Читать книгу Das Handbuch gegen den Schmerz - Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Thomas R. Tölle - Страница 57

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Jeder Schmerz ist anders

Jede chronische Schmerzerkrankung hat irgendwann einmal als akuter Schmerz begonnen. Oft hat sich der Schmerz am Anfang der Erkrankung nur an einer Stelle des Körpers geäußert, sich dann aber im Laufe der Chronifizierung auf weitere Körperstellen ausgedehnt oder auch andere, neue Schmerzen nach sich gezogen.

Chronische Schmerzpatienten haben daher einen hohen Leidensdruck: Es ist in den meisten Fällen nicht nur so, dass sich ein Schmerz an einem Ort über Monate oder Jahre „festsetzt“ – was ja schon schlimm genug ist –, erschwerend kommt hinzu, dass er wie ein Magnet neue Schmerzen anzieht. Zum Beispiel leiden viele Patienten mit chronischen Kopfschmerzen früher oder später auch an Schmerzen im Nacken oder Patienten mit Rückenschmerzen bekommen durch Fehlbelastungen Gelenkprobleme. Viele chronische Schmerzpatienten haben an so vielen verschiedenen Stellen im Körper Schmerzen, dass sie den Schmerz am Ende kaum noch klar verorten können. Manchmal wissen sie nicht einmal mehr genau, wo der Schmerz eigentlich zuerst war. Deshalb ist es so wichtig, jeden Schmerz von Anfang an richtig zu behandeln, um zu verhindern, dass er zum dauerhaften Problem, also chronisch wird.

Kontrolle erlangen

Für jede Schmerzart gibt es in der Akutphase spezielle Behandlungen. Selbstverständlich wird ein Rückenschmerz anders behandelt als eine Migräne. Dieses Buch stellt häufige Schmerzarten vor, die oft den Ausgangspunkt für chronische Schmerzerkrankungen darstellen können. Außerdem werden Leiden erläutert, die bereits von Beginn an chronische Schmerzkrankheiten sind, wie beispielsweise Rheuma oder die Fibromyalgie. Hier schmerzt der gesamte Körper, entweder an verschiedenen Stellen (lokal) oder quasi schwer eingrenzbar überall (diffus).

Dass sich aus akuten Schmerzen chronische Probleme entwickeln, ist besonders häufig dann der Fall, wenn der Schmerz nicht von Anfang an angemessen behandelt wurde. Das folgende Kapitel beschreibt, welche jeweiligen Therapieoptionen es bei diesen verschiedenen Krankheiten gibt, um den Schmerz zu lindern und bestenfalls zu verhindern, dass er chronisch wird und damit andere Lebensbereiche des Betroffenen dominiert. Ziel ist es, dass einerseits ein akuter Schmerz, wie ein Rückenschmerz bei Hexenschuss, sich nicht dauerhaft festsetzt und dass andererseits ein Schmerz, der als Begleiter einer chronischen Krankheit kommt, dem Betroffenen das Leben nicht zur Hölle macht. Dafür ein Beispiel: Ein Rheumapatient kann trotz der chronischen Erkrankung Rheuma ein Leben führen, in dem der Gelenkschmerz in der meisten Zeit erträglich ist und nicht permanent im Vordergrund steht. Niemand kann diesem Patienten eine völlige Schmerzfreiheit versprechen, aber mit einer frühzeitig begonnenen spezifischen Schmerztherapie und einem Behandlungsansatz, der die verschiedenen Ebenen der Erkrankung, nämlich die körperliche, seelische und soziale, mit einschließt, kann der Schmerz meist gut kontrolliert werden. Das folgende Kapitel soll Patienten mit chronischen Schmerzen helfen, dieses Ziel zu erreichen.

Resilienz schützt vor Chronifizierung

Ob ein akuter Schmerz geht oder bleibt, hängt maßgeblich von der seelischen Verfassung des Patienten ab. Auch soziale Faktoren spielen eine Rolle. Ein Hexenschuss beispielsweise verschwindet in den allermeisten Fällen nach ein paar Tagen von selbst wieder. Leidet der Betroffene aber zum Beispiel an einer Depression oder befindet er sich in einer extremen Stresssituation, die er als äußerst kräftezehrend oder existenzbedrohend empfindet („wenn ich das nicht schaffe, verliere ich meinen Job“), sind die Weichen in Richtung Chronifizierung gestellt. Das sogenannte sympathische Nervensystem, der aktivierende Teil des vegetativen Nervensystems, das unbewusst Körperfunktionen wie die Atmung steuert, wird hochgefahren und der Körper schaltet auf Stress um. Er nimmt Gefahrensignale wie Schmerz laut und deutlich wahr, der Schmerz brennt sich so in das Schmerzgedächtnis ein. Der Boden für eine Chronifizierung ist bereitet. In einer solchen Situation kann eine Verletzung am Bein oder eine zufällig anstehende Zahn-OP mit unzureichender Schmerzversorgung den Ausgangspunkt für eine chronische Schmerzerkrankung bilden, die mitunter zu jahrelangen, dramatischen Schmerzen führt. Bei einem Menschen hingegen, der seelisch und körperlich im Gleichgewicht ist und eine hohe psychische Widerstandskraft hat (Psychologen sprechen hier von „Resilienz“), hat ein akuter Schmerz meist keine weitreichenden Folgen. Er fällt nicht auf fruchtbaren Boden, kann sich nicht verselbständigen und verschwindet mit der Schmerzursache.

Behandlung in vielen Punkten gleich

Ist ein Schmerz chronisch geworden oder durch eine unzureichende Schmerzbehandlung über eine längere Zeit so stark in den Vordergrund getreten, dass er das Leben eines Patienten nahezu rund um die Uhr beherrscht, ist es schwierig, das Rad zurückzudrehen. Eine solche schwerwiegende Schmerzerkrankung lässt sich dann nicht mehr mit ein paar Schmerztabletten behandeln, oft schlagen „normale“ Schmerztabletten auch gar nicht mehr an. Das ist besonders oft der Fall, wenn eine Verletzung oder Krankheit Nervenstrukturen verletzt hat und der Schmerz durch die beschädigten Nerven selbst ausgelöst wird (= neuropathischer Schmerz oder Nervenschmerz). Das kann zum Beispiel bei einem Bandscheibenvorfall passieren. Die Nerven – eigentlich nur Transportbahnen für Berührung und Schmerz aus Armen und Beinen und für die Bewegungssteuerung (sogenannte Motorik) – können durch die permanente Quetschung beschädigt worden sein und so selbst zur Schmerzursache werden. Eine Operation kann zwar die Bandscheibe richten, aber nicht die Nervenfasern erneuern. Das ist der Grund, warum der Schmerz auch nach einer technisch erfolgreichen Operation bei vielen Rückenpatienten bestehen bleibt. Die Ursache ist längst behoben, aber der Schmerz bleibt.

Sicherheit durch Screening

Bei vielen Erkrankungen, die häufig Ausgangspunkt für eine Chronifizierung sind (wie beispielsweise ein akut auftretender Rückenschmerz), versucht der Arzt bereits beim ersten Gespräch herauszufinden, ob der Patient für eine chronische Schmerzerkrankung anfällig ist. Für Patienten, die mit einem akuten Rückenschmerz in die Hausarztpraxis kommen, gibt es einen Fragebogen, den sogenannten STarT Back Screening-Fragebogen (STarT steht für „Subgroup targeted treatment“, also subgruppenspezifische Behandlung). Mit nur neun Fragen kann eingeschätzt werden, ob für den Patienten eine Gefahr dafür besteht, dass sein Schmerz zum Dauerproblem wird. Die Patienten lassen sich damit in drei Gruppen unterteilen: Geringes, mittleres oder hohes Risiko für eine Chronifizierung der Schmerzen.

Noch einmal zusammengefasst: Man spricht von einer eigenständigen chronischen Schmerzerkrankung, wenn der Schmerz länger als drei Monate anhält und gleichzeitig weder eine körperliche (oder seelische) Grunderkrankung gefunden wird noch eine solche nicht mehr in Zusammenhang mit den starken Schmerzen gebracht werden kann. In beiden Fällen hat sich ein Schmerz verselbständigt und steht für sich. Spätestens dann ist eine Schmerztherapie erforderlich, die gemäß dem bio-psycho-sozialen Modell alle Ebenen des Schmerzes erfasst: Die körperliche, sei es medikamentös oder bewegungstherapeutisch, die seelische und die soziale. Die beiden letztgenannten werden mit psychologischen Verfahren und/oder Patientenschulungen behandelt. Diese Therapie, die verschiedenste Bausteine aufweist (daher auch der Name multimodale Therapie; multi = viele, modus = Art und Weise), ist der einzige erfolgversprechende Weg, um eine chronische Schmerzerkrankung zu behandeln und die Schmerzen nachhaltig zu reduzieren.

Bei der multimodalen Therapie sieht die Behandlung bei Patienten mit chronischen Bauchschmerzen genauso aus wie bei Rückenschmerzpatienten. Es ist dann auch egal, ob der Schmerz zuerst im Rücken, im Hüftgelenk oder im Kopf aufgetreten ist. Wenn der Schmerz erst autonom geworden ist, spielt der ursprüngliche Ort kaum noch eine Rolle. Die Veränderungen, die das Rückenmark und Gehirn durchgemacht haben, sind in weitesten Teilen überlappend und identisch. Oft sitzen bei Behandlungen wie bei der Kunsttherapiegruppe Patienten mit all diesen verschiedenen Grunderkrankungen zusammen. In der Therapie geht es nicht mehr darum, eine körperliche Ursache zu behandeln, sondern um das eigene Phänomen Schmerz. In der englischen Sprache wurde das formuliert als: „Chronic Pain, a disease of its own right“, also „Chronischer Schmerz, eine Erkrankung eigener Bedeutung“. Ziel ist es, Schmerzpatienten Hilfestellungen zu geben, damit ihre Beschwerden weniger Raum im Leben einnehmen. Es macht also zweierlei Sinn: Auf die einzelne Erkrankung zu schauen, also wie auf Beschwerden in Kopf oder Rücken, und gleichzeitig unabhängig von der Ursache auf den Schmerz als Ganzes.

Das Handbuch gegen den Schmerz

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