Читать книгу Die atlantische Magd - Ralf Blittkowsky - Страница 16

Merkwürdiger Fund am Strand

Оглавление

In einem Krankenzimmer des Krankenhauses von Elizabeth City (North Carolina) Mitte September 1953.

Eine Krankenschwester in mittleren Jahren lugte vorsichtig durch eine Zimmertür. Ein bleiches, schmales Frauengesicht schaute mit weit geöffneten Augen, aber regungslos unter einer bis zum Hals zugezogenen Bettdecke hervor. Erstaunt trat die Krankenschwester ans Bett, die Zimmertür fiel hinter ihr in Schloss.

„Margarete Gruber, sind Sie etwa aufgewacht?“

Neugierig trat sie ans Bett. Sie lag zwar in gleicher Lage, aber die Augen der vor rund vier Wochen eingelieferten Komapatientin waren wieder geschlossen.

„Seltsam, sie hat doch gerade ihre Lider bewegt? Ist sie wach, aus dem Koma aufgewacht? Das gibt’s doch nicht! Ich muss unseren Stationsarzt rufen, sofort!“

Dann, erneut ein Wimpernschlag, Augenlider öffneten sich zu, schauten aufwärts, suchten sich zur Decke hin zu orientieren. Erschrocken machte die Krankenschwester einen Satz nach hinten, vom Bettrand, an dem sie nun schon minutenlang beobachtet hatte, weg und sprach in ihrer erschreckenden Rückwärtsbewegung die scheinbar aus ihrem Koma aufwachende Patientin, in deren Handtasche ein deutscher Reisepass gefunden worden war, direkt an:

„Margarete Gruber, das sind Sie doch, nicht?“

Das vor ein paar Tagen eingelieferte Hurrikanopfer schoss völlig unerwartet in den Sitz hoch, sah sich erstaunt im Zimmer um. Als sie erste Worte stammeln hörte, erschrak die Krankenschwester und sah ziemlich entgeistert, was soeben in nächster Nähe passierte.

Da richtete sich nun eine Zweiunddreißigjährige im Kittel im Krankenbett auf, fuchtelte mit beiden Armen und nuschelte, noch gerade verständlich, vor sich hin.

„Wo bin ich? Hau ab, Sie machen mir Angst! Wo bin ich?“

Die vor einem Monat, nun war es Mitte September 1953, eingelieferte Hurrikanüberlebende zeigte sich zum ersten Mal seit ihrer Einlieferung wieder bei Bewusstsein. Sie schlug, zwar noch ziemlich schwach gegen die sie fassungslos anstarrende Krankenschwester, doch ohne sie zu berühren. Ihr hilflos aussehendes Vorwärtsfuchteln, brach die soeben aus ihrem Koma erwachte Patientin nach einigen Bemühungen schlaff ab. Unverzüglich sank ihr Kopf zurück ins Kopfkissen, dann fing sie, sich ihre Augen reibend, an, zu weinen, was allerdings nicht lange andauerte. Als Nächstes blickte die erwachte Patientin am Oberkörper runter auf ihr weißes Nachthemd, das man ihr vor Wochen, kurz, nachdem man sie auf der Station aufnahm, kurzerhand übergestülpt hatte. Als sei das nicht genug an Erforschung ihrer selbst, stemmte sie die Bettdecke einen spaltbreit hoch und sah an sich runter. Dann strich sie sich mit der flachen Hand über ihre flanelbedeckte Brust, hob dann die Bettdecke ein Stück weit erneut an, um nachzusehen, ob sie sich auch wirklich nicht täuschte. Dann ließ sie wieder davon ab, wandte ihren Kurzhaarkopf neugierig der Krankenschwester zu, welche jede Bewegung der aus dem Koma erwachenden Patientin ziemlich verwundert minutenlang zusah. Nach mehrmaligem mühevollem Ansetzen gelang es ihr, zu fragen: „Where I am?“

„Mrs. Gruber, oh, if only I could speak a little German? You survived this devastating sea monster of Hurricane four weeks ago! At our station you are safe!“

Wenn ich nur ein bisschen deutsch könnte? Sie haben dieses verheerende Seeungeheuer von Hurrikan vor vier Wochen überlebt. Auf unserer Station sind Sie in Sicherheit.

Die erwachende Komapatientin, die ihrem Reisepass nach zu schließen, eine Deutsche war, kippte sofort wieder nach hinten weg ins Kissen und schloss die Augen.

„Mrs. Gruber, do you hear me? Mrs. Gruber? Do not sleeping in again. I have to come for a doctor fastly!“

Frau Gruber, hören Sie mich? Frau Gruber? Schlafen Sie nicht wieder ein. Ich muss schnell zum Arzt!

Die als Mrs. Gruber angesprochene Patientin war niemand anderes als Ann Lindemann. Bewusstlos war sie vier Wochen zuvor ins Krankenhaus von Elizabeth City (North Carolina) gebracht worden. Dort war sie von ratlosen Ärzten, was mit der leblos am Strand aufgefundenen Frau anzufangen sei, erst mal in ein Koma versetzt worden. Zwei schon ältere Jungen und ein Mädchen hatten den vollkommen ermatteten, im Sand liegenden Strandfund ins Krankenhaus transportiert. Eine neben der Frau liegende Damenhandtasche, der man es ansah, dass sie lange dem Meerwasser ausgesetzt gewesen war, gaben sie ebenfalls im Krankenhaus ab.

Das Notaufnahmepersonal des Krankenhauses entnahm der stark vom Seewasser verdreckten Damenhandtasche unter anderem einen kaum noch lesbaren bundesdeutschen Reisepass, ausgestellt auf Margarete Gruber. Diese Handtasche mit dem bundesdeutschen Reisepass befand sich nun im Nachtschränkchen.

Nach vierwöchigem Koma regte die Komapatientin erstmals. Sie stellte Fragen, aber wie sie sie stellte, auf Amerikanisch-Englisch, mit einem Akzent, so, wie man es in North Carolina nicht aussprach, seltsam, hochseltsam. Bei der Krankenschwester, welche nun merkte, dass die Patientin im nächsten Augenblick aus dem Koma erwachte, löste, sie sprechen zu hören, mehr Freude als Verwunderung aus.

Von Beginn an galt sie, die Deutsche, die ein Seeunglück überlebt hatte, die als äußerst ernster Fall, der nur Kosten an Dauerversorgung, operativen Maßnahmen und Therapien verursachen würde.

Eine halbe Stunde später, nachdem Margarete Gruber aus dem Koma aufgewacht war, beugte sich ein freundlich lächelndes Arztgesicht über sie. Kaum, dass sie einen fremden Schatten über sich bemerkte, erschrak sie über das sich zu ihr hinbeugende fremdaussehende Männergesicht, das kopfschüttelnd ziemlich milde zu ihr sprach:

„What are you doing for stuff?”

Was machen Sie bloß für Sachen?

Die Patientin versuchte, ihren Oberkörper aufzurichten, sank aber kraftlos wieder in ihr Kissen zurück. Dann drehte sie sich vom Arzt weg, schrie dumpf nachklingend in ihr zusammengestauchtes Kissen hinein:

„Go away! Let Leave me alone! I've had enough of you, you maltreating bastards. “

Geh weg! Lass mich in Ruhe! Ich habe genug von dir, ihr misshandelnde Bastarde.

„Excuse me, how do you even talk to me? In this log I read that you are from Germany? Why do you then answer me in my language? I am a bit surprised, honest!“

Entschuldigung, wie sprechen Sie überhaupt mit mir? In diesem Protokoll lese ich, dass Sie aus Deutschland sind? Warum antworten Sie mir dann in meiner Sprache? Ich bin ein bisschen erstaunt, ehrlich!

Schweigen, nur scharfe, beobachtende Blicke. Anscheinend nicht die geringste Aussicht auf Antwort. Der Stationsarzt schätzte seine vor ihm liegende Patientin einige Minuten niederblickend ab, dann setzte er fort:

„We were very worried about what you have been through in the last few weeks. Why are you showing so much energy, Ms. Gruber? That's you, is not it? "

Wir waren sehr besorgt, nach dem, was Sie in den letzten Wochen durchgemacht haben müssen. Warum zeigen Sie überhaupt so viel Energie, Frau Gruber. Das sind Sie doch, nicht wahr?

Der Arzt drehte sich kurz zur ihn begleitenden Krankenschwester um, erwartete, sie anblickend, eine Bekräftigung seiner sorgsamen Einlassung.

„Sure, doctor! That she comes from Germany, is in her German passport. Your purse is here in the drawer. You can make sure yourself.“

Klar, Doktor! Dass sie aus Deutschland stammt, steht in ihrem deutschen Pass. Ihre Handtasche liegt hier in der Schublade. Da können Sie selbst sich vergewissern.

„West or east?“

„How?“

„Do you hear or see no newscast? Germany has been divided into East and West since '49! West Germany is a democratic state and is supported by the United States. East Germany calls itself a democratic state, but cooperates with the USSR. Pretty tricky situation!“

Hören oder sehen Sie keine Nachrichtensendung? Deutschland ist seit '49 in Ost und West geteilt! Westdeutschland ist ein demokratischer Staat und wird von den Vereinigten Staaten unterstützt. Ostdeutschland nennt sich demokratischer Staat, kooperiert aber mit der UdSSR. Ziemlich heikle Situation!

„I understand, Doc. Mrs. Gruber was born in West Germany, according to the receipt! Here it is in my list. "

„Ich verstehe, Doc. Frau Gruber ist laut Einweisungsbeleg in Westdeutschland geboren! Hier steht es so in meiner Liste. “

Die Krankenschwester hielt dem Arzt eine Schreibunterlage hin, die er aber nicht zur Kenntnis nahm, stattdessen sagte er mit tiefer Stimme ins Zimmer hinein:

„If it were otherwise, a female spy could be in bed?“

Wenn es sich anders verhielte, könnte ein weiblicher Spion im Bett liegen?

Als Ann ‚Spionin‘, Amerikanisch-Englisch ausgesprochen, hörte, schlug sie die Augen auf, versuchte, etwas zu sagen, was ihr aber unverzüglich im Hals stecken blieb. Der sich auf dem Bettrand setzende Arzt beugte sich seiner Fragen aufwerfenden Patientin zu und fragte erstaunt, sie scharf anblickend:

„Why do you understand me so well? That's crazy! Maybe you have been to the USA more often?“

Warum verstehen Sie mich so gut? Das ist verrückt! Vielleicht waren Sie ja schon häufiger in den USA?

Ihre Schulter vorsichtig streichelnd, sprach der Arzt sorgsam leise weiter:

„When you were still in a coma, we did not know what to do. Maybe we'll bring you back, maybe not!? What a surprise, after weeks you have now woken up! You will gradually recover, I promise you! Nothing is as important in your condition as sleep. That the ocean spit you out again is a miracle. We take care of your health from now on. Sleep well, see you soon, Ms. Gruber.“

„Als Sie noch im Koma lagen, wussten wir nicht weiter. Vielleicht holen wir Sie wieder zurück, vielleicht auch nicht!? Welch eine Überraschung, nach Wochen sind Sie nun wieder aufgewacht! Sie werden sich allmählich erholen, das verspreche ich Ihnen! Nichts ist in Ihrem Zustand so wichtig wie Schlaf. Dass der Ozean Sie wieder ausgespuckt hat, ist ein Wunder. Wir kümmern uns ab jetzt um Ihre Gesundheit. Schlafen Sie gut, bis bald, Frau Gruber. “

Da fiel dieser unbekannte Nachname schon wieder, allerdings mit deutscher Anrede: Frau Gruber? Warum verwendete der Arzt gerade diesen Namen, den ich noch nie vorher vernommen habe?

Aber auch ein anderer Name, so sehr sie auch überlegte, kam ihr nicht in den Sinn. Sollte ‚Gruber‘ wirklich mein echter Name sein? Gab es keinen anderen mehr in meiner Erinnerung? Woher kam ‚Gruber‘? Dieser für fremd empfundene deutsche Name, Margarete Gruber, welcher schon in seiner Lautung so unangenehm kühl klang!?

So sehr die Alleingelassene sich auch suchte, zu erinnern, eine Namensalternative, wie sie anders geheißen haben könnte, schälte sich nicht heraus. Aber noch etwas anders entzog sich ihr voll und ganz. Sie schafft es nicht, sich zu erinnern, was überhaupt mir ihr passiert war, wie sie in dieses Krankenhausbett kam. Wie kam sie überhaupt in diesen Hurrikan, von dem sie mehrfach hatte sprechen hören? Warum überhaupt hatte sie gerettet werden müssen und warum musste sie das Ärgste erst überstehen, um in so einem Krankenbett vier Wochen später aufzuwachen? Fragen, die ihr durch den Kopf gingen, allerdings fehlte es an Erinnerung an eine Zeit davor. Nicht mal ein Ansatz, kein Gesicht, keine Geschichte, nichts Verwertbares – nichts! Sie ließ ihren Blick in eine Deckenecke hineinstreifen. Warum lag ich hier? Warum beugten sich freundlich lächelnde Gesichter über mich? Diese Gesichter wirkten so ganz anders, als harte, feiste Visagen einer finsteren, unaufgeschlossenen Vergangenheit?

Was war passiert.

Vor über vier Wochen, Mitte August. Schildkrötengleich langsam kroch, sich auf Knien und Armen mühevoll vorwärtsstemmend, ein klitschnasser, dürrer Frauenkörper im Nachthemd über einen sonnenausgedörrten Sandstrand auf sich in Sichtweite erhebende Sanddünen zu. Die sich nach kurzem oder längerem Zusammensinken vorwärtsplagende Überlebende war wohl in den Stunden, seit sie eine Schleifspur hinter sich herzog, nicht sehr weit vorangekommen. Denn das windbewegt gischtende Meer hinter ihrer Schleifspur lag um einiges näher, als die sich auftürmenden Dünen in Sichtweite. Umgeben von Müll, Unrat, Tang, hinter sich das Getöse brechender Wellen, sank sie, kaum, dass sie etwa eine halbe Körperlänge weitergekrochen war, erschöpft in sich zusammen, wie so oft schon, ermattet, harrte sie solange in gleißenden Sonnenstrahlen aus, bis sie erneut ein wenig Kraft für die nächste Überwindungs- und Kriechetappe geschöpft hatte.

Auch nach Stunden hatte sich ihre Kriechspur quer über den Sandstrand nicht wirklich verlängert. Wohin auch sollte sie kriechen? Denn außer grasbewachsenen Dünen in Perspektive, begrenzt von einem mehrfach eingeknickten Drahtzaun, bot dieser ansonsten menschenleere Ostküstenstrand nichts, woran sich orientieren ließe.

Das Sonnenlicht strahlte äußerst heiß auf ihren Rücken, sodass sie, wenn Temperaturen am höchsten waren, liegen blieb, wartete, bis sich die Sonne senkte oder auch mal wolkenverzogen ganz verschwand. Zuerst wurde es Abend, dann dämmerte es, dann wurde es Nacht, blicklos finster und kühl. Vom Meer spürte sie diese herwehende Kühle und nahm einige Male aufleuchtende Augen in einiger Distanz wahr, die sich ihr nicht zu nähern wagten. Vollkommen entkräftet, hungrig, durstig, schlief sie ein. Als allmählich Tag anbrach, pickten Möven und andere Seevögel links und rechts von ihr.

Kaum war sie eine Körperlänge weitergekrochen, sank sie in sich zusammen, spürte wie schon so oft in vergangenen Stunden steinigen Sand unter sich. Ihre Hände, und alles sonst, schmerzten. Die aufgehende brennende Sonne, der unstillbare Durst, ihre im dauernden Bewegungskampf grenzwertiger werdende und mehr und mehr auslaugende Mattigkeit – so würde sie es nicht überstehen!? Trotzdem stemmte sie sich, immer wieder von Neuem ansetzend, voran. Auch weil etwas in ihr mahnte, nicht aufzugeben, nicht liegen zu bleiben, dem drohenden Kollaps noch ein Schnippchen schlagen zu können.

Mehrere Fuß weit vor einem schiefen Holzpfosten, der ihr ihren Kriechpfad verstellte, lag ein abgebrochenes Blechschild, verdreckt im Sand. Sie stemmte sich ein wenig zur Seite, bis ihr Kopf über dem entdeckten Schildteil hing. Sie pustete mit aller Kraft, welche ihre Lunge noch aufbrachte, den Sand weg, setzte mehrmals an, las Buchstabe für Buchstabe und entzifferte so die beiden Wörter: ‚Kill Devil‘. Wo könnte das sein, ein Ort namens ‘Kill Devil’? Der Name hörte sich an wie ein Ort, an dem niemand gerne strandet. Ein Ortsname am Ostküstenstrand des Atlantischen Ozeans, der sich eher als Attentatsaufforderung für Apostel anpries. ‚Hills‘ fehlte als drittes Wort, was eine nahe Ortschaft verwiesen hätte. Einer ziemlich kleinen Ortschaft, welche auf einer langen, schmalen und leicht gebogenen Halbinsel, namens ‚Bodie Islands‘ lag, welche dem Festland North Carolinas vorgelagert war.

Stunden später, die Hitze war einfach zu drückend, um weiterzukriechen, hörte sie plötzlich von den Dünen her zuerst kichern, dann ziemlich ausgelassen redende Stimmen, welche sich ihr aus einem nicht sichtbaren Winkel näherten. Kurz danach näherten sich eilige Laufschritte, welche Sand aufwühlten, welchen sie auf ihrem Rücken spürte. Beim Versuch, ihren Kopf in Hörrichtung zu wenden, versagten jedoch ihre noch vorhandenen Körperkräfte. Sie ließ also geschehen, was nicht mehr aufzuhalten war. Sie war entdeckt, ihre Rettung sollte nah sein.

Kurz darauf huschte ein Schatten seitlich an ihr vorbei und ein lockig-blondes Mädchengesicht beugte sich vor ihr Gesicht. Blickkontakt suchend fragte das Mädchen besorgt: „Wie lange liegen Sie denn schon hier, Mrs.?“ Als eine Antwort ausblieb, versuchte es das fremde Mädchen erneut. Nach einigem Warten stellte es erstaunt fest: „Sie haben ja nur ein Nachthemd an. Was ist denn da passiert, auweia?“ Als Nächstes verdunkelte ein weiterer Schatten die Sichtverhältnisse. Vom Fußende her fragte erstaunt eine männliche, tiefer liegende Stimme: „Wie lang liegt die denn schon hier? Mann, seht euch mal ihre Kriechspur vom Meer bis hierher an!? Unser Standfund hat doch nicht etwa den gewaltigen Hurrikan letzte Woche überlebt und ist nun aus dem Meer gekrochen?“

„Yeah, Ruben“, rief eine nicht sichtbare Jungenstimme herüber, „wo soll die Frau denn sonst herkommen?“

Ruben antwortete: „Dann hat sie gerade noch überlebt?“

Und der andere, Dexter, der der Stimme nach Ältere retour: „Seh‘ ich doch gleich, mit der ist nichts mehr. Augen zu, und dann zurück ins Meer mit ihr!“

„Spinnst du, Dexter, niemals! Sie lebt doch noch. Bück‘ dich doch mal und sieh her.“

Das blonde Mädchen berührte einen Arm ihres ermattet auf dem Bauch liegenden Strandfunds, streichelte sie zaghaft über den Rücken. Die Entfernung zum Wasser abschätzend sagte sie gefühlvoll: „Sie Arme, was ist Ihnen wohl passiert?" Dann erhob sich und erklärte: „Wisst ihr was, Jungs, wir bringen Sie ins nächste Hospital. Sofort, und keine Widerrede!“

Im Rücken rief Ruben, der Jüngere: „Ich fass‘ es nicht, ihre Handtasche liegt da vorne, Mensch. Wie hat sie die nur bis hierhergeschleppt? An sich selber hat sie doch schon genug zu schleppen, ich versteh‘ das nicht.“

Dexter rief von weiter weg aus Dünenrichtung: „Kannst ja mal nachsehen, wie unsere heruntergekommene Strandschönheit heißt. Nein, check lieber, ob ihre Moneten reichen werden, um uns wenigstens unseren Abend zu sichern.“

„Strandschönheit? Wie bescheuert ist das denn, Dexter“, entsetzte sich das Mädchen, das nun neben dem ermatteten Frauenkörper stand, fortsetzend:

„Wir werden nichts anderes tun, als sie ins nächste Krankenhaus nach Elizabeth City bringen. Ihr seht ja, wie miserabel es ihr geht. Sowas hat keiner von uns je mitgemacht.“

„Das ist doch selbstverständlich“, blickte das Mädchen zu Dexter und wiederholte: „Wir retten sie zuerst, bringen sie von hier weg in Sicherheit. Erst dann könnt ihr machen, was ihr wollt, okay!“

„Ach, Milly, lass, die dahergekrochene Dame sich doch selber retten. Wir können ja ‘ne Wette abschließen, ob sie’s bis nach oben schafft. Ich schätze, dass sie es nicht schafft, wer hält dagegen?“

Parallel dazu hob der Schatten werfende Junge die soeben aufgefundene Handtasche auf, öffnete und durchwühlte sie. Kurz darauf stellte er strahlend fest:

„Hui, zweihundert Dollar im Portemonnaie, dazu drei verschiedene Lippenstifte, einen Augenspiegel, Nagelschere, Kajalstift und …? Was ist denn das? D-Mark-Scheine, die Dinger tropfen ja? Verflucht, wie eklig.”

„Was macht denn Krautwährung hier an einem recht verkommenen amerikanischen Atlantikstrand? Sieh mal nach, Reuben, vielleicht ekelst du noch mehr“, rief der ältere Junge aus Distanz herüber.

„Mein’ste, was ich gerade mache, Dexter.”

„Für Beute machen, bin ich stets zu haben, du kennst mich doch? Was ist, lohnt sich unser Fund? Was du findest, finde auch ich. Was dir gehört, gehört auch mir, also?“

Dexter, der Ältere, lief zu Reuben, dem Jüngeren, rüber, riss ihm die gefundene Damenhandtasche aus der Hand.

„Gib schon her, ich bin kundiger in so was als du.“

Schmollend händigte Reuben dem Älteren die Handtasche aus.

Dexter, eine Baseballkappe auf dem Kopf, fing an, sich den Handtascheninhalt vorzunehmen. Ein Griff, und er zog eine Grimasse ziehend, seine Hand wieder heraus: „Ieee, das Ding ist ja kaum noch zu gebrauchen! Lag wohl lange im Salzwasser, Muscheln, Tang, oder so!? So was macht jedenfalls keine Lady mehr chic, auch dich nicht, Milly! Das brauchen wir alles nicht, außer den Dollarscheinen im Portemonnaie. Die werden uns noch nützlich sein, sehr sogar! Den Rest, lass liegen. Sollen sich von mir aus die verfluchten Möwen drum kümmern.“

Reuben stellte sich zu Dexter: „Komisches Modell, wo gibt’s denn bloß so was, ich hab‘ so was jedenfalls noch nie gesehen.“

„Das dauert noch ein paar Jahre, wenn überhaupt“, ulkte Dexter: „Vielleicht Bloomingdale oder Macy? Für uns Beachboys and –girls reinste Fantasie. Leider nicht mehr zu gebrauchen.“

„Du mit einer Damenhandtasche? Sag‘ lieber, wenn alles Fantasie sein soll, was ist dann noch Realität?“

„Unfug! Moment mal, noch ein Etui? Was sich in Damenhandtaschen so alles finden lässt? Komisches Ding, nie zuvor gesehen, so was?“ Neugierig öffnete Dexter das soeben entdeckte Etui.

„Was haben wir denn da?“ Er holte etwas aus der geöffneten Damenhandtasche und hielt es am langen Arm vor sich. Dann zog er es zu sich heran, besah es: „Sieh an, sieh an, einen Reisepass. Und beim näheren Hinsehen: „Na so was, nicht Amerikanisch!“ Dexter schlug daraufhin den Reisepass auf und blätterte neugierig in ihm herum, dann ekelte er sich. „Igitt, hat wohl einiges aushalten müssen, verdrecktes Ding, kaum noch leserlich, und an so was mach ich mir nur die Pfoten schmutzig.“

„Reuben, lass den ollen Pass weg. Wenn wir nicht schnell machen, können wir die Frau gleich hier begraben. Seht, sie ist schon ganz bleich und reagiert nicht“, flehte Milly, sich von ihrem Standort nicht rührend.

„Du immer, Milly, Caritas nutzt uns doch ’n Dreck. Ist doch interessant, so einen fremden Pass mal in Händen zu halten, oder?“

„Schau mal nach, wo unser Strandfund schon überall ihn abstempeln ließ.“

Reuben zupfte dem Älteren den noch tropfenden Passfund aus der Hand:

„Gib‘ schon her, Dexter, Neugier ist der Anfang von allem.“

„Lass‘ Reuben, ich hab’ ihn schließlich entdeckt, deshalb habe ich auch das Recht, zuerst nachzusehen.“

„Lasst doch den Pass, Jungs. Die Frau muss dringend versorgt werden, sonst stirbt sie uns noch, und wir sind schuldig, nichts getan zu haben“, flehte Milly verzweifelt, nun wieder neben dem Strandfund kniend und die ermattete Frau streichelnd.

„He, was geht uns die Frau an? Hat sie eben Pech gehabt, die Kleine. Ist noch nicht mal so alt, und schon so viel Pech im Leben?“

„Einmal Pech, immer Pech, kennen wir doch auch.“

„Quatsch, nicht, Reuben. Mich interessiert viel mehr, was wir mit zweihundert Dollar heute Abend in Elizabeth City feiern sollen. Wo ist denn das nächste Spielcasino?“

„Spinn nicht gleich rum, Reuben. Wenn sie deine Fresse sehen, kommst du da sowieso nicht rein.“

„So, meinst du?“

„Kannst es ja drauf ankommen lassen.“

„Na, dann nicht, kommt endlich ihr beiden, wir wollen weiter. Die wird’s auch ohne uns machen. Kommt, krallen wir uns die Beute und hauen ab! Lassen wir sie weiter für ihr Schicksal kriechen. Am Ende müssen wir’s doch alle mal, nicht wahr?“

Neugierig im gefundenen Reisepass blätternd, rief Ruben auf einmal erstaunt: „Wow, Margarete Gruber heißt sie, die Frau ist eine Deutsche! Hier steht es, na ja, schwarz auf weiß, eine waschechte Krautfrau, Mann!“

„Noch ein Grund, die angeschwemmte Dame weiterkriechen zu lassen, findet ihr nicht?“

„Bist du nun ganz durchgedreht, Dexter? Wir machen uns strafbar, wenn wir ihr nicht helfen. Sie lebt doch noch, hat bestimmt noch ein Leben vor sich. Habt ihr nichts zu trinken dabei? Seht euch nur ihre Haut an, die Frau ist so was von erledigt. Wer weiß, wie lang sie hier schon liegt?“

„Frag lieber, wie lange sie schon kriecht.“

„Ach du, wenn wir sie jetzt sofort ins nächste Krankenhaus nach Elizabeth City bringen, wird sie hoffentlich noch zu retten sein. Höchste Eile ist geboten! Also, keine Kapriolen mehr, Jungs.“

„Milly, siehst du nicht, wie falsch du liegst? Wenn wir uns um eins kümmern, dann höchstens um nächstmöglichen Alkoholnachschub. Den nämlich nachzufüllen, sorgt sie gerade. Nachher stirbt sie uns unterwegs, und wir sind die Dummen.“

„Ja, lassen wir sie krepieren, was soll’s!? Einen schöneren Tod als den in stechend heißer Sonne am Strand hat selten jemand“, stimmte Reuben nun ein.

„Seid ihr nun ganz verrückt geworden, Dexter, Reuben? Ich bin so was von entsetzt, wen ich euch so reden höre.“

„Ich übrigens auch, nur, warum sollten wir uns mit einer uns zugekrochenen Strandbleiche noch länger aufhalten? Sie entgeht ihrem Schicksal so und so nicht mehr. Diese Last lädt man sich am besten erst gar nicht auf. Viele denken so, nun ich auch – Zeitgeist eben!?“

„Red du nur, Dexter, aber vom Acker stehlen können wir uns auch nicht so einfach. Wir sind gezwungen, etwas zu tun. Nämlich sie zu retten, und zwar jetzt, sofort. Ich mach mich nicht schuldig, kapiert ihr da?“

„Wer rechnet auch beim Strandspaziergang mit so was Delikatem!? Wie sollen wir sie überhaupt nach Elizabeth City transportieren, per Rad, vielleicht? Na dann, viel Spaß!? Dass das niemals klappen wird, sag ich euch gleich. Sie per Rad zu transportieren, ist ihr sicherer Tod. Kommt, ich weiß was Besseres! Lasst uns zweihundert Dollar nehmen und nachher auf sie anstoßen. Wenn wir wieder nüchtern sind, sehen wir morgen um dieselbe Uhrzeit nach, ob die Deutsche ihre Schleifspur erweitern konnte, oder wir stellen fest, dass sie verendet ist. Wenn nicht, stehe ich für alles offen! Aber erst dann, und nun Marsch!“

„Nie im Leben, da mach ich nicht mit! Das spricht gegen Menschenrechte und Verfassung!“

„Was denn jetzt wieder, Milly? Vielleicht auch noch der kategorische Imperativ, die goldene Regel, die Magna Charta? Wo steht denn geschrieben, dass ethische Prinzipien für kriechende Frauen gelten? Los, hauen wir ab! Jeder und jede muss um sein Glück ein Leben lang hecheln, wenn auch anders als die da. Aber eins steht fest, jeder und jede auf seine/ihre Weise! Da verbietet es sich von selbst, einzugreifen und Schicksal zu spielen. Die da liegt, hat nicht besonnen genug gespielt, und darum hat sie verloren, na und? Dass sie ausgerechnet uns vor die Füße fällt, das ist ihr verdammtes Pech, und soll es auch bleiben! Pech ist nicht wandelbar, so ist das nun mal auf allen Pfaden.“

„Red nicht solchen Blödsinn, Dexter. Sie lebt doch noch, und wir sind als ihre Entdecker verpflichtet, sie zu retten.“

„Spaßverderberin. Auch Kids haben Rechte, ausgelassen sich ans wahre Glück heranzupirschen, ohne andauernd Knüppeln, die uns zwischen die Beine geworfen werden, ausweichen zu müssen. Kommt schon, auf nach Elizabeth City, aber ohne Last.“

„Also, wohin mit ihr, was schlagt ihr vor? Wir können sie doch so nicht liegen lassen, versteht das doch mal! Wenn ihr euch weigert, in den Knast könnt ihr alleine! Sie muss ins nächste Krankenhaus, und zwar sofort, dringend! Es ist überhaupt ein Wunder, dass sie den Hurrikan überlebt hat.“

„Seltsam, dass ihr Körper ausgerechnet hier am Strand angespült wurde? Der Hurrikan war doch viel weiter nördlich, an der Küste Virginias an Land gegangen?“

„Was faselst du da wieder.“

„Überleg‘ doch, ihr Schiff, Boot, was weiß ich, muss schon vorige Woche in den Hurrikan hineingetrudelt sein? Wahrscheinlich putzt sie schon ein paar Tage den Strand von Kill Devil.“

„Fasel, Fasel, was für ein Glück, das sie überhaupt überlebt hat. Tippe, irgendwer hat noch was mit ihr vor?“

„Jetzt fang du auch noch an, rumzuspinnen, Milly? Wer soll schon mit einer sonnengebleichten, ausgedorrten Deutschen, aufgefunden am Strand von Kill Devil, was vorhaben?“

„Wir müssen der Frau helfen, und zwar schnell, sonst verhungert und verdurstet sie, und wir sind schuld, begreift das doch endlich mal.“

„Ja, ja, du wiederholst dich, Milly. Uns die Chance unseres sonst so beklagenswerten Lebens entgehen zu lassen, werde ich noch in dreißig Jahren Tonnen eintreten.“

„Komm, seid nicht so? Ihre Haut ist schon ganz rissig. Und ob sie mitbekommt, dass wir sie gefunden haben, wäre ich mir auch nicht so sicher. Wisst ihr beiden eigentlich, was ihr da vorhabt, ist euch das überhaupt klar?“

„Nein, in das sowieso schon erbärmliche Schicksal unseres vielleicht mal attraktiven Strandfunds einzugreifen und ihr den Rest zu geben, was ist dabei, frage ich euch? Tun wir’s nicht, tun’s andere!“

„Ja, einmal im Leben Gott spielen? Corrigé la Fortune. Wir lassen ihrem Schicksal seinen Eigenimpuls. Wenn sie sich, trotz uns, aus dem Sand zieht, wenn sie das vollbringt, ja, dann gibt es keinen Allmächtigen, wetten.“

„Hört, hört, die Erwartung des Atheisten.“

„Spiel‘ dich nur nicht so auf mit deiner Ambition, Schicksal zu spielen. Vielleicht greifen wir gar nicht zu sehr in ihr Schicksal ein? Wenn eine höhere Instanz beabsichtigt, dass diese verirrte Deutsche weiterleben soll, können wir tun und lassen, was wir wollen, es ändert nichts! Sie wird weiterleben, auch ohne Milly.“

„Es geht auch anders. Wir Menschen schleichen, gehen, laufen und stolpern von der Geburt bis zum Ziel bloß unseren deterministisch vorgegebenen Pfad. Und ihre Determinante gibt vor, dass sie weiterleben soll, dann lebt sie auch weiter, so oder so. Wir Kids mögen nichts, rein gar nichts ausrichten, also, kommt doch endlich.“

„Gut, vertrauen wir ihrer subjektiven Determinante, und gehen. Ob wir zweihundert Dollar einheimsen oder nicht, spielt dabei keine Rolle!“

„Nicht schon wieder! Hör auf mit deinem Gefasel von der vorbestimmten Zukunft!“

„Lebensschwankungen, wie unsere schmachtende Deutsche sie erlitten hat, könnten bloß Störungen, temporäre Irritationen ihres sowieso vorbestimmten Lebens sein? Indem sie so emsig kriecht, seht euch nur diese Strandspur an, gehorcht sie bloß ihrem inneren Befehl, manche nennen es ‚Instinkt‘, weiterzuleben. Und das wird sie auch schaffen, ganz egal, ob wir ihr unter die Arme greifen oder nicht! Also lasst sie, jeder Versuch eines Eingriffs ihrer Vorbestimmung wird zu nichts führen.“

„Nur dass sie hier in der Sonne vor sich hinschmilzt. Irgendwas ist schiefgelaufen, Dexter. Seht doch, ihr fehlt es an allem, so sehr sie sich anstrengt, es reicht nicht! Sie wird sterben, wenn wir sie nicht wegbringen.“

„Wiederholst du dich aus Mitleid gerade? Ihr Schicksal, sofern es noch weiterreicht, wird sie schon wieder auf die Beine holen, sobald es günstig scheint. Morgen ist hier nur noch Müll, wirst schon sehen. Diese Deutsche braucht uns nicht!“

„Das ist doch reinster Voodoozauber, Schamanismus pur! Wir sind hier am Atlantik, nicht am Golf von Mexiko, in New Orleans!“

„So, reinster Voodoo, Schamanismus? Siehst bereits giftige Schlangen, wie sie aus Bastkörben zischend herausringeln, wie? Wild trommelnde Bongos und Congas skandieren den Gang zum Marterpfahl?“

„Ach, du Schande, wer kommt denn da auf uns zu?“

„Genau dasselbe würde ich auch fragen: „Was wollen die denn hier?“

Ein dunkelblauer Willy-Pick-up fuhr langsam quer über den Strand. Mit ungutem Gefühl sah Dexter dem sich nähernden knatternden Motorgeräusch entgegen.

„Vielleicht können die beiden Fahrer uns ja helfen, die Frau ins Krankenhaus nach Elizabeth City zu bringen?“

„Optimistin, Milly! Gleich wirst du eines Besseren belehrt werden, warte nur ab.“

Das Willy-Pickup stoppte ziemlich knapp vor Dexters Beinen. Seinen stark tätowierten Arm lässig aus dem offenen Beifahrerfenster lehnend, röhrte der Beifahrer selbstgefällig zwischen Begrüßung und Drohung:

„Howdy, wen habt ihr denn da Nettes liegen?“

„Weiß auch nicht, als wir drei den Strand entlangkamen, lag sie hier. Sie muss vom Atlantik angespült worden sein.“

„Als ob mich das noch interessiert. Die Dame sieht etwas ramponiert, und zudem bleich, aus, haucht die etwa noch?”

„Sie lebt, wenn Sie das meinen, Sir?“

„Das ward doch nicht etwa ihr, oder?“

„Nein, der Atlantik hat sie angespült, wie ich schon sagte, Sir!“

„Ach, dein verdammtes ‚Sir‘ kannst du dir sparen, Kleiner. Bei so vielen Tattoos, wie über unsere beiden Körper verstreut sind, gehört unsereins nicht mehr zur Gentlemanklasse. Mit unserem Pick-up, chic, nicht, fahren wir einfach mal die Halbinsel ab. Man kann ja nie wissen, was so ein wildgewordener Atlantik von weit her noch so anspült? Und wir in Kill Devil Hills sollen ja immerzu versuchen, dem Teufel ein Schnippchen zu schlagen, ha, ha. Erwischt hat ihn noch keiner! Keine Belohnung, kein Whiskey – so simpel ist das nun Mal in Kill Devil Hills. Euch wird das bestimmt auch nicht fremd sein, was? Kommen wir zur Sache, Kids. Euer Fund sieht gar nicht so ärmlich aus. Schätze, sie war mindestens einmal auf einer höheren Etage des Empire State Building. So richtig wieder hochgepäppelt wird die Miss einiges draufhaben, hä, hä?“

„Sie ist eine Deutsche!“

„Reuben, lass!“

„Ach, ihr wisst, woher sie kommt? Aus Good Old Germany, also!? Ich hatte noch nie was gegen Krauts, wisst ihr. Die Unionisten wollten ja den verflixten Krieg, und nach ein paar Jahren liegen deren Weiber an unseren Stränden rum, ha, ha!? Huch, im Nachthemd? Wohl im Schlaf vom Schicksal überrascht, wie? Hey Mädchen, dann ist die Handtasche an deiner Seite gar nicht deine, wie? Zu dumm, hätte ich auch gleich draufkommen können. Die Handtasche wäre auch viel zu groß für dich und viel zu chic allemal, noch dazu in dieser Gegend. Genau, so was suchen wir. Sind da wenigstens Moneten drin?“

„Die Handtasche ist die der Deutschen! Sie lag neben ihr, rührt sie nicht an, und verzieht euch ganz schnell!“

„Hab’ da plötzlich was an den Ohren? Egal, wie zerschunden, weichgespült, Hauptsache, dass noch Beute drin ist, nicht wahr, Joe? Mein Fahrer wird nämlich wild, wenn’s nichts zu holen gibt, versteht ihr? Her damit, Kleine, muss mir ’n Bild vom Inhalt machen, ha, ha.“

„Diese Handtasche geht Sie gar nichts an, Mister! Haut ab, und lasst uns in Ruhe.“

„Vielleicht verbraucht sich jetzt gerade unser Schicksal schneller als vorgesehen“, flüsterte Reuben in sich hinein.

„Ho, ho, hört sich einer das junge Ding an! Will mir erklären, was ich zu tun und zu lassen habe. Was, Joe, das nenn‘ ich Schneid. (…) Aber, mein junges Fräulein, so läuft das nicht, nicht am Strand von Kill Devil Hills! Wer älter ist, na ja, der Rest fällt euch ja schon ein. Also, her damit!“

„Lassen Sie Milly in Ruhe. Die Handtasche ist ihre, und ihr beide verschwindet auf der Stelle, dass das klar ist! Wir brauchen hier nicht auch noch Scherereien. Diese Frau da muss gerettet werden, was wir alleine übernehmen, verstanden!“

Wie auf Kommando klappten beiden Autotüren gleichzeitig auf. Joe, der Fahrer, beleibt, voller Bart, ziemlich groß sprang heraus und baute sich demonstrativ vor Dexter auf. Wem ab sofort das Zepter am Strand gehörte, daran schien kaum noch was zu ändern zu sein.

„Du meinst doch nicht mich, Kleiner? Bevor ich dir jetzt eine knalle, verzieht ihr euch auf der Stelle, besser ist’s. Du willst doch nicht für den Rest deines Lebens über das Schicksal deiner Nase lügen müssen, was? Wenn ich ihr wäre, würde ich es nicht drauf ankommen lassen? Die Handtasche lasst ihr hier! Die Frau, Deutsche, hä? War mal in Wiesbaden, ach, ist das lange her!? Wenn sie noch was anderes zu bieten hat, kümmern wir uns um sie, was meinst du, Randy?“

„Deal, der Küstenstreifen gehört euch. Nur nicht die Frau und ihre Handtasche. Hat euch niemand gesagt, dass einfach so Handtaschen zu stehlen, unter Strafe steht?“

Woraufhin Joe Dexter eine schallende Ohrfeige versetzte. Randy öffnete, ziemlich grimmig dreinblickend, die Beifahrertür des Pick-ups und raunte nachsetzend: „Na, los, seid Ihr noch nicht weg, Jungs. Das Mädel auch, wir sind ja nicht so!? Meine olle Winchester hat schon lange nicht mehr geschossen. Wollt ihr Mal sehen, ob sie noch feuert, hey?“

„Soweit gekrochen, und dann soll die Frau wegen euch elendig hier verenden? So was lassen wir nicht zu, ganz einfach.“

„Hä, sprechen wir noch dieselbe Sprache, oder ist da was in der Luft? Ihr drei sollt abhauen, oder sollen wir euch Beine machen? Mit der Handtasche als Beute sind wir zufrieden, na, los, wird’s bald!“

Im selben Moment bückte sich Reuben, griff mit seiner Rechten in den Sand und schleuderte den Inhalt, so gezielt es nur ging, in Joes Gesicht. Randys volle Ladung ins Gesicht folgte blitzschnell. Wild mit beiden erhobenen Armen um sich fuchtelnd, drehten sich Joe und Randy im Kreis. Zwei weitere Sandhaufen flogen in Sekundenschnelle, links und rechts verteilt.

Anschließend stürzte Reuben zur Landefläche des Willy-Pick-ups, um Stabiles, Grifffestes von dort abzugreifen. Sekunden später kreiste ein hastig herbeigeholter Metallhammer über Joes, dann Randys kaum behaarten Schädeln. Jeweils ein Hammerschlag ließ beide in die Knie sinken, dann der Länge nach in den Sand purzeln.

Überglücklich, der Gefahr entronnen zu sein, tuckerten Dexter, Reuben und Milly kurz darauf in ihrem etwas unsanft ‚entliehenen‘ Willy-Pick-up davon. Auf der Ladefläche lag die ihres Schicksals noch mal entronnene Deutsche, die nun dem Krankenhaus von Elizabeth City entgegenschüttelte.

Die atlantische Magd

Подняться наверх