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2. Hintergrund und Entwicklung

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a) Bis zur Einführung der Sozialen Pflegeversicherung zum 1. Januar 1995 war das Risiko der Pflegebedürftigkeit als einziges großes gesellschaftstypisches Lebensrisiko nicht öffentlich-rechtlich abgesichert. Die Ausnahme bildeten für ihren Regelungsbereich die gesetzliche Unfallversicherung (siehe § 44 SGB VII) und das Recht der sozialen Entschädigung (siehe für die Kriegsopferversorgung § 35 BVG, für den Lastenausgleich § 276 LAG). Die Einstandspflicht war in diesen Ausnahmefällen kausal begründet, bei Pflegebedürftigkeit wurden Leistungen erbracht, wenn die Pflegebedürftigkeit auf bestimmten Gründen (unfallversicherungsrechtlicher Versicherungsfall; zu entschädigendes Sonderopfer, namentlich Wehrdienstbeschädigung) beruhte. In allen anderen Fällen blieb das Risiko der Pflegebedürftigkeit privat, Pflegebedürftige mussten ihr Vermögen einsetzen oder bei entsprechender Leistungsfähigkeit ihre Kinder auf Unterhalt in Anspruch nehmen. Das Sozialrecht hielt lediglich die letztzuständige Sozialhilfe bereit.

Für die Sozialhilfeträger wurde die nach dem Sozialhilferecht zu leistende Hilfe zur Pflege (vgl §§ 61–66a SGB XII) indessen zu einer Jahr für Jahr größer werdenden Belastung. Etwa ein Drittel der Ausgaben der Sozialhilfe entfielen 1994 auf die Unterstützung Pflegebedürftiger[1]. Den Hintergrund bildeten der größer werdende Anteil alter Menschen an der Bevölkerung und die stark angestiegenen Heimpflegekosten. Das Interesse der Einzelnen an einer Vorsorge gegen das Risiko der Pflegebedürftigkeit war nicht ausgeprägt; es lag mehr im Interesse der Allgemeinheit, die Belastung der Sozialhilfeträger zu begrenzen als im Interesse der Einzelnen, für den Fall ihrer Pflegebedürftigkeit vorzusorgen. Die Pflegeversicherung hat die Sozialhilfeträger nachhaltig entlastet.

Dem Pflege-Versicherungsgesetz sind etwa zwanzig Jahre politischer und juristischer Diskussion vorausgegangen. Den eigentlichen Anstoß gab ein Gutachten des Kuratoriums Deutscher Altenhilfe aus dem Jahr 1974[2]. Das Gutachten hatte insbesondere auf die schwierige Abgrenzung von Krankheit und (nicht abgesicherter) Pflegebedürftigkeit hingewiesen.

Die demographische und gesellschaftliche Entwicklung stellt hohe Anforderungen an die Ausgestaltung der Pflegeversicherung. Im Jahr 2018 erhielten rund 3,68 Millionen Menschen Leistungen der Pflegeversicherung, mit steigender Tendenz. In den Jahren nach 1999 überstiegen die Ausgaben der Pflegeversicherung in einigen Jahren leicht die Einnahmen (2005: 0,36 Mrd. Euro Ausgabenüberschuss). Wurden in der Zeit von 2008 bis 2016 Überschüsse erwirtschaftet[3], überstiegen die Ausgaben die Einnahmen in den folgenden Jahren um 2,42 (2017) bzw 3,55 Milliarden Euro (2018)[4]. Die deutliche Erhöhung der Ausgaben wurde durch die Änderungen im Rahmen des Ersten und Zweiten Pflegestärkungsgesetzes (Rn 240) bewirkt, namentlich durch die Erhöhung der Leistungsbeträge und die Flexibilisierung der Möglichkeit, Leistungen in Anspruch zu nehmen[5]. Längerfristig wird der Anteil der Ausgaben für die Pflege am Bruttoinlandsprodukt steigen. Etwa drei Viertel der Pflegebedürftigen (73%) werden zu Hause versorgt[6], dieser Anteil wird jedoch angesichts zunehmender Single-Haushalte, geringerer Kinderzahl und ansteigender und länger werdender Erwerbstätigkeit Angehöriger abnehmen.

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b) Die gesetzliche Pflegeversicherung steht in der Tradition des deutschen Sozialversicherungsrechts. Es handelt sich um eine neue fünfte Säule der öffentlich-rechtlich verfassten Sozialversicherung, wobei jedoch die folgenden Besonderheiten bestehen: Zunächst ist die Pflegeversicherung zwar ein eigenständiger Sozialversicherungszweig mit eigenständiger Finanzierung, sie steht aber unter dem Dach der gesetzlichen Krankenversicherung (siehe § 1 Abs. 1, 3 SGB XI). Die Aufbringung der Beiträge folgt zum zweiten zwar äußerlich dem Halbteilungsprinzip (siehe § 58 Abs. 1 SGB XI), durch Streichung eines landesweiten gesetzlichen Feiertages[7] wird aber der Arbeitgeberanteil teilweise kompensiert (vgl § 58 Abs. 2 SGB XI). Die Pflegeversicherung ist schließlich eine Volksversicherung; in Bezug auf das Risiko der Pflegebedürftigkeit sind alle (gesetzlich oder privat) Krankenversicherten pflichtversichert – entweder sozialversichert oder privat versichert (ca. 98% der Bevölkerung, Rn 244 f). Dabei ist das die Sozialversicherung kennzeichnende soziale Schutzprinzip auch in der privaten Pflegeversicherung gültig: Für die private Pflegeversicherung besteht nach Maßgabe von § 110 SGB XI ein Kontrahierungszwang; es gilt auch dort nicht die individuelle Äquivalenz von Prämie und Leistung, die Prämie darf insbesondere den Höchstbeitrag der gesetzlichen Pflegeversicherung nicht übersteigen (2020: 142,97 Euro); Kinder des Versicherungsnehmers sind beitragsfrei mitversichert (siehe die genaue Aufzählung in § 110 Abs. 1 SGB XI). Die Leistungen der privaten Pflegeversicherung müssen nach Art und Umfang den Leistungen der gesetzlichen Pflegeversicherung gleichwertig sein (§ 23 Abs. 1 S. 2 SGB XI). Das BVerfG hat die Verfassungsmäßigkeit der Pflegeversicherung bestätigt; Aufsehen erregt haben aber die Aussagen des Gerichts, dass es mit Art. 3 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren sei, wenn Mitglieder der Pflegeversicherung, die Kinder erziehen, mit einem gleich hohen Pflegeversicherungsbeitrag belastet werden wie Mitglieder ohne Kinder[8]. Vor diesem Hintergrund müssen Kinderlose seit dem 1. Januar 2005 einen Zuschlag in Höhe von 0,25% auf ihren Beitragssatzanteil zahlen (§§ 55 Abs. 3 S. 1, 58 Abs. 1 S. 3 SGB XI).

Die Pflegereform durch das Gesetz zur strukturellen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung vom 28. Mai 2008[9] hatte ua Leistungssteigerungen, die Einführung einer Pflegezeit für Beschäftigte (Rn 264) sowie eine grundlegende Neufassung der Qualitätssicherung und -entwicklung (§§ 113 ff SGB XI) zum Gegenstand. Mit dem Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz vom 23. Oktober 2012 verbinden sich weitere Leistungsverbesserungen insbesondere für demenziell Erkrankte und die steuerliche Förderung privater Pflege-Zusatzversicherungen. Durch das 2015 in Kraft getretene Erste Pflegestärkungsgesetz[10] wurden der Beitrag und die Leistungen erhöht. Neben den stationären Einrichtungen wurde auch die häusliche Pflege durch die Einführung eines Pflegeunterstützungsgelds für pflegende Angehörige finanziell gestärkt. Weiter wurde ein Pflegevorsorgefonds eingerichtet, der drohende Beitragssteigerungen nach dem Jahr 2035 abfedern soll. Das Zweite Pflegestärkungsgesetz vom 21. Dezember 2015[11] sieht ua mit Wirkung vom 1. Januar 2017 einen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff sowie ein neues Begutachtungsverfahren für die Feststellung der Pflegebedürftigkeit vor (Rn 252 ff). Das Dritte Pflegestärkungsgesetz vom 23. Dezember 2016[12] strebt eine engere Verzahnung der Leistungsträger an mit dem Ziel, die Steuerung und Koordination der Pflegeberatung in den Kommunen zu verbessern und so den Verbleib pflegebedürftiger Menschen in der vertrauten häuslichen und familiären Umgebung zu unterstützen.[13] Mit diesen Gesetzen hat die Pflegeversicherung die größte Sachreform seit ihrer Einführung erfahren. Im Nebeneinander von Sozialrecht und Arbeitsrecht soll das Pflegelöhneverbesserungsgesetz vom 22.11.2019[14] Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Pflegebranche gestalten mit dem Ziel, eine Vergütungsstruktur zu erreichen, welche qualitativ gute Pflege in der alternden Gesellschaft sichert.

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