Читать книгу Das Handbuch gegen den Schmerz - Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. Thomas R. Tölle - Страница 58

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Die Pharmazeutin Christiane S. leidet seit ihrer Kindheit an vielfachen Erkrankungen, die heftigste Schmerzen auslösen. Bei einem Treppensturz verletzte sie sich das Sesambein, und aus den akuten Schmerzen wurde eine chronische Schmerzerkrankung.

„Wenn Ärzte meine Feuer-Schmerzen abtaten, war das schlimmer als die Beschwerden selbst.“


Christiane S. (63), Pharmazeutin aus Bayern, hat in ihrem Leben kaum eine Schmerzart ausgelassen. Sie litt und leidet unter Schuppenflechte, Tumorschmerzen, Arthritis, Herpes Zoster und so weiter. Hier erzählt sie, wie sie für sich gelernt hat, mit all ihren Leiden umzugehen.

Ich habe das, was Experten eine Schmerzkarriere nennen. Es gibt kaum eine Art von Schmerz, die ich nicht kenne – und mit der ich nicht lernen musste, umzugehen. Ich kam schon mit einer seltenen, sehr schmerzhaften Autoimmunkrankheit zur Welt: Einer Porphyrie, also einer Stoffwechselkrankheit, bei der in der Leber ein Eiweiß fehlt. Sie führt dazu, dass Betroffene kaum Nahrung und auch wenig Medikamente vertragen sowie furchtbar stechende Schmerzen im Bauchraum haben. Die Schwierigkeit dieser Krankheit liegt darin, sie zu erkennen – schließlich klagen Kinder oft über Bauchweh. Dass Schmerzen nicht ernst genommen werden, habe ich also früh gelernt. Als Teenager bekam ich dann eine Schuppenflechte, die Arme, Beine, Kopf und Rumpf mit juckend-schmerzenden Schuppen überzieht.

Ich habe trotz meiner Leiden viel Sport gemacht, lief Marathon, studierte Pharmazie als Ingenieurin und lernte den Mann meines Lebens kennen. Mit Anfang 20 erlebte ich den nächsten Schlag: Mein Partner verstarb bei einem Verkehrsunfall. Auf der Schmerzskala, die Ärzte oft zitieren, um Ereignisse einzuordnen, die auf psychischer Ebene für Beschwerden mitverantwortlich sein sollen, gab das eine glatte 10 – den höchsten Wert. Wieder habe ich gekämpft, wollte weiterleben und lachen. Ich lernte einen zweiten Mann kennen, den ich wenige Jahre später heiratete, und genoss die Normalität.

Dann bekam ich eine Diagnose, die mir nicht nur viele neue Schmerzen einbrachte, sondern meine Existenz bedrohte: Ärzte stellten ein Sarkom am linken Knie fest – eine seltene Form von Krebs, die damals als tödlich galt. Man gab mir noch ein halbes Jahr, bot mir aber an, mich in Studien einzubinden, die nur experimentell seien. Das war mir egal, denn was blieb mir sonst übrig? Viele Operationen, Infusionen und Medikamente später verschwand das Krebsgeschwür tatsächlich, hinterließ aber ein steifes Knie. Ich bewegte es über Jahre hinweg Millimeter für Millimeter. Mir liefen dabei die Tränen vor wummernden Schmerzen über die Wangen, aber ich schaffte es, mein Bein immer wieder etwas mehr zu bewegen und wieder etwas beugen zu können.

In den Jahren darauf bekam ich zwei gesunde Kinder. Aber nach den Geburten kehrten die Probleme mit dem Immunsystem zurück, und ich bekam eine Psoriasisarthritis, eine Unterform von Rheuma – enorm schmerzhaft. Alle Sehnen entzündeten sich, meine Hände verformten sich und schwollen an. Anders als andere Rheumaformen ist diese Art nicht über einen Faktor im Blut nachweisbar. Ich saß also erst einmal Ärzten gegenüber, die meine Feuer-Schmerzen abtaten und mir das Gefühl gaben, ich würde sie mir einreden. Das war furchtbar, fast schlimmer als der Schmerz selbst. Als ich endlich an einen Mediziner geriet, der mich ernst nahm, stellt er fest, dass ich gegen die meisten helfenden Medikamente allergisch bin. Mir blieb nur, die Schub-Schmerzen auszuhalten. Wenn es hart kam, nahm ich hohe Dosen Kortison.

Im Verlauf der nächsten Jahre zerbröckelte meine Ehe. Dann steckte ich mich bei der Arbeit in der Apotheke mit Pfeifferschem Drüsenfieber an. Die Viruskrankheit führt dazu, dass alle Drüsen im Körper anschwellen, sowie zu starken Schmerzen unter den Armen und in der Leistengegend. Der Virus fachte zusätzlich die Arthritis an, sodass die Schübe häufiger wurden und ich viel Kortison brauchte. Das wiederum stürzte mein Immunsystem ins Chaos und brachte mir auch noch einen Herpes Zoster ein. Ich bekam unbeschreibliche Schmerzen im Rachen, im Ohr und im Auge, die sich so anfühlten wie brennende Nadelstiche. Aber das Schöne daran war, auch wenn das komisch klingt: Beim Arzt glaubte man mir, wie sehr ich litt. Das machte es tatsächlich besser.

Als Folge des Herpes Zosters entwickelte ich eine Meningitis, eine Entzündung der Hirnhaut, und heftige Schmerzen in Brust und Gesicht. Aber auch hier: Weil ich mich mit meinen Schmerzen angenommen fühlte, schaffte ich es, mein Leben nicht allein davon bestimmen zu lassen.

„Beim Arzt glaubte man mir, wie sehr ich litt. Das machte es tatsächlich besser.“

Dann fiel ich in meiner Apotheke eine Treppe hinunter – mehrere Rippen gebrochen, Niere angeknackst, zwei Riesenhämatome am Fuß. Im Krankenhaus kümmerte man sich um alles, aber man stellte erst nach mehreren Monaten fest, dass das Hauptproblem der Fuß gewesen wäre. Ich hatte nun ein Knochenmarks-Ödem, also eine Ansammlung von Flüssigkeit, die für enorme Schmerzen sorgt, und ein verletztes Sesambein. Das ist ein kleiner Knochen, der in der Sehne sitzt. Es verging mehr als ein Jahr, bis zweimal operiert wurde, und ich erlebte, was es heißt, wenn ein akuter Schmerz chronisch wird. Erst als ich endlich in das Zentrum für interdiszplinäre Schmerzmedizin der TU München überwiesen wurde, erklärte man mir dort, dass mein Schmerz bereits so in meinem Hirn verankert ist, dass sich quasi ein Schmerzgedächtnis gebildet hat. Mein Körper sendet also immer wieder Signale, egal ob die Ursachen noch da sind oder nicht. Die Dauerbeschwerden, die mein Gehirn meldet, sind sogar in einem speziellen EEG nachweisbar. Ein Arzt zeigte mir, dass im frontalen Teil meines Hirns ständig Alarm ist. Diese Verbildlichung hat mir sehr geholfen, weil ich lernte, dass ich das Schmerzgefühl umleiten kann, sodass es mich nicht mehr so stark beeinträchtigt.

„Ich habe heftige Schmerzen – aber eine unheimlich stabile Psyche, die mir hilft, mit allem fertigzuwerden.“

Ich begann eine multimodale Schmerztherapie, eine Kombination aus verschiedenen Bewegungen sowie psychischer und sozialer Betreuung. Ein Therapeut sagte mir, ich solle es mal so sehen: Ich habe zwar eine heftige Anhäufung an Schwierigkeiten im Körper – dafür aber eine unheimlich stabile Psyche, die mir hilft, mit allem fertigzuwerden. „Super“, habe ich gedacht – „also nicht nur Pech beim Genlotto gehabt!“ Ich konnte mit meiner positiven und fröhlichen Art sogar anderen Schmerzpatienten in der Gruppe helfen, besser mit ihren Leiden umzugehen. Das hat mir unheimlich gutgetan. Außerdem halfen mir Bewegungseinheiten wie Osteopathie und Feldenkraisgymnastik weiter. Ich habe festgestellt, dass ich Schmerzen nicht abwehren kann, indem ich mich an einen schönen Ort wünsche, wie es Therapeuten oft raten. Das führte für mich dazu, dass das immer sehr positiv besetzte Meer plötzlich mit Schmerzen verknüpft war. Aber ich fand heraus, dass ich eine Attacke gut durch Gerüche überstehen kann. Ein starker Pfefferminz-Reiz hilft mir, Schmerzen besser zu ertragen. Als eine andere Patientin erzählte, ihr Schmerz überfalle sie wie kleine grüne Männchen, fand ich darin ein Bild, mit dem ich den Schmerz personifizieren konnte. Bei heftigen Schmerzattacken stelle ich mir seither vor, wie kleine grüne Schmerzmännchen an mir arbeiten, und denke dann: „Na, wieder tüchtig beim Hämmern und Bohren!?“ Das tut richtig gut.

Das klingt vielleicht etwas abstrus, aber man findet für sich Wege, wie man mit Schmerzen umgeht, die man nicht vertreiben kann. Ich weiß jetzt, dass mir aus dem Fenster in die Natur gucken mehr bringt als Progressive Muskelentspannung. Ich habe mir immer wieder Ziele gesucht, auf die ich hingearbeitet habe. Das half und hilft mir, mit den verschiedenen Schmerzarten klarzukommen. Gerade hat beispielsweise mein Sohn geheiratet – und da wollte ich verdammt nochmal die Zeremonie in hübschen Schuhen überstehen, nicht in den speziell angefertigten orthopädischen Laufhilfen. Ich kaufte magentafarbene Slingpumps – und trug sie tapfer! Mich tragen Optimismus und Durchsetzungswille. Schmerz ist subjektiv, jeder empfindet ihn anders, aber er ist real. Und es muss einem egal sein, was andere dazu sagen. Man selbst muss lernen, zurechtzukommen.

Das Handbuch gegen den Schmerz

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