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3.3 „Reformerische Reaktion“
ОглавлениеÖsterreich, nicht Deutschland, war mit dem „Kirchenvolksbegehren“90 Hauptauslöser der sogenannten „Wir sind Kirche“-Bewegung und damit eines recht öffentlichkeitswirksamen innerkatholischen Reformprozesses. Unter dem Motto „Wir sind Kirche“ ging er von Österreich aus und verbreitete sich mittlerweile in unterschiedlicher Intensität in Europa. Es gibt in Österreich, deutlicher und organisierter als anderswo, in der katholischen Kirche eine „loyale Opposition“. Ihre fast ein wenig naiv anmutenden Grundintentionen sind in den fünf Forderungen des erwähnten „Kirchenvolksbegehrens“91 des Jahres 1995 sehr schön abzulesen. Entstanden waren diese Forderungen als Reaktion auf die damalige katholikale Offensive, und zwar just zum Zeitpunkt von deren beginnendem, wenn auch damals noch nicht unbedingt absehbarem Scheitern.
Das „Wir sind Kirche“-Spektrum der österreichischen Kirche verkörpert exemplarisch das soziale Prinzip „Integration durch Dissens“. Niemand hat das intuitiv schöner ausgedrückt als der (damalige) Vorsitzende der Österreichischen Bischofskonferenz, der Grazer Bischof Johann Weber, als er bei der Übergabe der Unterschriftenlisten davon sprach, diese seien zwar einerseits ein „Alarmzeichen“, aber auch „zugleich ein Zeichen für die Vitalität, wie sie von vielen nicht für möglich erachtet wurde“. Man arbeite „weitestgehend ohne Probleme miteinander in der Kirche und für die Kirche“, das Kirchenvolksbegehren empfinde er als einen „heftigen Impuls, den man zur Kenntnis nehmen muss“.92
Die katholische Komplexität wird im Spektrum der „reformerischen Reaktion“ letztlich reduziert auf einen spezifischen Gegensatz zur Hierarchie auf dem Felde der „Modernität“. Vor allem aber: Man will von ihr Anerkennung und Zustimmung zur eigenen „moderneren“ Auffassung von Kirche und katholischer Religion. Das weist zum einen auf eine hohe Sensibilität für die kognitiven Dissonanzen mancher offiziöser und offizieller katholischer Positionen zu den spezifischen Grundannahmen der freiheitlich-demokratischen Gegenwartsgesellschaft hin, zum anderen aber auch auf eine anhaltend starke Kirchenbindung zumindest dieser Kreise. Anders gesagt: In dieser Generation war und ist die Kirche noch einmal stark genug, um profilierte Opposition zu generieren.
Dass so etwas wie eine organisierte „loyale Opposition“ bleibend innerhalb der katholischen Kirche entstand, hat zum einen mit der erwähnten „katholikalen“ Offensive am Schluss des 20. Jahrhunderts zu tun, zum anderen mit der spezifischen Verfassung des österreichischen Laienkatholizismus. Die Bischöfe Österreichs hatten nach 1945 – in dezidierter Differenz zu Deutschland – die programmatische Entscheidung getroffen, die durch den Nationalsozialismus aufgelösten katholischen Verbände nicht wiederzugründen und stattdessen die hierarchienähere Organisationsform des Laienkatholizismus als „Katholische Aktion“ weiterzuführen.
Sicherlich hat sich mittlerweile der Unterschied zwischen dem deutschen Laien- und Verbandskatholizismus (repräsentiert im Rätesystem und vor allem im „Zentralkomitee der deutschen Katholiken“93) und der österreichischen, sehr direkt hierarchieangebundenen „Katholischen Aktion“94 etwa aufgrund der nachkonziliaren Emanzipationstendenzen der KA und der unübersehbaren finanziellen Abhängigkeit des ZdK nach und nach nivelliert. Dennoch ist der „offizielle“ österreichische Laienkatholizismus ohne Zweifel immer noch deutlich eingebundener in die kirchlich-hierarchische Willensbildung und unter deren Einfluss als etwa der deutsche Laienkatholizismus, der immer wieder behutsam, aber regelmäßig seine differenten Perspektiven formuliert.95 Immerhin gibt es in Österreich keine primär von den Laien verantworteten „Katholikentage“ – zumindest nicht auf gesamtösterreichischer Ebene. Das lässt eine etwas größere Lücke „links“ des offiziellen „Laienkatholizismus“ frei als etwa in anderen Ländern. In dieser Lücke entstand dann auch das „Kirchenvolksbegehren“, in ihr vor allem fand es seine doch relativ große Resonanz.
In dieser Lücke existieren auch Reste eines spezifischen „Linkskatholizismus“. Der reduziert die katholische Komplexität – hierin übrigens gut katholisch – auf die polaren Auseinandersetzungsbögen mit der Hierarchie und ihre vermeintlichen oder realen Anachronismen und Selbstwidersprüchlichkeiten. Es geht um solch alte Themen wie Sexualität und Zölibat, „Frohbotschaft statt Drohbotschaft“ oder „Geschwisterlichkeit in der Kirche“, also schlicht um die Forderungen bürgerlicher Zeitgenossenschaft.
Die Weltwahrnehmung dieser „linkskatholischen“ Kreise ist geprägt von christlichem Sozialengagement, der Suche nach „Mündigkeit“ als Gabe der katholischen Hierarchie und überhaupt der Hoffnung, endlich als das anerkannt zu werden, was man wirklich sein will: zutiefst katholisch.