts deutet jedoch darauf hin, dass in dieser Frage definitive, weitreichende Entscheidungen gefallen wären, auch wenn die Abgesandten der Stadt Straßburg ihrem Stadtrat berichteten, dies sei geplant gewesen. Da es in Nürnberg keine Räumlichkeiten gab, die sich für derartige Verhandlungen geeignet oder auch nur genügend Platz für alle Stände und Fürsten geboten hätte, fanden eher informelle Erörterungen statt, Tag für Tag protokolliert unter der strengen Aufsicht des Kanzlers Johannes von Neumarkt, der vermutlich gemeinsam mit dem Kaiser und König den Prolog zur Bulle verfasste. An den Verhandlungen beteiligt waren im Wesentlichen die sieben Kurfürsten, die in der Urkunde namentlich genannt sind und denen der Kaiser noch vor den darin ausdrücklich genannten Privilegien separat zahlreiche weitere Vorrechte gewährt hatte. Es scheint, als habe Karl nach der Verabschiedung der 23 Kapitel, die Ablauf und Rituale der Königswahl festschreiben, und nach der Gewährung der Privilegien für die Fürstentümer der sieben Kurfürsten am 10. Januar 1356 in Nürnberg seine Pläne vorerst auf Eis gelegt.12 Dass dennoch ein zweiter Reichstag anberaumt wurde, hatte mit der Forderung der Kurfürsten nach einer weiteren Untermauerung ihrer Vorrechte und nach einer Präzisierung ihrer jeweiligen Ämter zu tun, aber auch mit der neuen Situation in Frankreich aufgrund der Geschehnisse im Herbst (Niederlage bei Poitiers, Gefangennahme des Königs, Zusammentreten der Generalstände) sowie der Ansprüche, die der spätere Karl V. von Frankreich auf die Dauphiné erhob.13 Die zweite Zusammenkunft wurde deutlich schneller anberaumt und besser vorbereitet, zumal die meisten Artikel schon vor Dezember in Abstimmung mit den Fürsten redigiert worden waren.

Bei der am 25. Dezember 1356 verabschiedeten, nun 31 Artikel umfassenden Bulle handelt es sich konkret um eine königlich-kaiserliche Urkunde, die von der Hofkanzlei erstellt und mit einem Goldsiegel versehen wurde, das ihre Echtheit und Erhabenheit bezeugt.14 Unter den Hunderten Urkunden, die von der Kaiserlichen Kanzlei erstellt und bulliert wurden, verkörpert allein dieses später „Goldene Bulle“ genannte Dokument eindeutig und unmissverständlich den berühmten Text von 1356.15 Das kostbare Siegel dokumentiert weithin sichtbar den Stellenwert, den Karl IV. ihm trotz des situationsgebunden unfertigen Charakters beimaß.16 Die Siegelfelder des beidseitig geprägten Goldsiegels sind mit sechs Zentimetern Durchmesser groß genug für detailreiche Bilddarstellungen. Auf dem Revers sieht man die Stadt Rom, auf dem Avers den thronenden Kaiser mit Krone, Zepter und Reichsapfel. Diese drei Reichsinsignien symbolisieren die Heiligkeit und Souveränität des Königs und erinnern an die Bestimmungen der Kapitel XXVI und XXVII darüber, in welcher Reihenfolge und von welchen Kurfürsten diese Gegenstände getragen, präsentiert und dem gewählten König überreicht werden sollen, nämlich von den drei geistlichen Kurfürsten, den Erzbischöfen von Trier, Köln und Mainz. Rechts vom Kaiser sieht man den Kaiserschild mit dem einköpfigen Adler, links von ihm den böhmischen Königsschild mit dem Löwen. Die Umschrift nennt die vollständige kaiserliche Titulatur: karolus quartus divina favente clemencia romanorum imperator semper augustus et boemie rex. Die beiden Wappen berühren die Armlehnen des Throns; er ist Darstellungen des biblischen Königs David nachempfunden, der auf einer der seitlichen Platten der Kaiserkrone abgebildet ist.17 Der Revers trägt in der Mitte die Aufschrift aurea roma und die Umschrift roma caput mundi regit orbis frena rotundi („Rom, das Haupt der Welt, lenkt die Zügel des Erdkreises“) rings um eine schematische Darstellung der Ewigen Stadt, wie sie sich bereits auf den Bullen Konrads II. (1024–1039) findet. Karl IV. greift hier eine Tradition wieder auf, mit der sein Vorgänger Ludwig IV. gebrochen hatte, damit sich die Romdarstellung auf seinen Bullen – vor allem nach Verhängung des Kirchenbanns 1328 – von denen auf päpstlichen Siegeln unterschied. Durch die Entlehnung seiner Vorlage bei Friedrich II. präsentierte Karl IV. sein Gesetzeswerk als unmittelbares Erbe der Staufer, insbesondere Friedrichs II. als Urheber überragender Gesetzessammlungen wie der Konstitutionen von Melfi, die er 1231 in seinem Königreich Sizilien erließ.


Das Goldsiegel: der thronende Kaiser auf dem Avers, der Revers zeigt die Stadt Rom.

Was besagen nun die 31 Artikel der Goldenen Bulle? Zunächst einmal legen sie fest, dass der Kaiser den Kurfürsten auf ihrem Weg durch das Reich nach Frankfurt freies Geleit zusichert, wo sie einen „römischen König und künftigen Kaiser“ wählen sollen. Sie versammeln sich in der Kirche des hl. Bartholomäus,18 der in karolingischer Zeit gegründeten kaiserlichen Stiftskirche, die im 14. Jahrhundert Hauptschauplatz des Kultes um den „Heiligen“ Karl den Großen war.19 Die Kurfürsten feiern eine Messe und schwören, den am besten geeigneten Kandidaten auf den Thron zu wählen. Danach schließen sie sich in der Seitenkapelle der Kirche ein und schreiten zur Wahl. Ist nach 30 Tagen keine Entscheidung gefallen, erhalten sie wie bei einer Papstwahl nur noch Wasser und Brot. Die Abstimmung erfolgt mit einfacher Mehrheit, wobei jeder Kurfürst sich zur Wahl stellen und sich auch selbst wählen darf. Der gewählte König muss den Kurfürsten, die als „gediegene Stützen und unerschütterliche Säulen des Reiches“ gelten, unverzüglich sämtliche „Privilegien, Urkunden, Rechte, Freiheiten, Bewilligungen, alten Gewohnheiten und auch Würden“, die sie bis zum Tag der Wahl innehatten, vor aller Ohren bestätigen und besiegeln.20 Es folgen präzise Vorgaben für die Sitzordnung und Reihenfolge der Kurfürsten bei Reichstagen, Festtafeln, Prozessionen und „feierlichen Aufzügen“. Eine Sonderstellung hat dabei „der König von Böhmen, weil er ein gekrönter und gesalbter Fürst ist.“21 Die weltlichen Kurfürsten – der König von Böhmen, der Herzog von Sachsen, der Markgraf von Brandenburg und der Pfalzgraf bei Rhein – kommen durch die Bulle in den Genuss der Erblichkeit und Unveräußerlichkeit ihres Stimmrechts und der gewährten Privilegien, die nach ihrem Tod auf ihren erstgeborenen Sohn übergehen. Alle Kurfürsten einschließlich der drei Erzbischöfe von Trier, Köln und Mainz erhalten „Gerechtsamen“ [Hoheitsrechte] in Bezug auf Bergwerke und die Prägung von Gold- und Silbermünzen sowie Gerichtsfreiheit vor jedem königlichen Gericht. Die sieben Kurfürsten, so die Bulle weiter, müssen einmal jährlich vier Wochen nach Ostern in einer Stadt ihrer Wahl einen Reichstag abhalten und dort Angelegenheiten ihrer Fürstentümer und des Reiches erörtern. Den Städten verbietet die Bulle die Aufnahme und Einbürgerung von „Pfahlbürgern“ [außerhalb der Stadt wohnenden Inhabern der Bürgerrechte] und die Beteiligung an Städtebünden.22 Die beiden letzten Artikel bekräftigen nochmals, dass „die feierliche Wahl des Römischen Königs und künftigen Kaisers in der Stadt Frankfurt, die erste Krönung in Aachen und [der erste Reichstag] in der Stadt Nürnberg“ stattfinden sollen. Angesichts der Vielfalt an Gesetzen, Gebräuchen, Lebensweisen und Sprachen in den verschiedenen Ländern des Heiligen Römischen Reiches sollen die Söhne der weltlichen Kurfürsten neben ihrer deutschen Muttersprache ab ihrem siebten Lebensjahr in der lateinischen, italienischen und slawischen [tschechischen] Sprache unterrichtet werden, „weil diese Sprachen in besonderem Maße im Heiligen Römischen Reiche benützt und benötigt werden und weil man in ihnen die schwierigsten Reichsgeschäfte erörtert“.

Weder Erblichkeit noch Approbation durch den Papst, sondern eine „deutsche“ Wahl also: Das ist die Essenz der Urkunde, die das Wahlprinzip mit dynastischem Denken verknüpft sowie die Anerkennung und erlauchte Würde der sieben Kurfürsten herausstreicht, denen in ihren eigenen Fürstentümern erhebliche Hoheitsrechte und -attribute zustehen. Ihre Abstimmung nach dem Mehrheitsprinzip, die „Kur“, genügt bereits, damit der König automatisch der künftige Kaiser ist, ohne dass eine päpstliche Bestätigung erforderlich wäre. Geschickt vermied es Karl IV. 1356, den gleichen Fehler zu machen wie sein Vorgänger Ludwig IV., der beim Reichstag in Frankfurt 1338 in dem Mandat Licet iuris dem Papst das Recht, die Königswahl durch eine Approbation zu bestätigen, ausdrücklich abgesprochen hatte.23 Karl wusste sehr genau, dass derartige Aussagen auf den Heiligen Vater wie ein rotes Tuch wirken und den alten Streit unter den beiden Universalmächten wieder aufflammen lassen würden. Schweigen war in dieser Situation genauso Gold wie das Siegel von Karls Bulle, die 1356 den Papst schlicht und einfach ausklammerte. Vor allem aber verdeutlicht die Liste der sieben Kurfürsten, dass der König von Böhmen nun die vollwertige Stellung genießt, die ihm der Sachsenspiegel und der Schwabenspiegel als die beiden bekanntesten deutschen Rechtsbücher des 13. Jahrhunderts noch abgesprochen hatten.24 Sie signalisiert zudem, dass die beiden Dynastien, die den Luxemburgern den Thron streitig gemacht hatten (die bayerischen Wittelsbacher und die österreichischen Habsburger), vorerst aus dem Rennen waren. Gelegentlich heißt es ein wenig vorschnell, die Bulle sei Karls Abrechnung mit den konkurrierenden Fürstenhäusern, doch das stimmt im Fall der Wittelsbacher nur zur Hälfte, denn einer ihrer jüngeren Zweige in der Kurpfalz war erbberechtigt in Bezug auf das Stimmrecht und die damit verbundenen Privilegien. Schon eher trifft diese Einschätzung auf die Habsburger zu. Herzog Rudolf IV. von Österreich, der Steiermark und Kärnten sowie Graf von Tirol, der 1356 ausgerechnet Karls Tochter Katharina von Böhmen geheiratet hatte, sah sich jedenfalls 1358/59 veranlasst, das Privilegium minus zu manipulieren. Mit diesem „kleinen Freiheitsbrief“ hatte Friedrich I. 1156 die Markgrafschaft Österreich zum eigenständigen, erblichen Herzogtum erhoben. Das von Rudolf in Auftrag gegebene Privilegium maius, eine der bekanntesten Urkundenfälschungen des Mittelalters, verwob überaus geschickt Wahrheit und Lüge in fünf Einzelurkunden von 1058 bis 1283. Der Herzog von Österreich wird darin unversehens als „Erzherzog“ tituliert und damit de facto in denselben Rang erhoben wie die Kurfürsten.25 Obwohl der Betrug schon 1360 durch Petrarca aufgedeckt wurde, bestätigte der Habsburger Kaiser Friedrich III. das Privileg 1453. Die Fälschung verhalf den Habsburgern nicht nur zu mehr Ansehen und einem ranghöheren Titel, sondern zu einem kaiserlichen Reichsvikariat für sämtliche österreichischen Besitzungen ihres Hauses.26 Die Geschichtsschreibung deutete diese Lüge lange Zeit als frühes Indiz dafür, dass die Habsburger eine Sonderrolle innerhalb des Kaiserreichs oder sogar die Abtrennung davon anstrebten, doch das Gegenteil ist der Fall: Die Fälschung von 1358 sollte wohl eher die Integration der Dynastie und Österreichs in das Kaiserreich vorantreiben. Karl IV. machte zunächst kein großes Aufhebens um diesen „großen Freiheitsbrief“, sondern betrachtete ihn nüchtern als eine Liste überzogener Ansprüche, wie er sie im Laufe seiner Herrschaft schon oft gesehen hatte. Durch diesen geschickten Schachzug konnte er 1364 eine „Erbverbrüderung“27 zwischen den Häusern Luxemburg und Habsburg aushandeln, die in diesem Moment harmlos erschien, jedoch ab dem 15. Jahrhundert für die Zukunft des Reiches und somit Deutschlands und Österreichs eine entscheidende Rolle spielte. Vereinbart wurde nämlich, dass in dem Fall, dass eine der beiden Dynastien erbenlos erlosch, die andere sämtliche Güter und Ländereien der ausgestorbenen Familie erben sollte.28 Ironie des Schicksals: Ausgerechnet die Habsburger, die als einzige große Familie im Reich in der Bulle von 1356 ausgeklammert worden waren, lenkten ab 1437 vier bis fünf Jahrhunderte lang die Geschicke des Heiligen Römischen Reiches.

Ein König, der von sieben Kurfürsten gewählt wird: Das ist ab 1356 Fakt und fortan die grundlegende Definition, das Organisationsprinzip des Heiligen Römischen Reichs. Von diesem Tag an basierte die Geschichte des Reiches (und damit Deutschlands) lange Zeit auf vier Faktoren, die in der Goldenen Bulle festgeschrieben sind. Der erste besteht in der Beziehung zwischen König (und gegebenenfalls Kaiser) und Kurfürsten, der zweite in der Haltung dieser Fürsten gegenüber dem König/Kaiser. Der dritte Faktor ist das Einvernehmen der Kurfürsten untereinander, der vierte schließlich die Eintracht der Kurfürsten mit den übrigen Fürsten und Herren im Reich. Insofern strebt die Bulle nach Ausgewogenheit, die „auf ewig“, sprich konstitutionell, einen festen Rahmen für das Wechselspiel der Kräfte zwischen dem König und Kaiser, der seinerseits Kurfürst ist, und den übrigen Kurfürsten vorgibt. Das bestätigt auch ein Blick auf die Wortwahl der Bulle. Während in der Vita Karls IV. gleich zwölfmal der Begriff imperator vorkommt, davon allein achtmal mit negativem Unterton auf den damaligen Gegner und Rivalen Ludwig IV. gemünzt, jedoch 128 Mal das Wort rex,29 ist das Verhältnis zwischen Wortfeldern, die sich einerseits auf die Kurfürsten und andererseits auf den Kaiser beziehen, in der Bulle eher ausgewogen.


Karl IV. und die sieben Kurfüsten in einer Handschrift aus dem 14. Jhd.

Der Nutzen, den Karl IV. aus der Goldenen Bulle zieht, ist nicht unerheblich: Er nabelt sich damit vom Papsttum ab, sichert sich die Möglichkeit einer gezielten Familien- und Hausmachtspolitik und bindet Böhmen fester in das Heilige Römische Reich ein. Als einziger gekrönter und gesalbter König (von Böhmen) nimmt er nun unter den weltlichen Kurfürsten den ersten Platz ein, den zuvor der Pfalzgraf innegehabt hatte, und ist dafür nicht einmal auf die kaiserlichen Insignien angewiesen. Zudem gewinnt er durch die Bulle zum Teil das Prestige und die Vorrechte zurück, die er in seinem eigenen Königreich durch das Scheitern seiner Maiestas Carolina 1355 eingebüßt hatte. Ihm ist klar, dass er sich im Reich vorerst nicht gegen die Fürsten wird durchsetzen können, doch zumindest begrenzt er mit der Bulle die Zahl der Entscheidungsträger auf sieben, sodass es rein rechnerisch ausreicht, wenn sich ihm nie mehr als drei von ihnen ernsthaft entgegenstellen. Die Einbeziehung des böhmischen Königs (und seines Königreichs) in die Urkunde erklärt allerdings auch, warum die Goldene Bulle im Gegensatz zu anderen nationalen „Verfassungen“ in Europa nicht oder erst sehr spät in die Konstituierung einer spezifischen Versammlung der deutschen Reichsländer münden konnte. Die Bulle dokumentiert darüber hinaus eine Schwerpunktverschiebung im Reich von West nach Ost: Die Besitzungen von drei der vier weltlichen Kurfürsten liegen im Osten, und die drei Dynastien, die im 14. und 15. Jahrhundert um den römisch-deutschen Thron wetteiferten – Luxemburg, Wittelsbach und Habsburg –, konzentrieren sich auf Gebiete, Königreiche und Grenzen im Norden und Osten des Reiches.

Einen „Kompromiss“ stellt die Bulle nur oberflächlich gesehen dar. Durch das gewährte Privileg unterstellt der Kaiser die Kurfürsten einem Regelwerk und gibt damit der Formel „Kaiser und Reich“ eine konkrete Gestalt, sozusagen als imperiale Version der antiken Maxime Quod omnes tangit, ab omnibus tractari et approbari debet (Was alle angeht, das müssen alle erörtern und gutheißen). An der Urkunde von 1356 prangt allein das kaiserliche Siegel, während diejenigen der Kurfürsten fehlen; sie wurden lediglich an den Wahlurkunden angebracht. In dieser Tradition titulierten Rechtsgelehrte ab dem 16. Jahrhundert die sieben Kurfürsten als cardo imperii oder „vorderste Glieder des Reiches“. Mit der Bulle regelte Karl zudem erfolgreich das naturgemäß heikle Verhältnis zwischen mehreren Königreichen, einem Kaiserreich und Fürstentümern auf dem Weg in die Quasisouveränität. Im Vergleich zu anderen staatlichen und politischen Konstrukten im Europa jener Zeit ist das sicher das Besondere der Goldenen Bulle. Ihre Bestimmungen, ihre Rezeption und Verbreitung bezeugen, welche zentrale Rolle der Kur innerhalb der Institutionen und des Machtgefüges im Abendland zukam, zumal sie nicht nur einen Königstitel betraf, sondern die Kaiserkrone. Auch wenn der Wortlaut den Ablauf der Wahl festlegt, handelt es sich nicht um eine Reichsreform: Kapitel XII sieht zwar eine jährliche Zusammenkunft der Kurfürsten vor, ruft damit jedoch keine allgemeine oder ständige Versammlung ins Leben. Lediglich der königliche Reichstag bleibt bestehen, wird aber nach und nach zu einem kaiserlichen.30 Die Bulle verfügt also nicht die Integration des Reiches durch eine Politik der Kooperation und begründet so gesehen auch keine kaiserliche Politik, die eine kaiserliche Regierung zu untermauern vermöchte. Hierin liegt zweifellos auch der wesentliche Unterschied zu der politischen Theorie und Praxis Frankreichs.31 Die Bulle kann letztlich nicht weiter gehen, als es die Lage im Heiligen Römischen Reich 1356 gestattet; sie basiert auf einem Konstrukt, in dem der König nicht mehr als eine Vermittlerrolle einnimmt.

Die Bulle gewinnt ihren Stellenwert in erster Linie durch den betont feierlichen Charakter der Urkunde. Ihr Inhalt ist nicht neu, wohl aber die Zusammenstellung vieler Bestimmungen zu einer derartigen Verfassung. Dabei regelt die Bulle wie gesagt nicht primär das Zusammenspiel der Staatsfunktionen im Reich, denn die Rede ist weder von Steuern noch von einem Parlament, einer Armee oder einer Hauptstadt, weder von der Regierung noch von irgendeinem Stand, nicht einmal von einer behutsamen Reichsreform. Wirklich innovativ ist der Text hinsichtlich der Rituale, auf die neun der 31 Artikel Bezug nehmen und die nie zuvor so eingehend schriftlich festgehalten worden waren.32 Ein Bemühen um Rationalisierung ist hierin jedoch nicht zu sehen, im Gegenteil, die Bulle erschafft eine ganz neue Vorstellungswelt für die Symbole der Macht. Eine neue Ordnung verlangt nach neuen Ritualen und neuen Bildern. Hoheitsgewalt manifestierte und definierte sich im Mittelalter unter anderem durch Rituale, Festakte und symbolische Handlungen, die weder die dahinterstehende Politik verschleiern sollten noch eine entbehrliche folkloristische Zugabe darstellten; sie waren vielmehr die Voraussetzung für die Existenz und Nachvollziehbarkeit der Souveränität.33 Die Bulle sollte nicht nur Unstimmigkeiten über die Rangordnung vorbeugen, sondern zudem Regeln aufstellen, die von der Nachwelt weder vergessen noch gestrichen noch ersetzt werden sollten. Sie markiert zugleich die Geburtsstunde einer neuen Rangfolge, die durch das visuelle Motiv des Königs im Kreis seines Kurkollegiums verkörpert wird, aber auch durch die Relegierung der Königin an den Schluss der Krönungsprozession, weil in einer Wahlmonarchie nicht mehr sie den Thronfolger stellt.34 Vor allem aber beantworteten die in der Bulle festgeschriebenen Rituale ab 1356 eindeutig die Frage, was das Heilige Römische Reich eigentlich ausmachte. Erst wenn die Bedeutung dieses Zeremoniells verwässert würde (was Goethe hinsichtlich der Zustände im Reich und der Frankfurter Kaiserkrönungen im 18. Jahrhundert zu erkennen meinte),35 erst wenn es nur noch als altmodische Bürde empfunden würde, verlöre sich auch der Charakter des Reiches als stabilem Verband, bestehend aus einem König und seinen Kurfürsten, und als Wechselspiel zwischen den Kurfürsten, die pars pro toto das Reich repräsentieren wie das goldene Siegel des Kaisers die Gesamtheit der Urkunde.

Zunächst jedoch gaben die Bestimmungen von 1356 dem Kaiser in der Praxis einen relativ großen Handlungsspielraum, von der Konzentration auf die Befriedung des Reiches über den Rückzug in seine angestammten Gebiete in Luxemburg und Böhmen und einen Ausgleich zwischen Ost und West bis zur Wiederaufnahme einer kaiserlichen Politik, die über die Reichsgrenzen hinaus vor allem nach Italien schaute. Keine dieser Optionen schloss der Kaiser von Vornherein aus, keine vernachlässigte er. Klug hütete er sich davor, starrsinnig eine Richtung weiterzuverfolgen, wenn dies das Ganze zu schwächen drohte, wie es in Italien oder an den Westgrenzen des Reiches der Fall war. Seine Präferenz stand dennoch fest, und zwar nicht erst ab 1356, sondern schon seit dem Jahrzehnt davor: Das dauerhafte Fundament und das Sprungbrett seiner Dynastie sollte Böhmen sein.

Karl IV.

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