Читать книгу An neuen Orten - Rainer Bucher - Страница 30
3 Reaktionen 3.1 Anhaltender „Kulturkatholizismus“
ОглавлениеÖsterreich ist das Land mit einer jahrhundertelangen Verbindung von „Thron und Altar“. Die Habsburger garantierten die letztlich unumstrittene Vorherrschaft des Katholizismus, unterstützten die Gegenreformation, wenn es sein musste, wie in der Steiermark, auch gewaltsam. Das ist bis heute etwa im Stadtbild von Graz unmittelbar architektonisch wahrnehmbar, wo die „Stadtkrone“ mit herrschaftlicher Burg und bischöflichem Dom über der zeitweise protestantischen Bürgerstadt thront und das gegenreformatorische Priesterseminar wie das Hauptquartier einer Interventionstruppe demonstrativ sichtbar in den Hügel hinein gebaut wurde
Ein schönes Sinnbild des Bündnisses von „Thron und Altar“ ist der – ehemalige – direkte Verbindungsgang von Burg und Dom im 1. Stockwerk; dass er heute nicht mehr existiert, deutet freilich an, was auch ansonsten gilt: Die „katholische Benutzeroberfläche“ Österreichs und gar einer ehemals protestantischen und dann stark deutschnational geprägten Stadt wie Graz versteckt mehr die Wirklichkeit, als dass sie gegenwärtige Realität repräsentierte.
Der österreichische „Kulturkatholizismus“ verbindet allgemeine volkskirchliche Strukturmerkmale mit der spezifisch österreichischen kulturprägenden Kraft der dominierenden katholischen Religion. Definiert man „Volkskirche“ durch die Merkmale biografische wie gesellschaftliche Selbstverständlichkeit, Ressourcenreichtum und institutionelle wie personelle Nähe zur Macht, dann zeigt sich, dass die österreichische Kirche all dies besaß und partiell noch besitzt, aber gegenwärtig dabei ist, all dies zu verlieren.
Die Benennung „Kulturkatholizismus“ ist parallel zu jener des „Kulturprotestantismus“ gebildet. Dieser entstand bekanntlich, als die protestantische Theologie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts „zwischen reformatorischer Tradition und moderner, in der Aufklärung entstandener Kultur zu vermitteln“84 suchte. Genau das aber war auch das Programm von Josephinismus und „Katholischer Aufklärung“ in Österreich. Das Spezifische dabei: Diese Verbindung von Aufklärung und katholischer Tradition war eingewoben in das ältere Konzept einer großen Nähe von „Thron und Altar“, war mithin ein stark obrigkeitliches Konzept. War der Kulturprotestantismus vor allem ein Gelehrtenprojekt mit politischen Konsequenzen, so der „Kulturkatholizismus“ Österreichs ein Unterfangen der Herrschaft mit breiter Ausstrahlung in Wissenschaft und Künste hinein.
Natürlich wissen heute die im Umfeld der dauer(mit)regierenden ÖVP angesiedelten katholischen Kreise, dass es mit dem Kulturkatholizismus nach und nach vorbei ist.85 In Wien etwa haben laut Volkszählung 2001 die Katholiken und Katholikinnen bereits die Bevölkerungsmehrheit verloren.86 Zudem existiert in Österreich immer noch ein relativ starkes sozialistisches Milieu, und die Erinnerung an den Bürgerkrieg im Februar 1934 zwischen „Roten“ und „Schwarzen“ ist noch keineswegs völlig verblasst. Aber die Nähe der kirchlichen Repräsentanten zu wesentlichen Teilen der politischen Macht und umgekehrt die Nähe vieler Politiker zur Kirche, die Alltäglichkeit katholischer Symbole und Riten, die starke kulturelle Prägekraft des Katholizismus, all dies führt immer noch dazu, Österreich als „katholisches Land“ und in Österreich die Wirklichkeit durch eine irgendwie katholische Brille wahrzunehmen, was immer das dann im Einzelnen genau heißen mag.
Mag das alles, wie der aufmerksame Beobachter schnell spürt, viel weniger reale Substanz haben, als es scheint, so belegt doch gerade die aufrechterhaltene Katholizismusfiktion, wie stark das „kulturkatholische“ Konzept nachwirkt. Seine Wahrnehmungsstrukturen sind mehr oder weniger klassisch bürgerlich: wert- und leistungsorientiert, normalisierend und individualisierend und mittlerweile von kirchlicher Partizipation teilweise entkoppelt.