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5 Die geistliche Herausforderung

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Meine These hierzu lautet: Sie sagen der Kirche Neues über sich selbst und sind darin eine geistliche Herausforderung. Denn es fordert von ihr, ihre alte pastorale Aufgabe neu zu lösen, ohne schon genau zu wissen, wie es geht.

Die Austrittszahlen sprechen davon, dass die Kirche offenkundig nicht ausreichend Erfahrungsorte schaffen kann, an denen sich die Existenzbedeutsamkeit des Glaubens und der religiöse Sinn der menschlichen Existenz eröffnen. Nachdem der Kirche die alte soziale Codierung des Glaubens, die diesen Zusammenhang volkskirchlich darstellen konnte, abhanden gekommen ist, ist die Kirche auf konkrete neue Erfahrungsorte des Zusammenhangs von Glaube und Existenz angewiesen – und hat offenkundig zu wenige davon.

Die geistliche Herausforderung liegt konkret im Test auf die Fähigkeit der Kirche, sich nicht aus sozialen Mechanismen der Macht, sondern in der Ohnmacht des Glaubens, in der Demut von Gottes- und Nächstenliebe, in der Erfahrung der Hingabe an die Botschaft vom Angenommensein durch Gott und in nichts anderem zu konstituieren. Sie liegt im Zurückgeworfensein auf ihre Substanz, auf ihren Glauben an die Wahrheit ihrer Botschaft, im Zurückgeworfensein auf deren Kraft und Wahrheit im Leben des Volkes Gottes.

Wenn Kirchenaustritt geschieht, weil im Empfinden der Austretenden Aufwand und Gratifikation nicht länger im Einklang stehen, dann kann gerade im Selbstverständnis der Kirche diese Gratifikation nur in der Substanz des Glaubens selbst liegen. Denn die Kirche ist ihrem Auftrag verpflichtet und nichts anderem. Sie muss in ihrem Tun auf diesen Auftrag vertrauen, auf seinen Sinn und seine Bedeutung auch heute. Sie darf auf nichts anderes ihre Hoffnung setzen.

Dieser Auftrag allerdings, die Verkündigung des Gottes Jesu in Wort und Tat, kann nicht Indoktrination bedeuten, sondern, will er Jesus treu bleiben, nur die Eröffnung neuer Horizonte. Es geht in der Verkündigung des Glaubens nicht um Formeln eines Lebens mit Gott, sondern um das Leben im Horizont Gottes selber. Es geht auch nicht um die Kirche überhaupt, sondern um die Kirche als Trägerin der Botschaft von diesem Gott und als sozialem Ort der Erfahrung eines Lebens aus dieser Botschaft.

Die geistliche Herausforderung der Kirchenaustritte liegt also in der Herausforderung zur Wahrheit und Ehrlichkeit der Kirche über sich und über ihre Fähigkeit, das Evangelium in Wort und Tat zu verkünden, also zu leben. Kirchliche Praxis meint hier das Leben in der säkularen Bedeutsamkeit des Glaubens und aus dem religiösen Sinn der menschlichen Existenz. Sie meint das Leben im weiten Horizont jenes Gottes, den Jesus verkündet hat, meint Hingabe an den Nächsten, und sei er Sünder, meint also Nachfolge Jesu. Personal gewandt aber heißt das: Die geistliche Herausforderung der Kirchenaustritte liegt in der Frage nach dem Status unserer Kirchenmitgliedschaft. Denn das hatte das Konzil unmissverständlich geklärt: Unsere eigene Kirchenmitgliedschaft ist mit unserem institutionellen Status in der Kirche und als Kirche überhaupt noch nicht beantwortet.

Was heißt dies nun für eine „Pastoral der Ausgetretenen“? Zuerst sollte die Kirche fragen: Wer sind die Ausgetretenen für mich? Sie sind entweder jene, die ihre Würde, ihre Berufung in Gott und Christus, ihr Angenommensein in ihm, nicht wahrhaben wollen, oder jene, die es in der Kirche nicht erfahren haben. Mit beidem muss Kirche rechnen, entscheiden darüber kann sie aber nicht. Das muss sie Gott überlassen.

Die Kirche darf allerdings davon ausgehen, dass man ihre Berufung, das Volk Gottes zu sein, auch wirklich in ihr erfahren kann; sie muss aber auch davon ausgehen, dass sie selbst dieser Erfahrung im Wege steht. Beides ist in der „Kirche der Sünder und Heiligen“ möglich. Freilich, die Kirche ist auf ihre Botschaft verpflichtet, und diese spricht von der unendlichen Würde des Menschen in der Liebe seines Gottes. Diese Würde ist jedem Menschen gegeben, gerade auch dem Sünder. Sie gilt selbst jenem, der nicht an sie glaubt: ihm besonders.

Dies scheint mir im Übrigen auch die spezifischen pastoralen Handlungskonstellationen wie Beerdigung, Patenamt und allgemeine Seelsorge zu orientieren. Den Heilswillen Gottes einem Verstorbenen zuzusprechen ist geboten, es sei denn, er hat dies ausdrücklich sich verbeten, ebenso in der allgemeinen Seelsorge Ausgetretene als das zu nehmen, was sie sind: Gottes geliebte Kinder, sündhaft und heilig wie nur jeder und jede. Da das Patenamt das explizite „Ja“ zur Botschaft Jesu verlangt, ist dessen Übernahme wohl nur möglich, wenn dieses grundsätzliche „Ja“ trotz des Kirchenaustritts glaubhaft gegeben werden kann und zumindest anerkannt wird, dass die Kirche ein authentischer Ort dieser Botschaft ist.

Dem Konzil gelang der „Schritt über die Grenze“ nicht, weil es in unendlichem Liberalismus alle und jeden eingemeindete, sondern weil es ein Kriterium angeben konnte, das Kirche wie das Außen der Kirche gemeinsam umfasste und dem beide kritisch unterliegen: die hohe Würde des Menschen, seine durch ihn selbst gefährdete, aber gerade durch Gott garantierte Berufung. Aus ihr heraus folgt dann, so das Konzil, auch seine „Berufung zur Gemeinschaft mit Gott“: Sie ist selbst, wie es in Gaudium et spes 19 heißt, „ein besonderer Wesenzug der Würde des Menschen“.

Diese Rede von der Würde des Menschen als von Gott Berufenen bezieht sich nun aber nicht, wie der dogmatische Tauf- oder der kirchenrechtliche Strafrechtsdiskurs, auf die institutionelle Zugehörigkeit zur Kirche, sondern auf den zentralen Inhalt der kirchlichen Botschaft: auf Gott und seine spezifische Verbindung zum Menschen. Damit wird das Verhältnis zu den Ausgetretenen nicht über Kategorien wie Mitgliedschaft oder Nicht-Mitgliedschaft definiert, sondern über ihren Status im Zentrum des eigenen religiösen Diskurses und damit auch des eigenen Glaubens.79

Nur so verwickelt sich die Pastoral der Kirche nicht in das Paradox der beiden anderen Zugänge. Denn sie spricht nicht über die Ausgetretenen in Kategorien, welche die Kommunikation mit ihnen gleich wieder in Denunziation oder Vereinnahmung abbrechen lassen, sondern dieser Glaubensdiskurs von der unendlichen Würde des Menschen in der Liebe Gottes fordert gerade dazu auf, den anderen, so wie er ist, zu akzeptieren, so wie Gott es mit uns doch nach unserem Glauben auch tut. Erst auf der Basis dieser vom Glauben gebotenen Annahme der Ausgetretenen durch die Pastoral der Kirche ist dann die, immer ja auch wechselseitige, Korrektur hin zu mehr Glaube, Liebe und Hoffnung möglich.

Kann man in der Kirche erfahren, was sich am Leben ändert, wenn man an diesen Gott glaubt? Kann man in dieser Kirche erfahren, was an unserem Leben auf diesen Gott verweist, was zu seiner Erfüllung auf diesen Gott und seinen weiten Horizont angewiesen ist? Kann man in der Kirche jenes bedingungslose Angenommensein, das der Gott, den wir doch verkünden, uns schenkt und das alleine wirklich Veränderung, Umkehr ermöglicht, auch von uns als Geschenk erleben? Zumindest, dass das große Geschenk Gottes ahnbar wird?

Alle jene, die der Kirche den Rücken kehren, stellen an uns die Frage: Warum haben wir ihnen keinen Himmel und keine neue Erde eröffnet? Warum haben wir ihnen nicht das Geheimnis ihrer Existenz in Gott erschlossen? Warum haben wir ihnen nicht den Weg in das Abenteuer einer Existenz mit diesem Gott zeigen können? Sie fragen nach der Welt erschließenden Kraft unseres Glaubens und nach der Spiritualität unserer Existenz. Um sie müssen wir uns sorgen, nicht so sehr um Zahlen. Um Zahlen müssen wir uns sorgen, wenn sie den Verdacht aufkommen lassen, dass wir mehr zu sein scheinen, als wir sind.

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