Читать книгу Die atlantische Magd - Ralf Blittkowsky - Страница 10

Juwel auf der Bahre

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Ein kurzes Summgeräusch weckte spätabends in schwach beleuchteter Pförtnerloge. Ein kreiselnder Armschwenk hin zum Telefon. „Wer da“, verschluckte sich der Pförtner in den Hörer hinein:

„Wir sind’s noch so spät. Los, mach‘ die Pforte auf! Neuzugänge sind im Anmarsch.“

Der Pförtner stutzte, ergänzte: „Willfährige, noch um diese Zeit?“

„Mann, sperr endlich auf, vitales Frischfleisch vom Feinsten wartet.“

„Ja, und, müssen die eben warten. Wisst ihr eigentlich, wie spät es ist?“

„Wohl nicht mehr mit uns gerechnet, wie? War nicht anders zu machen. Gottlieb ist zurzeit in Boston, und wir mussten wegen ihm ‘nen Abstecher dorthin einlegen.“

„Na, wenn‘s denn so ist. Ich probier‘ mal, vielleicht wartet ja oben noch einer auf euch.“

„Nicht auf uns, auf die Miezen.“

„Ja, ja, könnte sein, dass Dr. Howl so spät noch oben ist? Ich versuch’s mal.“ Wählgeräusche, dann kurzes Gespräch und die Rückfrage: „Wie viele sind’s denn heute wieder?“

„Das geht dich gar nichts an! Lös lieber dein Kreuzworträtsel weiter.“

„Mein Kreuzworträtsel? Der da oben will’s aber wissen.“

„Wenn’s denn so ist, sieben an der Zahl. Lass uns endlich rein, verdammt noch mal, wir brauchen auch mal Feierabend, außerdem ist’s kalt hier draußen. Äh, wo ist denn das nächste Motel in der Gegend?“

„Ein paar Meilen, einfach die Allee runter. Bevor ich‘s vergesse, der Aufzug eleviert heute nicht.“

„Was, bis in den dritten Stock? Eine haben wir auf der Bahre. Wurde ziemlich eng mit ihr im Kleinbus ab Boston. Gottlieb hatte es wohl mit der Dreißigjährigen eilig, frag mich, warum? Sieht nicht gerade zum Begeistern aus, die anderen Misses übrigens auch nicht. Verlegte Patientinnen, noch verheiratet oder schon geschieden, Witwen, erhofften sich Traumerfüllung die ganze Fahrt über. Die schicksten Reisen und die kostbarsten Präsente, nur weil sie sich vom Krankenbett aus zur Mitwirkung bei einem psychologischen Langzeitprojekt einließen, hä. Solltest mal sehen, mehr noch hören, wie etliche aus dem Häuschen sind, weil sie von Uncle Sam ausgewählt worden seien. Erst eine, dann zückten alle anderen ihre Lippenstifte, manikürten ihre Fingernägel, lächelten in ihre Taschenspiegel, um bei der Erstvisite möglichst gut auszusehen, verrückt, nicht? Ähm, bis auf eine, die Letzte, die lieber für Rabatz im Bus sorgte.“

„Na und, hier ist auch alles verrückt. Die erste Spritze wird schon einer nach der anderen die Kinnlade runterziehen. Ich, der Pförtner löse in diesem Moment den Tür-öffne-Mechanismus. Holt schon mal eure Fuhre und bringt sie der Reihe nach rauf, aber seid ja leise.“

„Ist der Aufzug wirklich kaputt?“

„Leise, willst du mich verulken?“

„Auf eurer vierten Station ist doch Tag und Nacht einiges los. Euer Betrieb geht doch gar nicht ohne Aufzug.“

„Fideler Frauennachschub wird wohl gesittet sechs Halbtreppen heraufzuschaffen sein. Nur bis zur Dritten, verstanden, sonst ist der Ärger bei mir.“

„Na gut, zuerst die Miezen, dann die Gouvernanten. Ruf noch mal Dr. Howl an, sag, dass wir nahen und er seine Zimmertüren mit freien Betten schon mal öffnen soll. Die Letzte aus Boston war auf der Fahrt hierher zu neugierig. Kam alle paar Meilen nach vorne, fragte, wohin wir mit ihr denn führen. Sie wollte wirklich ihr kleines Schicksal im Voraus von uns Fahrknechten ausgebreitet haben, man stelle sich das Mal vor. Als wir uns schweigend zublinzelten, statt ihr zu antworten, forderte sie uns auf, unverzüglich anzuhalten. Im Dunkeln, auf offener Straße, stell dir auch das mal vor. Da haben wir sie eben verschnürt und nach ganz hinten gelegt. Mann, keine Tour ohne Strapaze, ich sag‘s dir.“

„Eure Sache, ihr müsst nur liefern.“

Der Pförtner wählte launig zurückgelehnt erneut Dr. Howl’s Zimmernummer im dritten Stock. Nach kurzer Wartezeit nahm der Neurologe ab, hörte, ohne etwas zu sagen: „Sie holen gerade ihre Fuhre, eine nach der anderen, Dr. Howl. Einen Moment noch Geduld, dann wird die Erste oben sein. Soll ausrichten: Sieben Neuzugänge sind zu belegen.“

„Sieben, was? Auch wir Ärzte wollen mal Feierabend machen, dass Gottlieb das nicht begreifen will.“

„Warum bloß denkt spätabends jeder an Feierabend? Müssen Sie wohl mit seiner Majestät himself ausmachen, warum die Fuhre so spät eintrifft.“

„Gottlieb, ist der etwa auch dabei?“

„Nö, der scheut das Dunkel, wenn‘s um Neuzugänge geht.“

„Na ja, dann werde ich wohl mal wieder. Moment mal, auf dem Gang schließt eine Tür ab, ich höre es rollen. Das kann nur Schwester Grace sein. Was für ein Glück, so spät nicht allein auf Station zu sein.“

„Sie wissen, was das ist, Glück? Los, Doktor, erzählen.“

„Später, jemand scheint schon oben anzuklopfen. - Ja, am Eingang ist wer. Howdy, ich muss mich beeilen.“

Dr. Howl knallte den Hörer auf die Gabel, öffnete und rannte zur Zimmertür hinaus auf den matt beleuchteten Stationsflur, sich Richtung Eingang orientierend.

In Nähe der Eingangstür öffnete sich eine Zimmertür und heraus trat eine dralle Schwester Grace, dunkelhäutig, einen Kopf kleiner als Dr. Howl:

„Na, Doc, kommt spätabends noch ‘ne Lieferung an?“

„Ja, was meinen Sie, weswegen ich noch hier bin. Einer muss die Aufnahme doch gegenzeichnen.“

Kurz darauf entriegelte der Neurologe die Stationstür und vernahm die schlaff klingende Stimme des ihm bekannten Fahrers:

„Wieder alles Weiber, Doktor. Wir bringen sie nacheinander rauf und verteilen sie gleich dorthin, wo‘s passt. Wobei …“

„Wobei …?“

„Die letzte Lady, weswegen wir so spät kommen, wehrt sich mit Händen und Füßen, aus dem Bus auszusteigen. Wenn Sie mich fragen, Typ nachtaktiver Temperamentsbolzen.“

„Ha, das kann sie nicht nur, das wird sie bei uns fortsetzen. Nur herein mit ihr.“

„Sie scheint aus einer anderen Quelle als sonst zu kommen, scheint gesund und fidel zu sein. Wenn Sie mich fragen, der fehlt nichts.“

„Dich fragt aber keiner.“

„Keine Ahnung, warum Gottlieb sie uns noch aufhalste? Vielleicht eine, die was aushalten kann?“

„Lass das! Von Gottlieb? Wer weiß, welches Potenzial Gottlieb an ihr erkannt hat. Wenn du wüsstest, wie wenig wir über Groß-, Mittel- und Kleinhirn wissen und wie viel wir noch zu erforschen haben, und dann zum militärischen Nutzen, oh je.“

„Sie tun mir echt leid, Doc, wirklich. Ich brauch nur zu lenken, Gas geben, auf den Verkehr zu achten, aber Sie?“

Dr. Howl warf dem Fahrer einen fragenden Blick zu, wechselte schroff das Thema.

„Woher?“

„Spielt das noch ‘ne Rolle?“

„Natürlich! Ob aus Groß-, Kleinstadt, Land oder Dorf? Jeder Neuzugang spielt für uns ne‘ außerordentliche Rolle. Die vom Land können bei Weitem mehr aushalten als Ladys aus der Großstadt. Die aus den Vorstädten wieder mehr als die aus den Citys. Nicht auszudenken bei denen vom Land. Da ist noch mal, ungeachtet regionaler Unterschiede, alles anders. Die USA sind vor allem weit. Anderes Homeland, andere Psyche. Du glaubst gar nicht, wie sehr soziale Herkunft, Temperament und Bildung die Dichte der Gehirnströme prägen. Wer vorher nicht viel begriff, deren Synapsendichte erhöhen wir auch nicht durch noch so intensive Behandlung. Mentale Unterschiede verhalten sich oft wie plätschernder Bach und reißender Strom zueinander.“

„Die wir hierher kutschierten, ticken fast alle gleich, außer der einen, die vorhin anfing, im Wagen Rabatz zu machen. Sonst lauter Spekulationen, was sie zum Dank, dass sie sich dem Staat zur Verfügung gestellt zu haben, pekuniär und materiell erwartet.“

„Wir sind doch schon alle auf falsche Versprechungen reingefallen, oder?“

„Was, Sie auch, Doc?“

„Um naiv zu bleiben, braucht niemand sich quälen zu lassen.“

„Klar, nur hat Gottlieb bei der Letzten … Brauchte wohl nicht akquirieren? ‚Sei ihm vor die Linse gelaufen‘, stotterte er mir vor, während seine Leute sie unter seinem Dabeisein in den Bus verpflanzten.“

„Ach … ja, wie stellt Gottlieb sich das nur vor, ein paar Amphetamine, ein bisschen Brainwashing, und Resultate sprudeln nur so? Warum nur hält er sich nicht an seine eigenen Vorgaben? Er hat sie doch selbst formuliert: ‚MK-Ultra‘ soll Geheimdienstarbeit revolutionieren, von den Füßen sozusagen auf den Kopf stellen. Nur, weil ihm konventionelle Spionagearbeit nicht schnell genug vorankommt, meint er, mit seinen ewigen Appellen mentale Beschleunigung bewirken zu können. Gut Ding will Weile haben, halte ich dagegen. Die CIA holt seit Jahren Naziärzte in die USA, um den Fortschritt psychiatrischer Forschung am lebenden Hirn auszudehnen, moralisch zu entgrenzen, wofür unsereins zu zögerlich zu sein scheint. Schikanöse Humanpenetrationen, welche Tür du auf dem Flur über uns auch öffnest. Gottlieb wird geadelt, dabei lässt er menschliche Bestien produzieren. Und wir leiden an dieser abgefeimten Schizophrenie.“

„Stellt sich da jemand gerade vor einen Katapult, Doc?“

„Oh, Verzeihung, schon spät. Was ich gerade erwähnte, bleibt unter uns, dass das klar ist. Ich bleibe natürlich ein subalterner Medizinpraktiker, der Dimensionen von Gehirnforschung nur mäandernd mitvollzieht. Ein Weißkittel, der verwegen am menschlichen Gehirn forscht, aber sonst sein Maul hält. Einer von vielen, der nur Amplitudenausschläge vergleicht, aber sonst zur vorwärtsdrängenden Maschinerie des Bösen lächelt. Einer, der Erfolge, Fortschritte preist, die nicht wirklich welche sind.“

„Vielleicht bewirkt Ihr Lächeln ja das Falsche?“

„Zweifelhaft. Ich ahne, dass Gottlieb auf glühenden Kohlen sitzt. Wer ihn finanziert, will Erfolge, am liebsten Leichenberge ohne Verdienstmedaille, sehen. Du kannst von mir aus jede Zimmertür, auch oben, öffnen, Gottlieb hat nichts wesentlich Vorzeigbares im Kasten. MK-Ultra klingt zwar schön bedrohlich, aber der geheimdienstlichen Praxis verweigert es sich nach wie vor. Nichts, als leere Versprechen fürs Militär, so sieht’s aus.“

„Vielleicht macht ihm das ja gerade Spaß, weil er in Langley Wunder der Spionage der Zukunft versprechen kann? Weil ihn schäumender Applaus zu noch hinterlistigeren Praktiken der Gehirnmanipulation antreibt?“

„Wo hast du das nur her?“

„Nicht, Doc! Ich bin der Falsche, um mir Ihre Gedanken zu machen, nur ein, Kurier, sozusagen, ein Hermes für Gottlieb, der nach erfolgreicher Lieferung am Leben bleibt.“

„Scherze kannst du dir nicht nur zu fortgerückter Stunde sparen, kapiert!“

„Schon gut, schon gut, ist schon etwas seltsam, wie sich dieser CIA-Kopf für eine wer weiß wie Zugelaufene engagiert. Zum Abschied rief er uns noch etwas merkwürdig zu: „Wir sollten auf die Frau besonders achtgeben und Ihnen gleich bei der Ankunft mitteilen, dass sie etwas Besonderes sei. So eine laufe ihm selten vor die Füße und sei geradezu ein Juwel für MK-Ultra!“

„Was ist denn mit Gottlieb los? Sonst ist ihm, was er uns herschickt, so was von egal. Nur Resultate dürfen, nein, müssen wir liefern.“

„Vielleicht ‚Juwel auf der Bahre‘, oder so? Ein kleines Problem mit ihr gibt‘s noch.“

„Wie, Probleme sind sofort zu lösen, niemals anzukündigen.“

„Na klar, wird uns überall eingebläut. Kurz, nachdem wir in die Allee einfuhren, wachte ‚Gottliebs Juwel‘, sag ich mal, hinten im Bus auf. Sie kam nach vorne gerannt, fiel mir fast ins Lenkrad, rumorte und bedrängte uns: ‚wo sie sei‘, ‚was man mit ihr mache‘, und so. Mein Kumpel stellte sie gleich still und schleppte sie unter Protesten zurück zu ihrem Platz. Wir wollen die Frauen so schnell wie möglich loswerden und hochbringen.“

„Quatsch nicht so viel mit dem müden Doc, sondern fangt endlich an, eure Fuhre hochzubringen. Bevor die siebte Frau ganz außer Rand und Band gerät, bring sie am besten als Erstes in den Dritten. Wir kümmern uns schon weiter um ‚Gottliebs Juwel‘, zu komisch!?“

„Habt ihr nicht zufällig eine Kapsel, um sie kurzfristig stillzustellen, falls sie uns widerspenstig kommt? Sie schreit sonst noch das ganze Treppenhaus zusammen.“

„Schreie hören wir hier genug in allen femininen Tonlagen und Lautstärken. Lass dir ‘was einfallen, auch ausgelassene Frauen lassen sich bändigen. Sag ihr, es seien ihre letzten bewussten Zuckungen, oder so ähnlich. Das hilft, äh, macht die Resolute erst mal mundtot. Na los, worauf wartet ihr noch, Matratzen sind zwar geduldig, wir aber nicht.“

Nach etwa einer Viertelstunde pochte es erneut heftig an der Stationstür. Wieder traten Dr. Howl und Schwester Grace fast gleichzeitig vor die Eingangstür, um sie zu öffnen. Dr. Howl’s Miene zog sich erschrocken zusammen, als eine hagere, ausgemergelte, blonde Frau mit strähnigen Haaren ihren nach hinten gebeugten Hals dem Neurologen entgegenreckte. Aus dem verwischten Lippenstiftmund ragte eine verschmutzte Serviettenspitze heraus und ihre Hände waren auf dem Rücken zusammengeknotet. Dicht hinter dem weiblichen Neuzugang erklärte der burschikose Beifahrer, sich entschuldigend: „Anders war‘s nicht möglich, sie lärmfrei nach oben zu bugsieren. So viel Energie, wie die noch im Leib hat, Mann. Passen Sie bloß auf, Dr. Howl. Auf keinen Fall losbinden, sie scheuert Ihnen sonst eine, eh‘ Sie sich versehen.“

Die vorgeführte Frau war niemand anderes als Ann Lindemann. Sie spukte die Serviette dem Weißkittel vor ihr ins Gesicht und schimpfte aggressiv:

„Ich scheuer‘ keinem eine. Nur will ich endlich wissen, was ihr verdammten Kerle mit mir vorhabt. – Sie sind doch Arzt, tragen einen weißen Kittel, Stethoskop ragt aus der Kitteltasche. Lasst mich endlich los, ich bin eine freie Amerikanerin!“

„Das sollst du auch wieder sein, wenn du das hier hinter dir hast. Aber, ohne dass hier durchzumachen, geht’s halt nicht.“

„Was soll das werden, gehören Sie etwa auch zu denen?“

„Na, was wohl, Miss?“

„Euch Mistkerle zeige ich wegen Freiheitsberaubung an, worauf ihr wetten könnt.“

„Natürlich, Freiheitsberaubung? Wir ermöglichen dir Freiheiten, gleich mehrere, wie du sie noch nicht erlebt hast. Alles andere kannst du dir aus deinem possierlichen Köpfchen schlagen. Müsste mal ‘n‘ Friseuse dran, zu lang. Ich darf doch du sagen? Wir duzen übrigens alle hier auf Station.“

Dr. Howl fasste den Neuzugang am Arm, zog Ann einige Schritte in den schwach beleuchteten Flur hinein. Drehte sich nach ein paar Schritten um und fragte erstaunt, ohne sich umzudrehen: „Was ist? Die Nächsten, sechs sind es wohl noch, warten. Um das ‚Juwel‘ hier kümmere ich mich schon.“ Und etwas kleinlaut im Weitergehen: „Mal sehen, ob wir mit unserem Juwel unsere Forschung krönen können.“

Eine Zimmertür ging auf. ‚So, das wäre geschafft – bezugsfertig.‘ Als Schwester Grace Dr. Howl sah, wie mühselig er den Neuzugang Schritt für Schritt voranzog, erschrak sie regelrecht. Doktorenempathie kam so außergewöhnlich ‘rüber, dass Schwester Grace sich nachdenklich am Kopf kratzte. Sodann im derb verrutschten Kommandoton sagte: „Lassen Sie, Doc, federleicht für mich! Widerspenstigen Neuzugängen trainiere ich schon Stationsraison von der ersten Minute an. Erst recht, wenn sie noch so jung sind, nicht wahr?“ Sie beugte sich zu Ann, streichelte ihre Wange.

Dr. Howl ließ seine Neuaufnahme unverzüglich entgleiten. Schwester Grace zog sie schwungvoll zu sich herüber und schob sie gehässig giftend ins nächstgelegene Zimmer:

„Am besten vergisst du dein widerspenstiges Wesen auf der Stelle. Lange verfügst du sowieso nicht mehr darüber, verstehst du das.“

„Wie sprechen Sie mit mir überhaupt? Vorgestern war ich noch Sekretariatsleiterin.“

„Was hast du gesagt, mich gesiezt? Bild‘ dir nicht ein, dass ich dich dafür hinter einen Vorhang stelle, wenn’s bei uns losgeht. Du vergisst mich, und ich vergesse dich schon sehr bald, abgemacht?“

„Nein!“

„Was, nein? Das Wort gibt’s auf Station nicht. Auch wenn du noch so schreist, heulst, lärmst – dich hört hier niemand, kapiert! Mauern sind dick, und wir sind taub, tragen alle, tagein, tagaus Ohrenstöpsel. Leg‘ dich da aufs Bett und halt endlich die Klappe. So viel kapierst du doch noch?“

„Sie, ich lass mir den Mund nicht verbieten. Von einer wie Ihnen schon gar nicht!“

„Posaun dich ruhig aus. Was ich dir versprechen kann, das waren deine letzten Aufschreie! Präg sie dir gut ein, deine Allerletzten! Schon in wenigen Stunden wird alles anders für dich werden, versprochen. Für dich, nicht für mich. Und wenn ich früh sage, meine ich früh!“

„Und wenn ich mich nicht daranhalte.“

„Wer hat uns denn bloß so was Aufsässiges beschert? Oh, am liebsten würde ich dich in unseren Kühlraum sperren. Dir noch vorhandene Aggressivität mit Thermometertiefen austreiben. Na gut, ich bin ja nicht so. Da steht dein Lager – Matratze, Laken, Kissen, Decke. Kannst dir schon mal ausfantasieren, was vor Sonnenaufgang mit dir passieren wird.“

Schwester Grace drehte im ansonsten kargen Raum das Licht aus, verschwand zur Zimmertür hinaus und schloss ab. Auf dem Gang waren mehrere Schritte zu hören, dann einige verwunderte Frauenstimmen, und der nun bekannte Nordstaatendialekt von Schwester Grace glänzte mehrmals hintereinander mit prächtigstem ‚Willkommen‘.

Kurz vor Sonnenaufgang. Ann hatte mehrere Stunden unausgezogen liegend, ohne zu schlafen, frierend und hungrig auf der notdürftig hergerichteten Bettmatratze verbracht.

Auf einmal häuften sich Schritte auf dem Stationsflur. Weibliche Schwestern- und männliche Pflegerstimmen, welche Morgengrüße austauschten und sich untereinander informierten, dass Neuzugänge noch spätabends eingetroffen seien.

Erstes Flurlicht drang durch die untere Türritze. Rollen auf blankem Flurboden, immer wieder abgesetzt, Türen wurden auf- und zugeschlossen. Neben dem Öffnen mit ‚wie geht’s heute‘ oder ‚ein neuer Tag‘ quetschten sich angstvolle, gequälte Schreie von oben an der Decke in das bedrückend machende Stationsgeschehen.“

Schließgeräusche ließen Ann zur Zimmertür sehen, und schon knallte sie gegen die Wand. Im Lidschatten linste Ann ein hosentragendes Pflegergrün, das einen Rollwagen rückwärts ins Zimmer hineinschob, das Licht andrehte und sich umdrehend feststellte:

„Oh, Neuzugang!? Wer hätte denn damit gerechnet, leider noch alle Kleider an, hm? Das sollte doch das Erste sein, was Neuzugänge ablegen sollen. Alles, was du bei uns brauchst, ist ein weißer Kittel, gewaschen und gebügelt. Ihn hat wohl die übermüdete Nachtschwester vergessen, dir aufs Bett zu schmeißen. Ja, ja, auf Station vergisst es sich auch so leicht!? Macht nichts, bekommst du von mir eben einen – weiß und durchsichtig, ha, ha. Obwohl, spätestens nach der zweiten Behandlungswoche ist der Augenschmaus futsch, und du siehst nur noch schwarz. Keine Sorge, fürs Flecken wegmachen, lieben uns Doktoren und Schwestern. Bei Verschmutzungen, oh, aber zürnen sie uns. Tja, so ist das hier. Du brauchst dir aber keinen Kopf zu machen, wirklich nicht. Die Oberen zeigen dir schon, wo du dich hineinzwängen musst. Nach ein paar Wochen reagierst du auf Lächeln als sei es ein tätlicher Angriff, versprochen.“

„Hör auf, dummes Zeug zu reden“, sperrte sich unvermittelt die Zimmertür auf.

„Du verunsicherst Neuzugänge nur mit deinem dummen Gequatsche.“

Die Zimmertür fiel wieder ins Schloss, schleichende Schritte, einen Rollwagen schiebend, entfernten sich auf dem Stationsflur.

„‘Dummes Gequatsche‘, so was muss man erst mal verkraften. Bloß nicht dran stören, Kittel kommt …“ Der junge Pfleger murmelte: „Alles andere brauchst du sowieso nicht mehr, kapiert. Dein Letztes, was du vorerst vom ‚reallife‘ behalten wirst“, setzte der junge Pfleger vor dem Bett stehend fort.

„Niemals, ich will hier raus! Ich werde längst in Boston vermisst! Buchstaben, Sätze torkeln ohne mich nur so durcheinander. Warum formuliere ich das überhaupt als Imperativ, ich gehe einfach, angekleidet bin ich ja noch! Wie jung und unerfahren Sie auch sind, machen Sie mir den Platz endlich frei.“

„Sie hat mich gesiezt? Wie lange ist es wohl her, dass mich das letzte Mal jemand gesiezt hat? Aber unvorbereitet den Platz freimachen, das kann ich nicht, das darf ich nicht! Spekulier‘ ja nicht auf meine Sympathie. Die hab’ ich nämlich nicht mit euch von Beginn an Leidenden. Solltest du dir sonst noch Schönes einbilden, ausgeträumt! Du rührst dich nicht von der Stelle, kapiert!“

„Sie? Mit dir hab’ ich gar nichts zu tun, Kleiner, kapiert. Sag, wie komm‘ ich hier am schnellsten raus? Es soll auch nicht umsonst sein.“

„Wohl ein schwieriger Fall, wie? Ich hol‘ dann mal rasch einen Kittel, und du ziehst dich in der Zwischenzeit aus – restlos, nackt bis auf die Knochen! Wenn ich wiederkomme, will ich keine Kette mehr am Hals baumeln sehen, kapiert? Alles auf den Boden, wenn nicht, hole ich Verstärkung! Ich stöbere nicht, ich schnuppere nicht. Mahlt sowieso der Schredder nachher, schneller als du vergisst, was du am Leib hattest.“

Der junge Pfleger hielt kurz inne, wartete ab, ob die Frau gehorche. Ann sah ihrerseits zum Fenster, ohne zu reagieren. Als die Wartezeit offensichtlich verstrichen war, setzte er genervt fort:

„Los, worauf wartest du noch, Miss Unbekannt, he. Aus der Traum, fang schon mal an. Weißkittel haben wir hier en masse gestapelt! Mein Flurinstinkt sagt mir, dass unsere Doc‘s Renitenz nicht lange dulden werden. Aufs Wort zu parieren ist nur zu deinem Zweck. Mach schon, noch andere Neuaufnahmen warten auf mich.“

„Was ist mit Essen? Ich hab’ seit gestern Morgen weder getrunken noch gegessen.“

„Was, gestern Morgen bloß? Na ja, die Doc‘s wollen oben ja auch keine Skelette durchrütteln. Ich seh mal nach, was sich da machen lässt. Zum Füttern muss ich dich aber verlegen. Warum sie dich ausgerechnet hier reingeschoben haben, du bist doch kein Solitär, oder?

„Füttern, was erlaubst du dir, Kleiner?“

„Schon wieder renitent. Das wirst du doch schon gemerkt haben, deine Chancen sinken mit jedem Wimpernschlag gegen null. Ich schiebe dich jetzt sofort ins Mehrbettzimmer für Neuaufnahmen. Noch ’n bisschen Gesellschaft atmen bis zur Anästhesie! Ab dann Krämpfe, Herzattacken, Thrombosen, nur Juckreiz brauchen unsere Doc‘s am wenigsten, merk dir das schon mal. Darum, nur darum – ein Begrüßungsmahl! Präg es dir gut ein, es wird dein Letztes mit Messer und Gabel sein. Danach nimmst du auf, was durch Schläuche fließt.“

Der junge Pfleger schwang die Zimmertür weit auf, entsicherte die Bettrollen, drehte den Neuzugang schwungvoll Richtung Zimmertür und schob ihn in einen bereits betriebsamen Stationsflur. „Umdisposition! Du kannst den Kopf ruhig auf dem Kissen liegen lassen, es ist nicht weit.“ Eilig schob der Pfleger das Bett voran und quatschte weiter:

„Was es hier zu sehen gibt, ist sowieso nur der Vorhof allen Übels! Ein Potenziometer nur eine Skaleneinheit weit drehen, heißt, schweißtreibend durchlittene Jahre aus dem Gedächtnis zu wischen. Wovon du aber nicht die Spur merken wirst, das verspreche ich dir. Wird wohl noch paar Tage dauern, bis du soweit bist. Ich kann so unbekümmert reden, weil du sowieso bald schon alles vergessen wirst, was ich dir vorschwatze. Egal, ob Schrott oder Wissen durch Synapsen fließen, hier wird alles gesäubert, radikal! Nutzt gar nichts, dir zu überlegen, was du nicht mehr brauchst und vergessen willst, ha. Die röhrenden und hämmernden Maschinen über uns machen da keinen Unterschied. Momentan herrschte Stille oben. Vorbereitung auf die nächste Langstrecke. Ich hör‘ es tagtäglich, man gewöhnt sich schließlich an alles, und du wirst es schon bald erleben, ist das nicht toll? Ach ja, Gedankenreste, etwas wird wohl hängenbleiben bei dir da oben.“

Der Pfleger tippte kurz auf Anns Stirn, dann setzte er fort: „Wer hier so rumläuft, will schließlich kein Unmensch sein. Noch machen wir Menschen Fehler. Auch das Böse, was keinen Fehler zulässt, ist uns also aufgezwungen worden. Das menschliche Gehirn kennt übrigens keine unique Hirnregion, sondern nur räumlich getrennte Hirnareale für Langzeit-, Kurz-, Arbeitsgedächtnis und so weiter. Höhere als unsereins forschen hier dezidiert an der neurophysischen Manipulation einzelner Arealtypen.“

„Wie, bitte?“ Ein männlicher, grauhaariger Weißkittel trat aus einer geöffneten Zimmertür heraus.

„Oh, ein Doc, so früh schon auf den Beinen?“

„Erzähl ihr nicht solchen Schwachsinn, Junge. Unsere Fälle brauchen nicht zu erfahren, was mit ihnen in Kürze passiert, noch dazu aus so unberufenem Munde wie deinem. Du richtest höchstens Schaden mit deinen Fantasien an.“

Eine Schwester, die etwas auf eine Karte notierte, drehte sich kurz in Schieberichtung, blickte den Pfleger zornig an, wandte sich wieder ihrer Karte zu.

„Ok, Mam, hörst du, Schwachsinn, kannst du also wieder vergessen“, nickte der Pfleger in Richtung Rollbett, und schob es weiter.

„Bin keine Mam, lauter durchlittene Jahre in den Vierzigern. Welchen Zweck soll das hier haben?“

„Oh, Zweck, wer hat mich schon mal nach Zweck gefragt? Seltsam, noch hört man nichts. Über uns wiederholen sich Sessionen rhythmisch, oft rund um die Uhr, und in kurzen Pausen. Hier unten analysieren Ärzte nur Messergebnisse von oben und bereiten euch medikamentös auf traumatische Erlebnisexkursionen vor. Viele Zacken – ausbaufähige Psyche, und so weiter. Wir sind auch gleich da!“

„So ähnliche Geräte, wie sie hier stehen, hab’ ich schon mal gesehen, nur in einem anderen Zusammenhang. Auf Messen, glaub ich.“

„‘Auf Messen‘, wohl Synapsenknäuel in der Birne? ‚Fang keine Unterhaltung mit einer Patientin an – Regel Nummer 3. Es wird nicht nur ihrer, es wird auch dein letzter Talk sein.‘ Keine Sorge, deine Temperamentsreste werden auch so früh genug gebändigt werden. So sehr, dass du Temperament nicht nur nicht mehr vermisst.“

„Wie, bitte?“

„Auch das noch, Schluss jetzt, wir sind an deinem neuen Wartedomizil angelangt. Die anderen werden dich wohl nicht stören. Begeistert euch ruhig, sinnt meinetwegen, dass das Schicksal euch noch eine Schonfrist gewährt.“

„Kann gar nicht sagen, was mich alles stört.“

„Kannst du in spätestens zwei Tagen deinem Traumprotokoll anvertrauen. Je höher Amplituden auf das Mikrozoll genau ausschlagen, desto mehr Adrenalinzufuhr, durchrüttelte Panik, Angst rast vom Hirn aus durch den Körper hindurch bis hinunter zu den Zehenspitzen. Schlägt an, was Doktoren mit dir vorhaben, erzitterst du dir schnell ihre Gunst, andernfalls … Umgekehrt wäre äußerste Gefahr in Verzug!“

Der Pfleger öffnete die frontale Zimmertür, schob das Rollbett bis an die hintere, weiß getünchte Wand. Auf dem Nebenbett saß eine schlanke, dunkelhaarige, jüngere Frau im Schneidersitz und meditierte. Als der Pfleger sich an den Bettrollen zu schaffen machte, entfaltete die meditierende Frau ihre Hände, wandte sich zu ihm um und fragte impulsiv: „Was passiert mit uns? So hab’ ich mir das angekündigte psychologische Projekt, mit dem uns der Mund wässrig gemacht wurde, nicht vorgestellt. Warten, frieren und hungern hinter verschlossenen Zimmertüren, was ist denn das für ein Stil? Und was sind das für affige Kittel, die man uns aufs Bett geschmissen hat? Sollen wir die etwa anziehen? Wie man hier mit uns umgeht, grauenhaft, ja, skandalös! Wir waren vor unserem Transport hierher längst noch nicht genesen und brauchen weiterhin medizinische Pflege, jawohl! Wir hatten doch vorher haarklein vereinbart, wie es auf der neuen Station laufen sollte. Und, seht, was ist daraus geworden?“

„Natürlich habt ihr, nur mit wem? Ich bin nur ein einfacher Pfleger, darf schieben, aber sonst das Maul halten!“

„Wo ward ihr denn letzte Nacht, nachdem sie uns hier eingeliefert haben“, fragte eine hell klingende Frauenstimme, die in ihrem Bett nicht zu sehen war.

„Ganz einfach, ihr sollt euer Schicksal noch nicht vor Augen bekommen, sondern euere letzte Nacht vollkommen ereignislos in aller Stille verbringen. So wird Zorn am eindringlichsten schwinden.“

„Habt ihr das gehört, Mädels, Schicksal?“

„Kommt bei uns hinterher, falls ihr deswegen mal hadern solltet. Je intensiver euer Leiden ist, desto größer wird euer Schicksal sein – einfache Regel. Zuerst wird ein Zungenschutz aufgesetzt, dann rütteln, schütteln, solange das Getriebe es aushält.“

„Das glaub ich jetzt nicht. Mädels, habt ihr alle zugehört? Sagt auch mal was.“

Auf dem hinteren Bett ruckelte sich eine Ältere in den Sitz, forderte in einem nuschligen, kaum verständlichen Louisianadialekt:

„Zuerst wird jede von uns gesund gepflegt, dann erst können Ärzte mit uns machen, was sie wollen, ha, ha. Oder wollt ihr unsere Skelette sofort? Wenn nicht, dann serviert uns endlich, auf was unsere knurrenden Mägen viel zu lange schon warten. Überhaupt, was sind das für verzweifelte Schreie, zischenden und pulsenden Geräusche von oben an der Decke? Das sind doch weibliche Schreie, nicht? Wen haltet ihr da oben gefangen?“

„Nein, gefangen nicht, so was klingt anders. Die Laute von oben klingen schlimmer als erbärmlich“, entzürnte sich eine sich aufrichtende Frau.

Der Pfleger antwortete herumdrucksend:

„Weiß nicht, wer oben gerade in die Mangel genommen wird. Ein paar Betten haben wir wohl auch mit labilen Männern belegt.“

Wutschnaubend zeigte die Frau im Schneidersitz auf die soeben hineingeschobene Frau aus dem Kleinbus: „Was ist mit der? Was habt ihr mit ihr angestellt, nachdem die Fahrer sie zuerst heraufbrachten?“

„Ann Lindemann“, rief Ann laut in den Raum hinein und bäumte sich auf ihrem Rollbett hoch.

„Oh, keine Namen“, herrschte prompt der Pfleger, raketenschnell nachsetzend: „Vor- und Nachnamen braucht ihr auf Station absolut nicht mehr. Wie ihr im ‚reallife‘ geheißen habt, vergesst ihr besser alle, so schnell es geht. Nur die Nummer zählt bei uns auf Station! Jede von euch bekommt nachher ‘ne fünfstellige Nummer. Schreibt es euch hinter die Ohren, Ladys: Auswendig lernen nutzt gar nichts! Nach Tagen wird alles, was ihr noch im Gedächtnis habt, sowieso in dröhnender Kakofonie untergegangen sein. Nummern nutzen nur zur Orientierungshilfe für Doc‘s, Schwestern und uns Blödis. Wir müssen ja wissen, wer von euch auf dem Stuhl sitzt oder auf der Plane liegt, welche Spritze Schwestern injizieren und welche Pillenmixtur unsereins vorbereiten soll. Oh, Verwechslungen gehören zum Schlimmsten, was uns passieren kann, aber, hol mich der Teufel, sie passieren trotzdem.“

„Das geht zu weit, davon wurde uns nichts gesagt! Den Chefarzt, aber schnell, Jungchen! Uns kann keiner für dumm verkaufen! Frieren, hungern, Zeit vergeuden, und das irgendwo in Vermont als Steuern zahlende Bürgerinnen der Vereinigten Staaten von Amerika, wie passt das zusammen?“

„Zeit vergeuden, wie geht denn das?“

„Was geht, Bübchen. Bürgerinnen der Vereinigten Staaten unbegründet zu sanktionieren etwa? Außerdem, was macht die Schwarze in unserem Zimmer?“

„Hab’ irgendwo aufgeschnappt, vor dem Gesetz sind alle gleich. Diesmal aber scheinen ja wirklich einige Prachtexemplare im Zimmer versammelt zu sein?“

„Ich will kein Prachtexemplar sein, ich will frei sein! Ihr habt euch getäuscht.“

„Euer ganzes System hat sich geirrt. Lasst uns endlich frei! Wir finden unseren Weg schon von selbst.“

„Um die Übel der Welt zu bekämpfen, müssen auch mal wohlsituierte Amerikanerinnen dran glauben. Nicht jede taugt dafür, was ihr bevorsteht – Kollateralschaden, und unsereins kann sehen, wohin mit euch, nicht lustig. Freut euch doch, die Auslese steht euch allen noch bevor. … Verdammt, ich sag jetzt nichts mehr.“

„Das Beste, was du machen kannst, Kleiner.“

Unter aggressiven Protesten schnellte der junge Pfleger aus dem Mehrbettzimmer in den Stationsflur zurück.

Nach einer zermürbenden halben Stunde schoben zwei ältere, gewichtige Pfleger einen turmhohen Tablettwagen ins Zimmer und stoppten in der Bettmitte.

Sechs Frauen reckten sich hoch, erwarteter Verpflegung entgegengierend. Der noch dickere Pfleger wuchtete das obere Tablett polternd auf den ihm nächstgelegenen Nachtisch. Gespannt folgten Blicke seiner Servierbewegung, bis die Erste so Bediente den Deckel über dem Teller anhob:

„Was, das soll ich essen? Was wird das hier, uns zum Skelett abmagern? Unverschämtheit! Ich will den sprechen, der das hier leitet, unverzüglich!“ Der Pfleger näherte sich mit gefülltem Tablett dem zweiten Bett.

„Euren Fraß braucht hier keine mehr! Ihr braucht uns nur die Kleidung zurückzugeben, schon sind wir hier draußen!“ Aus einer Zimmerecke flocht wer ein:

„Ja, weg und bye die Katz! Setzen uns ins nächste Restaurant und beratschlagen, wie wir euch drankriegen. Juristisch, mein Schatz kennt einen!“

„Was die mit uns machen, ist kriminell! Seit gestern Mittag habe ich nicht mehr zum Allmächtigen gebetet! Was der bloß zu so viel Verrohung sagt? Noch nicht mal regnet es. Wo bleibt der Donner, wo das Grollen? Ich hoffe, seine Magnifizenz lässt mich nicht allein.“

„Buddha schweigt nur, angesichts dessen, wie man hier mit uns verfährt! Mein Magen knurrt zu sehr, als dass ich meditieren kann. Wo ist eigentlich Osten?“

„Dort, wo die Sonne heute Morgen aufging …“

Nachdem die beiden Pfleger stumm Tabletts auf sieben Bettablagen verteilt hatten, beeilten sie sich, das Zimmer wieder zu verlassen. Der Letzte ließ die Zimmertür geräuschvoll ins Schloss fallen, kurz darauf ging sie wieder auf. Ohne sich zu zeigen, informierte die Pflegerstimme barsch:

„Bevor ich’s vergesse, gleich ist eure erste Visite, also bereithalten!“ Damit fiel die Zimmertür erneut ins Schloss und verbarrikadierte die Ausweglosigkeit der Zimmersituation. Kurz darauf öffnete sich die Zimmertür erneut, aber ohne hineinzusehen, stellte eine dunkle Bassstimme fest:

„Oh, hab’ ich was übersehen. Ihr habt euch ja alle noch nicht eure Kittel übergestreift.“ Dann wurde die Zimmertür wieder zugeschlagen, und sogleich abgeschlossen.

Minuten später rotierte erneut der Schlüssel im Schloss und ein noch unbekannter Pfleger stürzte ins Zimmer hinein. Er orientierte sich kurz, dann warf er einen weißen Kittel auf Ann Lindemanns Bett, die abwartend auf dem Bettrand saß und ihre Beine gelangweilt herunterbaumeln ließ. Am langen Arm kommandierte der junge Pfleger ungehobelt: „Ausziehen, sofort! Ich komme gleich wieder und hole alles, was du am Körper trägst, ab. Alles, kapiert, die anderen auch! Wenn ich wiederkomme, will ich euch in Kitteln sehen.“

„Wie oft soll ich es noch wiederholen? Keiner von euch hat mich zu duzen, du Lauser, du am wenigsten. Wenn ich will, kann ich gehen, wohin ich will! Nur noch den Typ, der das ganze Desaster hier zu verantworten hat. Ihm möchte ich in die Augen sehen, ihm dann eine scheuern. Also los, worauf wartest du noch, zisch ab und sag Bescheid, dass wir warten, stante pede!“

Ohne sich von der Stelle zu rühren, befahl der Pfleger scharf: „Auskleiden!“

„Auskleiden, ah so, warum nicht? So jung, wie du bist, hast du bestimmt noch nicht so viele Frauen sich entkleiden sehen, oder?“

„Ich, was spielt das für ‘ne Rolle?“

„Zeig’s ihm, Ann, knöpf alles auf!‘, tobte es auf einmal im Zimmer los. Ja, zeigen wir es ihm alle! Ein Jüngling, der sich von unserer nackten Pracht verführen lässt. Yeah, wir wollen sehen, wie er rot anläuft. Kommt, Mädels, entkleidet euch, feiern wir ein Fest!“

Der junge Pfleger blickte verunsichert Ann an. Außer Kontrolle sauste sein entgeisterter Blick zwischen den Wänden hin und her. Ganz und gar außer sich rannte er kurz darauf in den Stationsflur zurück, ohne die Zimmertür hinter sich abzuschließen.

Spontan setzte sich Ann Lindemann ihm nach in Bewegung. Sie ging durch die offene Zimmertür und lugte abwechselnd in beide Flurrichtungen.

Hinter ihr rumorte es plötzlich auf. Von ‚wir können uns doch nicht so einfach wegstehlen‘ oder ‚ohne meine Sachen gehe ich nirgendwohin‘ bis ‚das wird unsere letzte Chance sein, denen zu entkommen‘ ereiferten sich Mitinsassinnen.

Was Ann auf dem Stationsflur zuerst hörte, dann sah, ließ sie im Türrahmen wieder zurücktreten. Ein Schwesternpulk näherte sich, bedrohlich aussehend, im Schnellgang. Die vordere Schwester fuhr, als sie die offene Zimmertür erreichte, Ann an: „Was machst du denn hier?“ Barsch, ohne auf Antwort zu warten, setzte sie nach: „Wer hat die Zimmertür nicht abgeschlossen? Ann zurück ins Zimmer drängend und herrisch ins Zimmer eintretend, gefolgt von weiteren fünf Schwestern, geiferte sie, sich im Zimmer umsehend: „Wohl kleinen Aufstand proben, wie? Ist ab sofort Tabu, euren Zirkus könnt‘ ihr veranstalten, mit wem ihr wollt, nur nicht mit uns, kapiert.“

Die einen Kopf größere, dürre, wohl Oberschwester, näherte sich Ann, baute sich vor ihr auf und wies sie an: „Ausziehen, sofort! Wir glotzen alle, wie du das Exempel für die übrigen renitenten Weiber abgibst. So viel anderes als uns hat der Allmächtige dir auch nicht zugebilligt.“

Ann warf der Schwester kurz einen ihrer widerspenstigen Spezialblicke zu, der sonst jede in die Schranken gewiesen hätte. Dann griff sie stumm ihre Sachen vom Fußende, strich sich übers Haar und setzte an, zu gehen.

„Was machst du denn jetzt? Hab’ ich nicht …“

„Sie, gnädige Frau, sagten doch soeben, dass ich ausziehen soll? Was mache ich denn nun wieder falsch? Das Treppenhaus runter und durchs Portal, nicht? Auf Dank verzichte ich, war nicht nett hier, also kein Stern für das Haus.“

„Du blöde Kuh! Ausziehen heißt, sich zu entkleiden, nichts anderes. Bis auf die Haut! Die Zeit drängt.“

„Oh je, meine auch! Werd in Boston bestimmt schon vermisst! Wo ist denn der nächste Bahnhof hier? Vermont ist groß, nicht?“

„Spinnst du jetzt total? Du bleibst hier! Draußen wird es für dich vorerst nicht mehr geben.“

Schon im Gehen drehte sich die Schwester noch mal um. „Kurzanästhesie, gleich! Kommt gleich, prüft kurz, ob ihr überhaupt rein physisch aushalten könnt, was auf euch droht. Tragen alle einen Doktorhut! Na, was glotzt du noch, du resistentes Balg? Hast du etwa einen Doktorhut?“

„Nein, aber mein Bruder.“

„Habt ihr gehört, ihr Bruder, süß, nicht? Als ob dir das noch was nützt. Also, los kehrt … oder, nein, wir nehmen dich gleich mit und bringen dich noch mal woanders hin. Auf so viele Zimmer, wie du in kurzer Zeit kennengelernt hast, kannst du dir kurze Zeit was einbilden. Muss nur noch sehen, welches. Tross marsch!“

Mit der letzten Schwester fiel die Zimmertür ins Schloss und das Schließgeräusch des Schlüssels beschloss das Gefangensein der sieben Neuaufnahmen.

Während Zimmernachbarinnen hin und wieder stöhnten, schimpften oder fluchten, setzte sich Ann Lindemann auf einen lehnenlosen Holzstuhl an die Fensterbank, sah zum Fenster hinaus auf einen nahen Waldrand. Sie blickte Fußgängern auf einen mäandernden Spazierweg nach, die nach und nach der gegenüberliegende Nadelwald schluckte.

Keine fünf Minuten später eilten klappernde Schritte über den Stationsflur, stoppten vor der Zimmertür, schlossen sie hastig auf. Die Zimmertür hämmerte, fast schon konventionell, gegen die Wand, und zwei trainierte Pflegeathleten, im wahrsten Sinne des Wortes, ergossen sich massiv ins Mehrbettzimmer.

Die beiden Kerle bauten sich fast schon gedrillt an Kopf- und Fußende auf, drohten ihrem Fall wortlos, mitzuspielen. Anscheinend beeindruckt zog Ann sich nackt aus und den ihr hingeschmissen Kittel an, dann legte sie sich auf die Matratze. In Nullkommanix wurde die Gedemütigte mit breiten Gummibändern an Unterschenkel und Oberkörper auf dem Bett fixiert, sodass sie nun vollkommen bewegungslos dalag. Zum Schluss stopfte ihr der Fettere von beiden ein Wolltuch in den Mund.

Ihren Trenchcoat warf sich ein Pfleger über den Arm, wobei ihre Brieftasche zu Boden fiel. Kaum bückte der Pfleger sich, streckte ihm eine noch unbekannte Schwester ihre offene Handfläche entgegen und winkte mit Fingern der rechten Hand auf Herausgabe. Demütig aufsehend händigte der Pfleger das Requisit der Schwester aus.

Die Schwester blätterte in Anns Brieftasche herum, die wenigen Geldscheine mit dem Daumen kaskadierend, dann lächelte sie kurz in Richtung des Bettes. Den Führerschein zückend, las sie, ihn am langen Arm vor sich haltend, laut vor: Ann Lindemann, Sekretärin, ledig, geboren am 28. April 1922 in Whitewater, Wisconsin - 31 Jahre alt, wohnhaft: Boston.

„Siehst‘e, das haste nun davon“, spottete die Schwester, im Zimmer auf und ab stolzierend.

„Passiert halt mit jeder, die anfangs glaubt, sich zu sträuben.“ Zur Tür gewandt, kommandierte sie dann: „Fertig zum Abtransport! Mal sehen, ob wir ein Zimmerchen für dich noch frei haben? Bild‘ dir bloß nichts drauf ein? Ach, du Schreck, die Nummer? Du hast noch keine Nummer. Na, die generieren wir nachher. Ich wollte dich erst einmal im Kittel bibbern sehen. Auch das noch? Du hast Glück, die Fahrenheit pegeln draußen gar nicht so tief.“

Kurz darauf verschwand die Schwester wieder.

Richtung Decke lärmte es in den verschiedensten Tonarten und -höhen, brummte, zischte es. Immer wieder begleitet von eiligen Laufschritten, Rufen, durchmischt von kurzen oder langen Schreien, mal mehr, mal weniger laut, ruckartig, aufbegehrend, seufzend, klagend, verängstigt, panisch und Mark erschütternd. Unterbrochen von Stille, Sekundenstille, Minutenstille. Dann ein Laut, ein Ton, eine Kakofonie nachklingender Schmerzlaute setzte urplötzlich wieder ein. Wellte über allem zusammen, gischtete ein paar Mal wie gegen Felsen und zerstob in wabernder Stille, ähnlich sanft angezupfter Basssaiten.

Ann wachte erst wieder auf, als sich ein Schlüssel im Schloss drehte. Sofort beim Eintreten schimpfte die dürre Schwester sie an:

„Aufsässigkeit wird bei uns nicht belohnt, hast du wohl schon mitgekriegt, wie. Schlag dir das aus deinem Kopf, den Smokings in den Citys wohl für süß gefunden haben. Schminken ist für dich ab sofort Geschichte! Was ich nicht kann, sollst du auch nicht können, kapiert.“

Bei ‚Geschichte‘ fing die Schwester gellend an, zu lachen. Kriegte sich erst wieder, als ein schlanker Weißkittel die Zimmertür öffnete, kurz hineinsah, sich räuspernd auf Deutsch ‚Oh, Entschuldigung‘ sagte und die Zimmertür wieder schloss.

„Das eben war einer der Neuen auf Station! Verspäteter Naziimport aus Westdeutschland, letzte Woche erst uns vorgestellt! Ließ sich seine Begrüßungsrede ans Personal übersetzen, man stelle sich das Mal vor. Auf den sind sie wohl ganz stolz. Na, ob zu Recht, wirst du sicherlich noch am eigenen Leib spüren, wenn du dich vor ihm auf der Plane wälzt und rekelst! ‚Mann für die härteren Fälle‘, hieß es bei seiner Vorstellung.“

Ohne Weiteres zu tun, ging die Schwester wieder und sperrte hinter sich zu.

Bis die Zimmertür erneut aufgesperrt wurde, dauerte es keine Viertelstunde. Kaum, dass Ann das Geräusch des Schlüssels im Schloss hörte, ruckelte sich Ann neugierig in Sichtlage, um zu sehen, wer da eintrat.

Ein schlanker, etwa fünfzigjähriger Mann in weißem Arztkittel, mit Stethoskop um den Hals zeigte sich kurz in der einen Spalt weit geöffneten Zimmertür, trat dann ein und ließ hinter sich die Zimmertür ins Schloss fallen.

‚Dr. Howl‘ las Ann in Liegeposition auf dem Namensschild über seiner rechten Brusttasche. Seltsam, auf Station trug sonst niemand ein Namensschild!?

Dr. Howl folgte verwundernd ihrem Blick auf sein Namensschild. Mit einem ärgerlichen ‚verflixt‘ zupfte er das Namensschild in aller Eile von seiner Brust und ließ es in der Kitteltasche verschwinden. Beängstigend lange ließ er seinen abschätzenden Arztblick von Kopf bis zu den Füssen über Ann schweben. Dann fragte der Neurologe in etwas rauen Dialekt des Mittleren Westen, sie dabei freundlich anlächelnd:

„Oh, wann haben Sie sich denn umgezogen? Mir hat man vorhin etwas anders erzählt. Übrigens kennen wir uns schon von gestern Nacht.“

Der Arzt siezte sie in diesen Räumen, noch eine Seltsamkeit mehr.

„Sie brauchen auch nicht zu antworten. Ohne Kittel würden Sie mich nicht mal zu Gesicht bekommen. Wenn ich schon mal hier bin, können wir gleich mit einigen Präparationen beginnen. Sie machen einen gesunden Eindruck auf mich, wenn ich sie so liegen sehe, wie kommt’s?“

„Weiß nicht, als ich wieder aufwachte, saß ich in einem Bus, welcher Boston gerade verließ.“

„Was wollen Sie auch in Boston? Wir, der Staat, braucht junge Frauen wie Sie, mit dem gewissen Knistern vor allem im Hirn. Sie lassen sich doch nicht alles gefallen, so was spricht sich hier wie ein Lauffeuer rum. Ein Schmuckstück, nachdem, was Gottlieb mir notiert hat, ja, und was mir in anderen Zimmern so vor die Linse kommt, zudem.“

Ann beobachtete jede Bewegung Dr. Howl‘s stumm aus ihrer Liegeperspektive. Der Arzt blickte sie an, wartete auf Antwort, ohne aber was zu sagen. Als keine kam, registrierte er unpassend locker:

„Na, dann nicht! Es ist auch nicht nötig, mit mir zu kommunizieren. Es braust ab sofort sowieso alles wie von selbst durch. Bei uns ist alles Routine, kontrollierte Nützlichkeit, voll automatisiert, so anders als in der realen Welt!“

Dr. Howl fummelte in seiner rechten Kitteltasche, während sein abschätzender Arztblick nicht von blassen, ausgemergelten Gesichtszügen Anns abließ. Ann meinte, ein leichtes Lächeln zu bemerken, während Dr. Howl in seiner Kitteltasche fingerte. ‚Ein aufflackerndes Männerlächeln, das ich schon kenne, also Vorsicht!‘, überlegte sie sich scharf. Als der Arzt wohl gefunden hatte, was er suchte, nickte Dr. Howl und sagte zu ihr:

„Jetzt fange ich auch noch an? Ach, an das laute Geschrei über uns brauchst du dich nicht zu stören! Das sei unser privates Tonstudio, trösten wir uns einfach immer wieder hier auf Station.“

Vollkommen unvermittelt spürte Ann plötzlich des Arztes Zeigefinger, wie er über ihre rechte Wange streichelte. Spontan zuckte Ann weg und der Arzt zog ebenfalls seine Hand zurück. Er flüsterte: „Du kommst hier sowieso nicht mehr raus. Es wäre besser für dich und für uns, von Anfang an mitzuwirken. Dich nicht mehr zu sträuben, und uns, was notwendig ist, zu überlassen.“

„Was passiert gerade mit mir? Ich will raus, weg von hier, wieder in Freiheit sein.“

„Oh, wir hier sorgen für deine individuelle Freiheit, natürlich nur eingebildet, Fantasie, Imagination, pur und in Farbe. Du wirst dich nach den ersten Sessionen so frei fühlen, wie du dich noch nie frei gefühlt hast, vertrau‘ mir.“

„Ich vertraue niemandem mehr, seit ich hier gefangen bin.“

„Gefangen? Welch düsteres, unseriöses Wort. Bis du ins Konzert einsteigst, dauert es noch ein paar Tage. Wir müssen erst erfassen, zu welchen Belastungen deine Anima fähig ist.“

Dr. Howl schaute auf seine Armbanduhr.

„Huch, so viel Zeit schon mit dir verplempert“, sagte er ärgerlich, mehr zu sich: „Befürchte, das wird heute nichts mehr.“

„Was reden Sie da? Ich verlasse das Hospital auf der Stelle, und Sie sorgen dafür, dass ich das Haus ungehindert verlassen kann.“

„Uns verlassen? Das lass ruhig mal unsere Sorge sein. Wir schicken dich schon früh genug auf Reisen. Abenteuerreisen, wofür du kein Gelenk mehr brauchst. Soll doch schön sein, wenn du wieder aufwachst, nicht? Auch wenn die stahlharte Gesichtsmaske dich schmerzvoll in die Realität zurückholt. Kapier‘ doch, du kannst hier nicht mehr weg. Je schneller du dich anpasst, desto schöner werden deine Träume sein. Wenn du dich noch länger verweigerst, trichtern wir’s dir unter rücksichtslosen Zwang ein! Für uns übrigens nicht mehr als eine Potenziometerdrehung! Störende Neuzugänge blockieren übrigens immer wieder den Stationsbetrieb. Wir sind also drauf eingestellt, es muss ja weitergehen. Lass es dir gesagt sein: Nichts hilft mehr! Kennst du vermutlich auch, ‚einmal am Haken …‘

„… immer am Haken! Das werden wir ja sehen. Ich bin kein Fisch, und ihr spannt kein Netz über mich aus! Meine Sachen, und bin ich weg.“

Gleichzeitig schwang Ann hoch, streckte noch gelenkig beide Beine über die Bettkante, hievte sich mit einer Bewegung in den Sitz.

„Hm, muss wohl die Zügel anziehen, wenn Reliabilität nichts nutzt!“

„Wie, bitte?“

„Dass du das noch Fragen kannst? Ach, so ein idiotisches Seminar ‚Umgang mit besonders renitenten Patientinnen‘. Leg dich wieder hin! So schnell kommst du hier nicht raus! Wände aus Beton, Türen verschlossen. Keine Chancen, wegzulaufen! Solltest du es trotzdem schaffen, wird dir niemand zuhören. Im übertragenen Sinne forschen wir hier zugunsten amerikanischer Volksgesundheit, großzügigst ausgestattet.“

„Menschenversuche finden hier doch statt, oder?“

„Menschenversuche, ja und? Wie sollen Psychiater, Hirnanatomen, Neurologen und Röntgenmediziner anders analysieren und Theorien aufstellen, was sich da oben (Dr. Howl tippte an Anns Stirn) alles abspielt? Jeder Mensch, Mann oder Frau, ist anders, denkt anders, und dazu noch die abstrusesten Verschaltungen in verschiedenen Hirnregionen. Du musst dich also nicht befleißigen, uns das Forscherleben noch schwerer zu machen als vitale Gehirnforschung schon ist. Wenn wir euch nicht hätten, tappten wir noch mit puren Vermutungen über Hirnfunktionalitäten ..., na ja, schon Morgengrauen ahnend.“

„Vitale Gehirnforschung? Ihr habt wohl noch nicht raus, wie ihr diese Angstschreie geschundener Geschlechtsgenossinnen, nicht wahr, abstellen könnt?“

„Oh, für uns sind das oben keine Angstschreie, eher Gratmesser des Erfolgs. Je fremd wirkender über uns geschrien wird, desto erkenntnishaltiger verläuft eine Session. Am Lautpegel sind sie alle zu wiederzuerkennen. Auch du, wenn es so weit ist, versprochen!“

„Was ist mit Misserfolg? Hier werden doch Menschen …“

„Frauen, momentan liegen nur Frauen auf Station.“

„… auf das Grauenhafteste gefoltert? Schon vergessen, was über dem Steinadler im Wappen der USA geschlängelt steht: E pluribus unum (Aus vielen eines)?“

„Ja und, auf der Rückseite steht: Novus ordo seclorum (eine neue Ordnung der Zeitalter). Ordnung, Ordnung, Ordnung ist noch nie vom Himmel gefallen. Ordnung durchzusetzen, braucht Wille, und den zu verlieren, bist du nur einen Schluckreiz weit entfernt. Unsere Welt ist, was der Fall ist!“

„Die ...die Welt ist, was der Fall. Dieser Österreicher …? Verflixt, mir fällt sein Name nicht ein?“

„Wenn’s dich tröstet, dir wird hinterher noch mehr nicht mehr einfallen.“

„Wie? Wittgenstein, jetzt hab’ ich’s.“

„Was für ein sonderbarer Fall Du doch bist. Das hat Gottlieb wohl richtig eingeschätzt.“

„Dieser diabolische Stotterer aus Boston, nicht? Kein sonderbarer Fall! Habe nur einen älteren Bruder, der alles las, was zwischen zwei Buchdeckeln passte. Nach seinen Lektüren erzählte er jedes Mal feurig davon.“

„Deutsche Eltern, in den USA geboren und aufgewachsen, nicht? Dieser belesene Bruder ist wohl älter als du?“

„Was interessiert das noch? Menschversuch hin oder her, ich höre doch, dass da oben Menschen liegen und von euch bestialisch gefoltert werden?“

„Wir, und foltern? Wir forschen, betreiben Wissenschaft am lebenden Menschen. Foltern erledigen bei der Firma nur die mit den niederen Instinkten. Schau mich nur an, siehst du Blut, Schleim, Rotz an meinem Kittel? Alles weiß, lupenrein! Solltest dir auf Station ein Schmutzpartikel aufgefallen sein, sag‘s mir! Ich bin der Erste, der den Feudel nimmt und es wieder wegmacht. Schon was gesehen, seit sie dich herbrachten, nein?“

„Wie wird hier bloß mit uns umgegangen?“

„Ha, sagen wir, wir orientieren euch auf Disziplinanforderungen nach unseren Maßstäben – von Gottlieb konzipiert: gleitende Vorbereitung, gesteuerte Abwicklung! Einige stellen sich anfangs ein wenig sperrig an. Wie krumme Drähte, die noch die richtige Krümmung ins Loch finden müssen.“ Der Arzt schaute auf seine Armbanduhr: „So spät, wenn ich so weitererzähle, verliere ich noch meine Motivation aus dem Blick.“

„Motivation?“

Was Dr. Howl geflissentlich überging:

„Die erste Kapsel kann dir ich wohl schon geben. Dein Eintritt ins Reich der Träume, ha.“ Dann, lauter befehlend auf das Bett zeigend: „Leg dich wieder hin und nimm das.“

Dr. Howl’s linke Hand schnellte in die Kitteltasche und wieder heraus, und hielt Ann eine grüne Kapsel vor die Nase: „Nimm das. Schlucken musst du sie schon selber. Ich bleib hier, bis es geflutscht hat.“

„Ohne Wasser?“

„Ist das ein Problem für dich?“

Statt sich die Kapsel in den Mund stecken zu lassen, schob Ann die Arzthand von sich fort. Doch der Neurologe gab nicht klein bei, sondern schaute geradezu hypnotisch auf seinen widerspenstigen Fall, wies ihn an:

„Nimm‘ die Kapsel, sofort und ohne Widerrede! Hab’ vergessen, zu sagen, du musst schon morgen an die Schläuche! Ab morgen lediglich verlaufsdosierte Nahrungsaufnahme per Infusion, auch parenteral, falls der Verdauungstrakt sich mal weigert.“ Auf was nichts folgte.

Wie ein Magier nun die Kapsel zwischen Zeigefinger und Daumen balancierend wiederholte er, Ann drängend: „Nimm schon! Zur Begrüßung harmlos! Für das, was folgt, brauchst du Kraft, zunächst aber ausreichend Schlaf.“

Flink schnappte Ann die Kapsel aus der Arzthand. Dr. Howl sah reglos mit an, wie Ann selbst die Kapsel zwischen Daumen und Zeigefinger balancierte, ihm entgegenhielt und ihn mitleidig angrinste.

Abschätzenden Schnappbemühungen wich Ann mehrmals geschickt aus, den Neurologen weiter verärgernd. Geduld, zum Bersten im Anschlag, kläffte Dr. Howl wutentbrannt barsch: „Was soll das? Du sollst sie schlucken, nichts weiter!“ Was natürlich nichts bewirkte. Ann balancierte vergnügt die Kapsel weiter zwischen Daumen und Zeigefinger, den nächsten Zugriffsversuch gespannt abwartend.

Dr. Howl schnappte noch ein paar Mal nach der Kapsel. Bis er mit aufgehaltener Hand befahl: „Schluss mit den Spielchen! Gib her!“

Plötzlich drang aus dem Flur eine laufend lauter werdende Frauenstimme: „Dr. Howl, Telefon. Der Neurologe wartete einen Augenblick, akklamierte dann verärgert: „Was gibt‘s denn jetzt schon wieder?“ Schon die Türklinke heruntergedrückt, drehte er sich noch mal um und hinterließ, bevor er hinausrannte: „Leg dich ruhig wieder hin, aber wenn ich wiederkomme, hast du die Kapsel intus!“

„Ohne Saft?“

Dr. Howl drehte sich noch mal im Türrahmen erstaunt um, schüttelte leicht mit dem Kopf, hinterließ: „Ohne Wasser“, und verschwand.

Eine aufgeregt erklärende Frauenstimme drang vom Stationsflur ins Zimmer. Der Schlüssel fuhr ins Schloss, die Zimmertür wurde abgeschlossen und Schritte entfernten sich, heftig auf den Doktor einsprechend, im Stationsflur.

Spontan schnellte Ann in den Sitz, die Kapsel in ihrer zur Faust geballten Hand und zwängte sie am Fußende zwischen Bettgestell und Matratze. Anschließend ließ sie sich wieder auf das weiße Laken zurückfallen und zog die Bettdecke über sich.

Noch bevor sie Schlaf fand, fuhr ein Schlüssel erneut ins Schloss. Die Zimmertür sprang auf und Dr. Howl eilte lächelnd ins Zimmer hinein:

„So, das hätten wir geschafft? Renitenz gebrochen, dann können wir ja loslegen.“

Dr. Howl stellte sich an die Bettkante, führte, ohne auf Widerstand zu achten, mit angewinkeltem Daumen ihr Kinn näher zu sich hoch, Anns Pupillen fixierend. Ein Blick genügte, um sich zu ereifern: „Verdammt, wo ist sie?“

„Was denn“, wisperte Ann schwach, unschuldig unter ihrer Bettdecke.

„Na, was wohl, die Kapsel? Wir sind doch hier nicht auf dem Broadway, wo jede tun und lassen kann, was sie gerade will! Dass du keine Kapsel genommen hast, sehe ich auf einen Blick! Keine Wirkung! Kein Lidzucken, keinen Dämmerzustand! Gespannt mich fixierend, als begegneten wir uns … na, auf ‘nem Jahrmarkt, so was? Gerade das sollte vermieden werden, aber ist es wohl nicht. Glotzt keck, wie ich mich vor ihr weiter insinuiere! Na, dir werd‘ ich‘s zeigen! Mich wegen einer Kapsel zur Lachnummer machen wollen. Dieser harmlos scheinende Blick? Verdammt, wo ist sie, die Kapsel? War ich vorhin nicht resolut genug, dass ich derart mit mir spielen lasse? Also, die Kapsel, her damit. – Nichts, keine Reaktion, du brauchst nur eine Pupille nach links oder rechts zu verschieben, anzudeuten, wo ich suchen soll.“

Warten auf eine Reaktion, welche aber ausblieb.

„Noch nicht mal das, kein Dezimalinch für mich übrig, wie? Na, wollen wir mal sehen?“ Dr. Howl‘s Stimme wurde lauter: „Na, dann fühlen wir selber mal nach. Wer auf einer Matratze liegt, hat nicht so viele Ritzen als Versteck, wie?“

Während Dr. Howl bedrohlicher, als ob Blicke geißeln könnten, Ann weiterhin beobachtete, krabbelten seine Finger am Kopfende unter die Matratze, aber sie erspürten auch nach Minuten offenbar keinerlei Erfolg. Was Dr. Howl‘s Bariton prompt zu einer alternativen Findemöglichkeit veranlasste: „Du könntest die Kapsel auch auf der anderen Matratzenseite versteckt haben, nicht? Was hältst du davon, wenn ich mich über dich beuge und da mal mein Findeglück versuche?“

Mit steigendem Puls erspürte Ann jede tastende Fingerbewegung des über sie sich beugenden Arztes gespannt. Schweiß rann, Augenlider schlossen sich. Dr. Howl spürte ebenfalls Anspannungs-, Angstsymptome. Schnellte genervt hoch und ereiferte sich mit aufgehaltener Hand: „Wo ist sie? Würde uns viel Zeit ersparen, wenn du mir auf der Stelle sagst, wo die Kapsel geblieben ist.“

Ann rückte sich in Sicht: „Ich hab’s satt, dieses grässliche Gesuche!“

„Na, dann nicht! Ruf‘ jetzt Pfleger, sollen die das Bett mal umdrehen. Was alles dabei zu Boden fällt, kannst du dir sicherlich ausmalen. Ich hab’ nicht mitgezählt, wie oft ich mich wiederholt habe, zum letzten Mal, wo ist die Kapsel?“

Trotz Mattigkeit feuerte Ann einen hasserfüllten Blick in Richtung des selbst ernannten Zimmerdiktators. Dr. Howl stutzte, beugte sich zum Fußende, zog etwas hervor und animierte staunend:

„So ’n Pech, da ist sie ja, die vermisste Kapsel! Ausgerechnet, wenn die Stimmung am höchsten schwingt. Nun noch einmal, Augen zu, und wir haben auch dich in Nu gefügig gemacht. Bald schon wirst du nicht mehr bei Bewusstsein erleben, wie alles automatisch abläuft!“

„Und ich?“

„Du, erträumst dir Geschichtchen, mal groß, mal klein. Du brauchst nur zu früh deine Wimpern aufschlagen, und wir werden über deinen Zustand alarmiert sein. Ist bisher auf Station noch nicht geschehen, soweit ich weiß, aber du könntest die Erste sein.“

Dr. Howl positionierte sich streng hinter Anns Bett, sodass sie ihn nur ahnen und hören, aber nicht sehen konnte. Dann stellte er lamentierend fest:

„Wenn ich recht überlege, bräuchten wir das putzige Ding gar nicht mehr. Die hier sollte bloß dir die Munterkeit nehmen! Wir können, nein, müssen die Phase überspringen. Laut Ablaufplan sollten Pfleger dich schon längst zum Röntgen geschoben haben. Bevor wir dein Oberstübchen in Angriff nehmen, wollen wir sichergehen, dass du den ersten Sessionen überhaupt standhältst. Schade, wenn nicht, schließlich sind wir keine Unmenschen!“

„Unmenschen?“

„Keine Unmenschen, verflucht noch mal! Unmenschen würden jemand wie dich direkt bewusstlos spritzen und stundenlanger Gehirnwäsche unterziehen, ohne deinen Gesundheitszustand, deine Eignung für das, was kommt, jemals geprüft zu haben.“

„Eignung, ich bin außerordentlich geeignet! Leitende Sekretärin …“

„Ich weiß, hatte Gottlieb noch auf den Übergabeschein gekritzelt. Ist doch ausgezeichnet gelaufen, dein Leben, bisher jedenfalls.“

„Jedenfalls keins, von Katastrophen gesäumt.“

„Denkst du, wir werden eine Ausnahme machen deinetwegen? Niemals, schätze, auf ein ausentwickeltes, lebendiges Frauenhirn dürfen wir uns sobald, wie möglich, freuen. So eine, wie dich, haben wir hier auf Station selten. Sehr selten, Nadel im Heuhaufen! Auf jeden Fall, Zeit, zu beginnen, es sind schließlich noch andere da, die auf mich warten. Verkürzen wir also das Ganze! Eine Spritze, und du entschwebst für die nächsten Stunden!“

„Nichts wird in mich hineingespritzt! Ich bin gesund, und ich bleibe gesund! Was ihr mit mir vorhabt, ist absurd! Ich verschwinde jetzt auf der Stelle.“

„Dass du deine Chancenlosigkeit nicht erkennst? Das ist seltsam, passt nicht zum Bild, das ich mir nun machen konnte. Wisch und weg! Du kannst dich deiner Gehirnwäschesessionen sowieso nicht mehr erwehren. Jede Session ein paar Takte mehr!“

„Quälen wollt ihr mich, Gehirnwäsche, wie abscheulich! Verzichte, ich gehe mindestens einmal pro Woche zum Friseur, da hab’ ich genug Kopfwäsche! Was macht ihr eigentlich, wenn sämtliche Frauen, die ihr durchgequält habt, plötzlich andere sind, als ihr euch vorgestellt habt?“

„Auch noch mental Aufbegehren, wie? Wir liefern nur andere, sich fremd Gewordene ab, was dann mit euch passiert, verantwortet Gottlieb alleine. Überhaupt, was geht dich das noch an? Du wirst auch am Prozess teilnehmen und hinterher würdest du dich du dich nicht mehr wiedererkennen, aber dann ist es sowieso passé! Du bleibst hier, keine Widerrede! Moment, bin gleich wieder bei dir.“

Dr. Howl drehte sich zur Zimmertür um, riss sie auf und schnellte in den Stationsflur. Nicht mal eine Minute dauerte es, bis er sich wieder in der Zimmertür blicken ließ, eine Spritze spritzbereit in der Hand führend.

Ann bäumte sich auf, als sie den Arzt spritzbereit wiederkommen saß.

Doch es half nichts! Dr. Howl rammte Ann die Spritze in den bloßen Oberarm hinein. Im Schrei stockte Ann, lähmende Energieabfuhr zog sie unweigerlich zurück ins Bett. Plötzlich kippte ein volles Wasserglas ins Gesicht - wer weiß, woher es so schnell gefüllt worden war. ‚Hey, hierbleiben‘, klang noch nach, aber sirrende Bewusstlosigkeit fällte sie bereits zurück auf die Matratze.

Als Ann aufwachte, lag das Zimmer in gespenstischem Dunkel. Einzeln drückende Geräusche an der Zimmerdecke, gurgelndes Pulsieren, öffnen einer Zimmertür entfernt, von draußen auf dem Stationsflur, bedrohlich nachhallende Schritte.

Minuten später ließ Ann ein Geräusch an der Zimmertür nach links zucken. Vorsichtige Schließgeräusche an der Zimmertür, die sich kurz darauf gespenstisch aufsperrte. Eine ins Dunkel gehüllte Gestalt schlich ins Zimmer hinein, baute sich vorm Bett auf. Ann schlug ihre Augen auf, wagte innerlich vibrierend ein verschwommenes Orientierungslinsen. Ruckartig kam sie zu Bewusstsein, sie spürte nur Angst, ein schmaler Taschenlampenstrahl, eine fremde Hand umfasste das Bettgitter, ein Kopf beugte sich zu ihr und eine bekannte Stimme flüsterte: „Ich bin’s, Dr. Howl, der Doc von vorhin. Bloß nicht schreien, ruhig bleiben, verlassen sie sich auf mich. Ich hol Sie hier raus.“ Der Arzt, nun ohne Kittel, beugte sich zu Ann, flüsterte, siezte sie zudem wieder:

„Pst, können Sie aufstehen und gehen? Sie brauchen nur zu nicken.“ Ann nickte, noch nicht ganz erfassend, was und wie ihr geschah.

„Ich hol‘ Sie hier heraus, vertrauen Sie mir. Ziehen Sie das an. Das ist doch Ihres? Nur schnell und leise! Wenn irgendwer in den nächsten Minuten Alarm schlägt, sind wir geliefert, verstanden?“ Ann nickte erneut, setzte sich, kleidete sich im Eiltempo ein.

„Folgen Sie mir so leise wie möglich! Nicken Sie einmal, wenn sie mich verstanden haben, und dann folgen Sie mir nach. Nicht sprechen, auf keinen Fall was sagen oder fragen! Vertrauen Sie mir! Ohne Vertrauen sind wir beide aufgeschmissen. Immer mir nach! Ich führe Sie nach draußen.“

„Barfuß“, setzte Ann an, zu flüstern. Der vorausgehende Fluchthelfer wandte sich energisch zurück:

„Kein weiteres Wort, sonst breche ich auf der Stelle wieder ab, ehe unsere Aktion begonnen hat, kapiert! Niemand darf entdecken, dass ich das hier mache! Ich riskiere für Sie meinen Kragen. Ja, natürlich, so, wie Sie sind! Ich hol Sie hier raus!“

Ann zögerte, beugte sich in Sitzposition, nickte einmal und stellte damit Dr. Howl‘s Kontrollblick zufrieden: „Gut, halten Sie sich hinter mir. Keine Frage, keine Berührung, einfach nur folgen. Ich weiß, was ich tue! Wir schleichen zuerst durch den Flur, dann ins Treppenhaus, von da einige Stockwerke runter. Keinen Mucks! Sollte uns jemand begegnen, werde ich sagen, du seist ausgebüxt und ich hätte es gerade noch gemerkt! Klar!“

Ann nickte erneut, aber so klar war ihr nichts. Eine Rettungsaktion in aller Frühe vor Sonnenaufgang oder was sollte das Ganze sonst? Missmutig folgte sie ihrem anscheinend abenteuerlich motivierten Retter. Auf der Türschwelle drehte sich der selbst ernannte Befreier um, flüsterte mitleidig: „Wir müssen schneller vorankommen. Kann ich Sie stützen? Bis zum nächsten Hausmeisterrundgang bleibt uns nicht viel Zeit, zudem wird es bald hell. Verflixt, wir sind spät dran.“

„Nein, geht schon, nur ziemlich kalt.“

„Was hab’ ich gesagt?“

Durch vergitterte Treppenhausfenster kündigte sich Minuten später äußerst schwach noch ein neuer Tag an. Was Ann einerseits den Treppenabgang etwas erleichterte, andererseits wuchs die Möglichkeit, enttarnt zu werden.

Noch eine Biegung, und ein Nebenausgang schob sich langsam in Sichtweite. Anns nächster Tritt betrat Parterre. Von rechts drang nun helleres Licht eines anbrechenden Tages durch eine offenstehende, teilverglaste Tür.

In der Nähe wellte aus einem Radio irgendwas Beschwingtes von Sinatra, wofür sie ein Ohr hatte. Eine jüngere Frauen- und eine ältere Männerstimme unterhielten sich gedämpft in Räumen zur Linken. Rechts aus dem Seitengang klimperte so etwas wie ein Schlüsselbund. Hinter ihr, entfernter, Knurrgeräusche eines vorbei trottenden Hundes. Angst, Argwohn lagen in mehr und mehr aufhellender Nähe.

Kurz darauf drehte sich Dr. Howl zu Ann um, flüsterte: „So, geschafft! Das ist alles, was ich für Sie tun kann! Wir müssen uns nun trennen. Nur noch ein paar Meter für Sie bis zur ersehnten Freiheit! Für die ich dir, Pardon, Ihnen, viel Glück wünsche.“

„Glück, ich brauche kein Glück! Die wenigen Tage seit Mittwoch haben mein Leben radikal verändert, glauben Sie mir. Sie schubsen mich halb nackt in aller Frühe auf diesen vernebelten Parkplatz.“

„Nicht so laut, Miss Lindemann, oder wollen Sie so kurz davor Ihre Rettungsaktion auf Spiel setzen? Unser Hospitalbetrieb beginnt gerade erst. Ein Geräusch zu viel, und wir sind geliefert. Das ist alles, was ich für Sie tun kann, ehrlich. Sie passen wirklich nicht hierher! Das erkennt doch jeder, der Sie erst mal kennenlernt, viel Glück!“

„Und ich soll jetzt da raus, ganz alleine in die Kälte?“

Ann irritierend, zeigte Dr. Howl ihr ärgerlich am langen Arm den Weg durch eine halb offene Außentür ins Morgengrauen hinaus:

„Machen Sie, dass Sie von hier verschwinden! Wenn Sie zögern, setzen Sie meinen Kopf noch mit aufs Spiel! Ich will Sie bei uns nie mehr sehen. Einfach entlang der parkenden Wagen und den Parklücken bis ans Ende laufen. Schnell, bloß nicht zurücksehen! Dort wartet ein Wagen auf Sie, der Sie hinbringt, wohin Sie wollen. Gutes Gelingen!“

„Ein Wagen? Davon haben Sie nichts gesagt. Was soll denn das?“

Der scheinbar zuvorkommende Arzt drehte sich postwendend um, eilte ins Innere zurück.

„Meine Sachen, ich hab’ ja nichts an, außen diesen duseligen Anstaltskittel“, rief Ann ihm zitternd nach. Schon auf dem Treppenabsatz drehte sich Dr. Howl um, erwiderte laut und schroff, ohne auf mögliche Zuhörer zu achten: „Was willst du denn noch? Du hast doch noch dein intaktes Gedächtnis, Synapsen, die noch prima funktionieren. Da, am Ende wartet die Lösung für dich. Sein langer Arm zeigte mehrmals zuckend Richtung Parkplatzausfahrt. „Mehr kann ich wirklich nicht für dich tun, und so kalt ist’s ja wirklich nicht. Mach schon, lauf!“

Ann blickte abschätzend, frierend vorwärts in Richtung Ausfahrt, quer über den nur wenig besetzten Parkplatz, schätzte den ihr bevorstehenden Laufweg zögerlich ab. Von hinten zischte es erneut, Ann zusammenzucken lassend: „Na, worauf wartest du noch? Deine Chance, nicht meine!“

Ihr vorgeschriebener Weg, bis Ann vom Parkplatz in eine Allee abbog, zog sich in die Länge. In ihrer Nähe begann ein Vogel zu zwitschern, dann noch einer und noch einer.

Ann sah kurz aufwärts, zögerte. Nicht die Allee, da winkt das Gefährliche!? Durch Zweige hindurch schimmerten am Rande eines lehmigen Felds einige gestapelte Baumstämme. Vielleicht ihre einzige Chance? Anns rannte für sie erstaunlich schnell über die einspurige Alleenstraße, bis sie Moos unter den Sohlen spürte. Keuchend lehnte sie sich an einen Laubbaum und checkte den weiten Fluchtweg ab, der sich vor ihr ausbreitete. Aber wo war bloß der in Aussicht gestellte Wagen? Entschlossen, einen gangbaren Pfad ausgemacht zu haben, stolperte Ann los, über eine einspurige Fahrbahn, dann über weicheren Boden, bis sie an den Rand eines Feldes vorstieß.

Ein schriller Pfiff, im Rücken seitlich von ihr, ließ sie kurz stoppen und hinter sich sehen.

Plötzlich schoss eine Gestalt seitlich zwischen zwei Jungbäumen hervor, packte Ann im beginnenden Lauf und triumphierte laut zur Allee hinüber: „Ich hab’ sie! Hab’ ich doch den richtigen Riecher gehabt!“ Sich an Ann drängend, ihr beide Arme auf dem Rücken zusammenpressend, flüsterte ihr ein hinzugelaufener Pfleger herb ins Ohr: „Nicht mit uns, Täubchen. Wir möchten dich noch über uns röcheln hören.“

Vor sich hinkichernd, schupsten beide Pfleger abwechselnd ihren Morgenfang zurück über die Alleestraße auf den Parkplatz, von dem aus sie gestartet war. Brutal nach vorne gestoßen, stürzte Ann einer fetten, meckernden Schwester direkt in die Arme. Kurz umklammerte sie die nun wieder eingefangene Ausbrecherin, streichelte ihr grob übers Haar und schimpfte: „So was machst du nicht noch mal. Uns wegen dir so Früh in die Kälte hinausjagen!“ Kaum hatte sie ihren Satz gesagt, schupste sie Ann in Richtung der beiden Pfleger zurück und kommandierte barsch: „Ins Haus mit ihr, hintenrum!“ Im Nachgang meckerte sie: „Noch so eine Szene …? Oben wirst du so durch die Mangel gedreht werden, dass du dich nach deiner Spucke sehnst, nicht wahr, Jungs?“

„Jawohl, Mam!“, tönte der Frühaufsteherchor retour.

„Warum sich überhaupt unser Dr. Howl diese morgendlichen Sondertouren für Aufmüpfige ausdenkt? Das ginge auch anders, ohne frühmorgendlichen Aufwand.“

Ann trottete in die Mitte genommen mit, alle paar Yards deftigen Vorwärtsstößen ausgesetzt.

Das äußerst ungleiche Quartett strebte um das Hospital herum.

„Warum hast du das bloß gemacht? Sag, warum konntest du das nur tun, ich versteh‘ es nicht. Ahnst du nicht, was dir nun blühen wird? Wenn nicht unsere Herrn Doktoren, wir werden dir noch gehörig die Suppe versalzen, verlass dich drauf! Uns so unbeliebt dem Hohen Haus zu machen. Wir vernachlässigen unsere Aufgaben sonst nie, hörst du, niemals! Wer bist du überhaupt, dass du glaubst, mit uns so was anstellen zu können? Ausreißen im Morgengrauen, pfui, schäm dich“, vernahm Ann die schimpfende Pflegerinnenstimme im Rücken.

„Ich …“

„Halt’s Maul, du, auch noch aufmüpfig werden? Unsere Doktoren haben bestimmt noch einiges mit dir zu erledigen. Schweigen und Demut – das wird hier von dir verlangt, und nichts anderes.“

„Was?“

„Hab’ ich nicht …? Ach, das wird dir die Ewigkeit erschließen. Ich jedenfalls wüsste … na ja, einige haben den Dauerstress eine Etage über uns nicht ausgehalten!? Zu krepieren, das wünsche ich dir hinterher, aber zuerst dienst du - verstanden!“

Vor einem Türschacht mit einer grünlich bemoosten, einige Stufen abwärts führenden Steintreppe stoppte der Pulk. Schnaubend stellte die umfangreiche Schwester fest:

„Da sind wir schon!“ Nach unten zeigend: „Da unten muss ich mich von dir leider trennen. Nicht auf Dauer! Keine Sorge, auf renitente Fälle geben wir besonders Acht!“

Ein plötzlicher Stoß schupste Ann die Steintreppe abwärts. Sie fing sich gerade noch am rostigen Rohrgeländer, heulte vor Schmerzen auf. Blut schoss aus einer Kopfwunde und färbte gelblich-grünlichen Bodenmorast rot.

„Das hast du nun davon“, lachte die beleibte Schwester und watschelte, sich am Geländer festhaltend, sodann mühselig die Steintreppe runter. Sie zückte einen Schlüssel und mühte sich lautstark, die verrostete, beschmutze Eisentür aufzuschließen, was dauerte. Quietschend zog sie sie dann bis zum Anschlag auf, winkte behäbig und ging gähnend hinein.

Die beiden Pfleger drängten nach ihr Ann in einen dunklen, lichtlosen, nach Chemikalien aller Art stinkenden Raum. Unvermittelt schlug eine Seitentür auf und ein Taschenlampenlichtkegel zeigte sich in einiger Entfernung, der schrittweise näherkam. Die Schwester wandte sich zunächst dem Lichtkegel zu, drehte sich dann noch mal, um zu hinterlassen: „Das war’s noch nicht ganz, Frauchen. Kann sein, dass ich irgendwann mal den Infusionsbeutel verwechsle, wenn du vor mir liegst. Davon merkst du dann aber nichts mehr, garantiert. Bewusstlosigkeit wird dein künftiger Normalzustand sein, ha, ha, ha!“ Unter schallendem Gelächter verschwand sie im Dunkeln.

Ein ziemlich roh zupackender Pfleger zur Linken packte Ann schroff am Arm und schob sie durch eine andere, quietschend geöffnete, Stahltür in ein schmales, schwach beleuchtetes Treppenhaus. Dann zog er Ann mehrere Stufen eine Eisentreppe aufwärts. Am oberen Ende war eine verschlossene rostige Stahltür.

Oben angekommen, machte der Pfleger sich per Klopfzeichen bemerkbar und die Stahltür öffnete sich kurz darauf. Dr. Howl’s Kopf zeigte sich, garstig feststellend: „Hat aber lange gedauert heute Morgen?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, kommandierte er: „Die kommt in den vierten Stock! In einer halben Stunde will ich sie oben liegen haben. Verzögerung kann ich mit ihr nicht mehr mit ihr leisten! Spitz auf Kopf, kapiert!“

„Jawohl, Sie sind der Chef.“

„Schnauze, noch nicht ihren Mund geknebelt?“

„Nein, Sir, war‘s das?“

Dr. Howl zog, ohne zu antworten, seinen Kopf zurück und verschwand mit auf dem Rücken gefalteten Händen um die nächste Korridorecke.

Zwischen erstem und zweitem Stockwerk stöhnte abwärts ein weiteres Triple im Treppenhaus. Harsche Schreie appellierten: „So nicht“ oder „da kommen wir doch her.“ Zwei stämmige Pfleger versuchten mit Müh und Not eine ältere, grauhaarige Frau Stufe um Stufe, Schritt für Schritt zum Abwärtsgehen zu bewegen.

Als sich die beiden Tripel auf der Treppe begegneten, und Anns Triple, dem abwärtssteigenden Platz machte, merkte Ann plötzlich, dass sie von der älteren, grausträhnigen Frau streng angeglotzt wurde. Sie weiterzehrend entfuhr ihr: „Und weswegen züchtigen sie dich? Dann, Augen verdrehend: „Ist doch alles nur Spaß!“ Der grausträhnigen Alten lautes Gelächter hallte im Abwärtsgang nach.

Angekommen im vierten Stock prangte auf dem Blechschild der einzigen Stahltür in schwarzen Großbuchstaben: ‚ONLY FOR PROJECT COLLABORATORS IN MENTAL HEALTH‘ (Nur für Projektmitarbeiter der Erforschung mentaler Gesundheit‘).

Die atlantische Magd

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