Читать книгу An neuen Orten - Rainer Bucher - Страница 36

1 In Ruinen: Der Machtkörper Kirche 101

Оглавление

Den Ruin der Kirchen in den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften erwarteten beide: der Marxismus wie, etwas vornehm-zurückhaltender, der Liberalismus. Beide scheinen sich einigermaßen getäuscht zu haben.

Und dennoch: Die katholischen Kirchen des Westens erleben ihre Lage als ausgesprochen krisenhaft. Dies ist nicht weiter verwunderlich und geschieht zu Recht. Vor allem macht der Kirche die epochale Umstellung der Vergesellschaftungsform des Religiösen in den entwickelten Gesellschaften zu schaffen. Das „Nutzungsmuster“ von Kirche hat sich bei ihren eigenen Mitgliedern grundsätzlich gewandelt. Es bricht zur Zeit jenes „konstantinische“ Konstitutionssystem der Kirchen zusammen, das sie immerhin seit der Spätantike durch alle geschichtlichen Brüche hindurch stabil und gleichzeitig flexibel gehalten hatte. Die Kirchen werden in den entwickelten Gesellschaften des Westens gegenwärtig von mehr oder weniger unverlassbaren Schicksalsgemeinschaften, in die man hineingeboren, hineinsozialisiert und notfalls hineingezwungen wurde, zu Anbieterinnen auf dem Markt von Sinn, Lebensbewältigung und Weltorientierung: stark und einflussreich immer noch, aber seit einiger Zeit eben auch erfolgs- und marktabhängig.

Weder personen-interne Sanktionsmechanismen, installiert etwa mittels einer „Pastoral der Angst“, noch drohende soziale Ächtung zwingen heute zu kirchlicher Partizipation. Die Lizenz, sich der Religion und ihren Institutionen gegenüber frei zu verhalten, ist nunmehr auch bei den religiöse Herrschaft durchaus gewohnten Katholiken und Katholikinnen angekommen. Dieser „Einbruch der Moderne“ traf gerade die katholische Kirche ziemlich hart. Die Schleifung ihrer im 19. Jahrhundert sorgfältig errichteten und theologisch abgesicherten Institutionsfestung in der Mitte des 20. Jahrhunderts hat sie einigermaßen überrascht. Die Kirchen müssen gegenwärtig schmerzhaft lernen, in den Ruinen ihrer ehemals triumphalen, nunmehr aber zerbrochenen Machtsysteme zu leben.

Wie weiter in dieser Situation? Vom modernen Wohlfahrtsstaat als Träger der fürsorglichen Daseinsregulierung beerbt, institutionell angesichts schwindender Mitglieds- und Partizipationszahlen eher überproportioniert und zunehmend unterfinanziert und innerhalb einer religiösen Landschaft, von der man nicht genau weiß, ob man eher den Säkularisierungsbefunden oder jenen einer religiösen Individualisierung und Deinstitutionalisierung glauben darf, werden die Kirchen des Westens zu nichts weniger gezwungen denn zur ziemlich weitgehenden Neuerfindung ihrer selbst. Das prekäre Teilnahmeverhalten der eigenen Mitglieder, welche zunehmend die je eigene Biografie und deren spätmoderne Kohärenzprobleme zur primären Bezugsgröße religiöser Plausibilitäten und Praktiken machen, zwingt die Kirchen zum grundstürzenden Umbau ihrer Konstitutionsprinzipien. Die Kirchen haben darin, über lange Zeiträume betrachtet, einige Erfahrung, wohl aber steht ihnen weniger Transformationszeit als früher zur Verfügung.

An neuen Orten

Подняться наверх