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Schmerzvolle Irritation

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Minuten, nachdem Männerstimmen im Korridor verschwunden waren, regte sich ein Wimpernschlag. Noch Nacht draußen. Laternenlicht leuchtete durch verhangene Fenstergardinen, entlang der Zimmertür zog sich ein langer Lichtstreifen. Eine Zimmertür ging auf, Geige und Cello, Yves? Der Lichtstrahl verschwand wieder, Dunkelheit. Das Gespräch weiter vorne im Korridor wurde lauter. Einer fragte, zwei antworteten.

Wohin hatten sie mich transportiert? Einfach in dieses Zimmer geschmissen, welches ziemlich ordentlich sich anfühlt. Vorsichtig prüfte Ann vom Hals ab ihre Gliedmaßen durch. Die Hände waren frei beweglich, nicht gefesselt. Beine und Füße? ‚Nichts an mir ist gefesselt!‘ Sie war frei, aufzustehen, vorwärts zu spüren, Zimmertür und Klinke zu ertasten. Sie ließ sich runterdrücken, die Zimmertür sich einen Spalt weit öffnen.

Dunkler Korridor. Im Zimmer rechter Hand unterhielten sich zwei Männerstimmen miteinander. Ein Licht wurde hörbar über ihr ausgeknipst. Im hinteren Zimmer, gerade noch hörbar, stotterte wer, unterbrochen von einer texanisch klingenden Stimme. Mehrmals fiel der Name ihres Bruders, James Lindy, dann wieder FBI, Kommunismus.

Am liebsten hätte sie auf der Stelle die Zimmertür aufgeschlagen, hätte sich demonstrativ hingestellt und erklärt, dass das alles nicht stimme. Im selben Moment, als sie überlegte, kamen ihr Zweifel. Vielleicht war doch was dran an James Geheimnistuerei, und ich hatte ihn vorhin fälschlich verteidigt. Schließlich kam ich in diese Lage, weil James sich so verschwurbelt anstellt, aber ich weiß doch nichts, noch nicht.

Erst in diesem Moment merkte sie, dass sie auf Nylons durch den Korridor schlich und erschrak. Irgendwer hatte ihr vor dem Hinlegen ihre After-Work-Sandaletten ausgezogen, in denen sich so schlecht floh, wie sie nun merkte. Trotzdem ‚verdammt!‘ Ann zuckte zusammen, und die Zimmertür hinter ihr fiel ins Schloss. Vorbei an dem Zimmer, aus dem sie gekommen war. Mehrmals hörte sie hinter sich abflauend ‚Lindy‘ oder als Frage gestottert: „Was wollt ihr nur mit seiner Schwester?

Nachdem sie im Korridor weiter vorangeschlichen war, rutschte sie plötzlich leicht über glatten Boden. Spürte kurz darauf eine stechende Matte unter ihren nylonbestrumpften Fußsohlen. Neben ihr fiel etwas zu Boden, an dem sie vorbeigestrichen war. Eine Zimmertür ging hinter ihr im Korridor auf, jemand schaute heraus, fragte: „Ist da wer?“ Sie trat vom Eingang weg in eine Einbuchtung, wo vereinzelt Jacken hingen – sie war an der Garderobe angekommen. Durch die verglaste Haustür sah sie auch schon nach draußen ins matt erleuchtete Dunkel.

Die Haustür war abgeschlossen, gefühlt steckte kein Schlüssel - was nun?

Enttäuscht und entschlossen, das Haus so schnell wie möglich zu verlassen, schlich sie durch den ziemlich langen Korridor zurück, bis zum hinteren Korridorende. So weit, bis sie eine ein Stück weit offene Schiebetür bemerkte, die sie aufzog und hindurch huschte. Nun stand sie in der ins Dunkel gehüllten Küche, in der ein Kühlschrank neben ihr brummte.

Der Fußboden fühlte sich mit einem Mal wieder glatt an, und sie nahm eine breite Fensterverglasung in Reichweite wahr. Draußen war noch alles dunkel. Links und rechts roch es nach Gebratenem, Gemüse, Kaffee und nach Männern. Eine Küchenuhr tickte nervend an der Wand, ohne dass sie erkannte, wie spät es war. Sie stieß gegen eine Kante, fühlte. Ein Küchenschrank mit verkrümelter Oberfläche. Nachdem sie sich entlang des Küchenschranks vorangetastet hatte, stieß sie gegen eine Stuhllehne und spürte mit einem Mal kühle Außenluft von vorne wehen.

‚Das war’s, meine Rettung! Vor mir lag die Veranda, und über sie würde es mir gelingen, zu entkommen‘, durchzuckte es sie freudig. Zudem erlaubte ihr einfallendes Zimmerlicht von oben, ein wenig zu sehen. Von der Veranda aus erkannte sie auf der Gartenwiese einige versetzt gestellte Gartenstühle, welche einen ovalen Holztisch umkreisten. Eine schmale Steintreppe führte von der Veranda in den Garten hinab. Angekommen auf wegführenden Steinplatten, zu hohe Grasbüschel streiften ihre Fußgelenke, schlich sie vorwärts, bis sie Zweige einer hohen Hecke ertastete, die ihr den Weg versperrte. Sie tastete sich Schritt für Schritt entlang dieser hohen Hecke, bis sie wieder spürbar auf Kieselsteine trat. Dann atmete Ann auf, sie hatte den Heckendurchgang gefunden, ging hindurch und spürte plötzlich Asphalt unter ihren bloßen Sohlen. Vor ihr parkte ein Auto, das sie nur als Silhouette wahrnahm, dennoch, sie war auf dem Parkplatz angekommen.

‚Der Hausparkplatz‘ schoss es Ann durch den Kopf, und wo ein Parkplatz ist, muss es auch eine Ausfahrt geben.

Sie schlich mit dem Rücken an immer wieder stechenden Zweigen entlang. Ihre Wade streifte einen Kotflügel, und noch einen, die Ausfahrt sollte nun vor ihr liegen. Dann war es soweit. Sie brauchte nicht mehr zu schleichen, denn sie spürte Luftströme von rechts und von links, und ging nun auf Straßenasphalt eine Schräge abwärts.

Nach einigen wenigen Schritten war’s dann soweit. Endlich, ich habe es auf eine Straße geschafft, die noch im tiefen Dunkel lag. Kaum ging sie mittig auf der asphaltierten Straße, setzte auch schon das Morgendämmern ein und Singvögel jubilierten noch zaghaft und vereinzelt dem neu beginnenden Tag. Doch wohin, die Straße rauf leuchteten mehrere Straßenlaternen – ein schummrig beleuchtetes, nächtliches Straßenbild eines der nobleren Vororte Bostons? Hier war ich noch nie, durchzuckte es Ann. Die linke Straßenrichtung führt wohl hinein nach Boston, da sie leicht abwärtsführt.

Plötzlich, sie war schon länger unterwegs, hörte sie hinter sich ein Geräusch. Ann blieb stehen, sah sich um. Ein Fahrradscheinwerfer näherte sich ihr und Minuten später überholte sie ein Zeitungsbote, hielt vor ihr an und warf die Tagesausgabe des Chronicles in eine Mailbox, welche an einem Zaun hing. Von hinten ging Ann auf den Zeitungsboten zu, fragte: „Wo bin ich, Viertel und Straße?“ Der junge Zeitungsausträger drehte sich verdutzt nach der für ihn unwirklich erscheinenden Frau um, besah sie sich von Kopf bis zu den Füßen, setzte sich kopfschüttelnd wieder aufs Rad und radelte wortlos weiter.

Ann legte in minütlich sich aufhellenden Sichtverhältnissen eines anbrechenden Tags noch einige Hundert Yards durch eine wohlsituierte Gegend zurück. Salziges Meerwasser war von Westen her zu riechen, doch der Atlantik war nirgends zu sehen. Unter Schmerzen ging Ann, ihr gähnen unterdrückend, nun in Richtung City, an ganz passabel aussehenden Mehrfamilienhäusern eines Viertels vorbei, durch das sie noch nie gefahren war.

Mit jedem Schritt begannen ihre nylonbestrumpften Füße mehr zu schmerzen. Die Sonne ging, von Wolken verschleiert, auf. Breite und schmale Karossen fuhren an ihr vorbei, leuchteten sie kurz an, wunderten sich wohl über eine Blonde im Kleid auf einem ansonsten leeren Bürgersteig. Nach fünf Uhr morgens musste es sein. Wer auch immer an ihr vorbeifuhr, stoppte kurz, wohl um sich zu vergewissern, gab dann wieder Gas, sonst geschah nichts.

Häusertypen beiderseits der Straße wechselten, Mietshäuser wurden höher, Kiesplätze mit Toren oder hängenden Körben kamen immer wieder in Perspektive. Auto- und Radfahrverkehre nahmen von Minute zu Minute zu. Die Tageszeit schritt voran, aber sie spürt, wie sie immer schwächer wurde.

Ann bog in eine schon viel befahrene Querstraße ab, da sie von Ferne ein Telefonhäuschen entdeckt hatte, welches auf einem Vorplatz zu einem Park in der Ferne aufgetauchte war. Kaum gesehen, wollte sie nicht schnell genug hinkommen. Doch sie überschätzte ihren Erschöpfungsgrad, schleppte sich daher nur mit Mühe ans Ziel.

Eine Ahnung, wen sie an diesem Morgen aufwecken könnte, hatte sie schon. ‚Ohne meine Sachen kann ich nicht verschwinden, weg aus Boston, untertauchen‘, imaginierte sich Ann mit jedem Schritt auf das Telefonhäuschen zu, ihren Plan für diesen so abwegig anders beginnenden Tag.

Eine doppelspurige Straße trennte sie vom Park, als sie an der ins Auge gefassten Straßenecke ankam. Sie humpelte schon ein bisschen zur Ampel hin, wartete auf Grün. Schon im Überqueren der Straße griff sie in ihre Jackentasche, fingerte nach vorhandenem Kleingeld und zog einige Centmünzen heraus. Auf offener, sich vorgehaltener Handfläche schätzte sie ab, ob letzte Münzen für ein Stadtgespräch ausreichten, dann murmelte sie: ‚Das könnte passen.‘

Stechende Fußschmerzen bezähmend, öffnete Ann die Telefonzelle, verqualmt und mit zerfleddertem Telefonbuch. Die lokale Nummer, welche sie sich zu wählen vorgenommen hatte, memorierte Ann aus Gewohnheit aus dem Gedächtnis. Sie nahm den Hörer ans Ohr, warf das Telefongeld ein und wählte die Telefonnummer ihrer befreundeten Kollegin, von der sie sich am Abend zuvor gegen elf Uhr p.m. eilig verabschiedet hatte. In den Freizeichensekunden kasteite Ann sich: „Ich sehe wahrscheinlich abscheulich aus. Nur gut, dass mich Lisa nicht sehen kann. Oh, wenn’s gut geht, wird sie mich aber sehen, sehr bald sogar.‘

Bis am anderen Ende der Leitung abgenommen wurde, dauerte es mehrere Klingelintervalle. Das Erste, was in der Leitung raschelte, waren vergebliche Ansätze, den Hörer ans Ohr zu halten, unterlegt von langgezogenen Gähnlauten, dann:

„Wie viel Uhr ist es überhaupt? Wer sich auch erdreistet, mich aus meinen Träumen zu holen, rufen Sie später an. Bye.“

„Ann hier, du musst was für mich tun, Lisa. Leg nicht auf, bitte.“

„Ann, du?“

„Natürlich ich, wer denn sonst. Du musst mir helfen!“

„Ich dir helfen? Du kannst nicht Ann sein.“

„Lass die Späße, Lisa. Diese Typen von gestern Abend hatten mich ausgeknockt und irgendwo heute Nacht eingesperrt. Auf jeden Fall aber hier in Boston. Ich konnte kurz vor Morgengrauen abhauen. Wie du dir vorstellen kannst, bin ich in größter Gefahr! Sie dürfen mich nicht wiederkriegen, verdammt, verdammt!“

„Wirklich, Ann, erzählst du mir auch nichts?“

„Denkst’e, ich lüge, Not ist an der Frau. Wenn du mich nicht abholst, bin ich aufgeschmissen, ehrlich.“

„Das hört sich ja schlimm an, Ann. Wir haben uns gestern Abend solche Sorgen gemacht, als du uns einfach so sitzenließt.“

„Lass mal die Sorgen, ich brauch deine Unterstützung, und dass sofort!“

„Natürlich, Ann, wo bist du denn?“

„Sag ich dir gleich. Hast du meine Sachen gestern Abend mitgenommen?“

„Natürlich, soll ich sie dir bringen, Ann?“

„Du bist ein Schatz, Lisa. Ja, ja, komm nur her, aber mach schnell. Ich telefoniere vom Münzfernsprecher am Eingang eines großen Parks. Hol mich ab und bring die Sachen von mir mit, so schnell es geht! Komm, es geht um Leben und Tod.“

„Tod? Wann – sofort? Ich muss mich in spätestens einer Stunde zur Arbeit aufmachen. Ann, du doch auch.“

„Müsste ich auch, Lisa, aber daraus wird wohl nichts. Die Typen dürfen mich nicht noch mal kriegen. Ach, kannst du mir Schuhe leihen, meinetwegen Sportschuhe.“

„Sportschuhe, du?“

„Mach’s einfach, keine Zeit für Fragen. Ich kann kaum noch gehen und muss verschwinden von hier, untertauchen, ach, ich weiß noch nicht, wohin, nur weg aus Boston.“

„Und, James, kann er nicht …“

„Ach, hör mir bloß mit dem auf. Eigentlich sind sie hinter ihm her, mehr sag‘ ich aber nicht.“

„Hinter James, wer denn?“

„Du begreifst auch gar nichts, verdammt. Die beiden Typen von der Theke, die uns gestern Abend andauernd beobachteten. Mehr weiß ich nicht. Sag bloß niemand etwas, kapiert! Das ist unser Geheimnis, Lisa.“

„Wegen deines Bruders sitzt du in der Patsche, verstehe ich das richtig?“

„Ja, wenn ich’s nur wüsste, warum genau? Ich krieg’s schon noch raus. Kommst du? Möglichst schnell! Nichts ist so kostbar wie Zeit in meiner Lage, bitte.“

„Natürlich, ich mach schon, Ann. Rund um die Uhr dir zu Diensten. Wo finde ich dich überhaupt, Ann?“

„Weiß nicht, irgendwo in Boston. In Sichtweite steht ein rechteckiger Steinblock mit einer breiten Kupfertafel, auf der mehrere Indianer Kisten ins Meer schmeißen.“

„Indianer, die Kisten ins Meer schmeißen, sagt mir nichts. In deiner Nähe wird doch irgendwo ein Straßenschild hängen, sonst kann ich überall hinfahren, ohne dich zu finden.“

„Lisa, noch nichts von der Boston-Tea-Party gehört?“

„Ach so, die, die wird doch hier an jeder Ecke bejubelt. Weswegen hab’ ich nie verstanden. War auch nie gut in Geschichte.“

„Trotzdem hast du den Einstellungstest bestanden. Lisa, du machst dich sofort auf den Weg hierher, und bring‘ ja meine Sachen von gestern Abend mit, ja nicht vergessen.“

„Wie soll ich denn das machen, Ann? Ich muss gleich zur Arbeit, und du erst recht.“

„Lass‘ die Arbeit mal Arbeit sein. Mich wird man vermissen, dich eher nicht. Wenn alles klappt, sind wir auch in ein oder zwei Stunden fertig, und du kannst hinsteuern, wonach dir Lust ist. Lisa, mach schnell, sie dürfen mich nicht noch mal kriegen, die Zeit drängt!“

„Verschwinden, wohin denn, Ann?“

„Das erzähl ich dir nachher, Lisa, komm erst mal! Ich überleg mir da noch, und du fährst, ok? Eine Idee hab’ ich schon, wohin. Komm nur erst mal her, dann sehe ich weiter.“

„Wie, du willst nicht mehr zu uns kommen, Ann? Was wird nur aus deinem Arbeitsplatz? Wir werden eine neue Vorgesetzte bekommen, die keine von uns kennt, herrje. Das kannst du nicht wollen, Ann, das lasse ich nicht zu. Keine von uns kann sich das vorstellen. Wir werden rangeln, uns kloppen, angiften und trotzdem zu keinem Resultat darüber gelangen, wer dich ersetzen soll. Was ist bloß los mit dir, Ann, gestern Abend stiehlst du dich aus der Kneipe und holst nun mich frühmorgens aus dem Bett?“

„Kommst du nun oder lässt du mich in Stich, Lisa?“

„Natürlich, Ann, für dich täte ich alles. … hallo? Aufgehängt.“

Eine halbe Stunde später fuhr Lisas in ihrem in die Jahre gekommenen Studebaker Champion auf den so gut wie leeren Parkplatz, auf dem Ann sie schon in Sichtweite heranwinkte. Kaum, dass der Wagen stand, signalisierte Ann Lisa, das Autofenster herunterzudrehen. Ohne morgendliche Begrüßung forderte Ann in einer herrisch befehlenden Art, wie Lisa sie an Ann nicht kannte, ihr ihre Sachen auszuhändigen.

„Deine Sachen liegen in einer Tüte im Kofferraum, Ann. Wie bist du denn drauf heute Morgen? So kenne ich dich gar nicht.“

„Mach‘ schon, öffne deinen verflixten Kofferraum! Ich hab’ keine Zeit, werde gejagt!“

„Zeit, Zeit, Zeit, sonst hast du alle Zeit der Welt. Wenn wer hinter deinem Bruder her ist, wirst du schon nicht …“

„Halt endlich dein Maul.“

„Wie, bitte? Das ist nicht fair, Ann Sag schon, was ist nur plötzlich los mit dir?“

„Verzeihung, Lisa. Weiß selber nicht mehr, wer ich in nur einer Nacht geworden bin!? Ich weiß nur, dass ich mich schnellstens in Sicherheit bringen, schützen muss. Stunden, wie die Letzten, möchte ich nicht noch mal durchmachen. Einer von denen hatte mich gestern Abend einfach so ausgeknockt, stell dir das Mal vor. Auf offener Straße, kurz vor Mitternacht.“

„Meine Güte, was hat James nur mit Kriminellen zu schaffen?“

„Das waren keine Kriminelle, Lisa!“

„Keine Kriminelle, wer dann?“

„Vielleicht kann ich dir davon später mal erzählen, was genau vorgefallen ist. Ist zu früh, sich heute Morgen einen Reim draufzumachen, und ich bin sowieso durch den Wind. Ich bin zum Glück ja wieder aufgewacht und konnte mich davonschleichen, bevor der Tag anbrach. Was war mit meinem Rover, habt ihr, wie verabredet, gestern Abend noch mal nachgesehen?“

„Klar, aber der war weg, als wir eine schlechte halbe Stunde später nachsahen. Nachdem du vom Tisch verschwandst, schwante uns Schlimmes und wir ergingen uns nur noch in Sorgen.“

„Verflucht, diese verdammten Kerle haben auch meinen Rover mitgenommen. Möglich, dass ich auf dem düsteren Parkplatz an ihm vorbei schlich? Noch ‘ne Unverschämtheit mehr. Komm, Lisa, mach den Kofferraum auf! Zeit ist knapp, und ich muss noch telefonieren, wo Melon Jim zurzeit steckt.“

„Dieser Wrestler? Ann, was willst du denn mit dem? Eine intelligente Frau wie du, und so ein brachialer Typ.“

„Das lass mal meine Sorge sein, meine Liebe. Ich muss mich so schnell, wie möglich aus der Schusslinie bringen. Je weiter entfernt, desto besser. Wenn James zu euch runterkommt oder euch anruft und nach mir fragt, zuckst ihr nur mit eueren Schultern, verstanden. Du weißt nichts, die anderen erst recht nicht! Vor allen aber soll James keinerlei Schimmer davon bekommen, was mir widerfahren ist, kapiert. Folglich hältst du die Klappe.“

„Wenn’s doch seinetwegen passierte?“

„Still, Lisa, manche Dinge sind einfach zu hoch für dich. Befürchte, auch zu hoch für mich, leider muss ich jetzt dadurch.“

Ann humpelte zum Kofferraum, ließ Lisa aufschließen und zog Hand- und Einkaufstasche heraus. Zog sich rasch ihr Kostüm vom Abend an und setzte sich auf den Beifahrersitz, entschlossen Lisa anweisend, endlich loszufahren.

„Wohin“, schaute Lisa, das Auto anlassend, Ann argwöhnisch von der Seite an.

„Na, was fragst du noch, Richtung Stadtmitte, zum Hauptbahnhof, erst telefonieren und dann ab in den nächsten Zug. Ich hoffe, mein Portemonnaiegeld reicht noch für die Hinfahrt, oder leihst du mir was?“

„Klar, Ann. Wie viel, vor allem aber, wohin zieht es dich?“

„Du gibst wohl nicht auf, Lisa, was. Drück mir die Daumen, dass Melon nicht gerade wrestelt, sondern heute Morgen seinen Boxsack Zuhause zerknautscht.“

„Boxsack Zuhause zerknautscht, soll das deine Lösung sein?“

„Weiß nur, dass ich mich ich für ‘ne Weile unsichtbar machen muss. Pass auf die Straße auf, Lisa, meine Flucht soll doch nicht vorzeitig im Straßengraben enden.“

„Ann, was ist plötzlich los mit dir, dass du so einfach dich davonstiehlst? So kenne ich dich nicht, so kennt dich keine.“

„Das las mal meine Sorge sein, Lisa. Wenn die beiden von der CIA waren, wie ich befürchte, kann man sich nur aus dem Staub machen. Vergiss es, schnell, ich halluziniere schon, verdammt.“

„CIA. Du und CIA, spinnst du jetzt total?“

„Frag nicht so viel, fahr‘ endlich los!“

Lisa steuerte allmählich hinein in die schon verkehrsreiche Bostoner Innenstadt, dem Hauptbahnhof entgegen.

Kaum, dass der Wagen in die Bahnhofsstraße hineinfuhr, kommandierte Ann:

„Kannst übrigens schon mal ‘nen Parkplatz suchen, Lisa. Ich muss da drüben mal telefonieren. Hoffentlich nur ein einziges Ferngespräch.“

Dann hielt Lisa.

Ann öffnete die Wagentür, sprang, als läge nichts hinter ihr, auf den an Passanten reichen Bürgersteig.

„Brauchst du Kleingeld, Ann“, reckte sich Lisas Kopf zur Beifahrertür.

Ann trat ein paar Schritte zurück, beugte sich und hielt zum Dank mehrmals ihr zuwinkend, ihre Handtasche hoch, verschwand kurz darauf in einem Hauseingang mit blinkender Telefonwerbung.

Lisa sah Ann Minuten später Treppenstufen hochhetzen, bis sie dann eine Drehtür verschluckte. Noch in der Rotation fingerte Ann überaus nervös einige Cents aus ihrem Portemonnaie, rannte zur nächsten freien Fernsprechkabine und öffnete sie. Centmünzen ließ sie nacheinander in einer übelriechenden Kabine in den Apparateschlitz gleiten. Aufmerksam, gespannt, sich eine Ausrede für ihren überstürzten Besuch zurechtlegend, wählte Ann eine null und es meldete sich eine junge Frauenstimme: „Wohin darf ich Sie heute Morgen verbinden?“

„Monique Vasquez, Scranton, Pennsylvania! Ist dringend!“

„Oh, eine Frau, so früh am Morgen, wie selten?“

„Machen Sie schon, verbinden Sie, schnell!“

„Oh, ist Ihnen was passiert, brauchen Sie Hilfe?“

„Das brauche ich Ihnen nicht auf die Nase binden.“

„So, aber Ihre Stimme, die kenne doch? Hab’ Sie wahrscheinlich schon oft verbunden, Miss Lindemann, nicht?“

„Richtig getippt, jetzt aber los, mir läuft die Zeit davon.“

„Komisch, wenn Misses sonst so keinen Respekt zeigen, fährt ihnen ein Wagen davon? Scranton, nicht?“

„Ja-a, verbinden Sie schon, schnell!“

„Dann müssen Sie aber noch gehörig einschmeißen, bevor ich Sie vermitteln kann.“

Eilig warf Ann die gewünschten Münzen für Ferngespräche ein und die Verbindung wurde hergestellt.

Nach mehrmaligem Klicken in der Leitung hörte Ann endlich das Freizeichen. Wahrscheinlich würde sich nicht die erwartete Stimme melden, sondern die Moniques, ihrer früheren, und nun Melon Jims Freundin, an der sie erst mal vorbeimusste. Dann, ein Knistern in der Leitung, der Hörer war offensichtlich vom Apparat abgenommen worden, aber sie hörte nur eine Moderatorenstimme aus einem Transistorradio. Genervt rief Ann ihr energischstes ‚Hallo‘ in den Hörer hinein, lauerte auf eine Antwort. Eine Zimmertür ging auf und sie hörte Melon Jims Stimme im Hintergrund, die etwas wie ‚ich bin nicht da‘ flüsterte, dann lauter fragend anschloss: „Wie viel Uhr ist denn, Monique?“ Kurz danach zischte eine bekannte Frauenstimme in den Hörer: „Du hast doch gehört, Melon ist nicht zu sprechen. Für dich nicht, für niemanden, bye.“

„Nein, nicht auflegen, Monique. Ich bin es …“

„Ann, klar, wer sonst sollte uns auch aus Boston anrufen. Nur so früh, das hat Premiere! Ist wieder was Besonderes? Sonst rufst du nie so früh am Morgen an.“

„Ach, Monique, ich wollte nur ankündigen, dass ich euch besuchen komme. Heute noch, und ich weiß nicht, für wie lange. Stellt euch schon mal drauf ein. Es geht wirklich nicht anders!“

„Uns besuchen? Das geht nicht, Ann, ganz und gar nicht! Wir beide fahren nachher …“

„Wir fahren …? Gib schon her“, ertönte der massige Bass Melon Jims in unmittelbarer Telefonnähe, dann übernahm er den Hörer:

„Du hättest mal sehen sollen, wie ich den Fighter letzten Samstag …“

„Nein, Melon, nein, nicht jetzt! Du musst mir helfen. Hinter mir sind welche her, verdammt!“

„Hinter dir ist wer her? Weißt du, wer hinter dir her ist, oder ahnst du es nur? Ach Ann, finde endlich ‘ne Perspektive fürs Leben. Mach‘s deinem Verehrer doch nicht so schwer, gib dir mal ‘nen Stoß, dann ist auch niemand mehr hinter dir her.“

„Melon, warum denkst du immer nur das eine, ich mein’s ernst! Mit Liaison hat das hier gar nichts zu tun, was mir seit gestern Abend widerfahren ist. Ich muss noch heute Boston verlassen.“

„Dass hört sich ja schlimm an, Ann. Du willst, dass ich den Dreckstypen, der hinter dir her ist, aus der Welt schaffe, nicht?“

„Nein, zu groß, zu gewaltig, selbst für dich. So welche kann niemand aus der Welt schaffen.“

„Wie, gleich zwei sind hinter dir her? Was kann ich denn dann noch für dich tun, wenn du sie für zu groß für mich hältst?“

„Nichts, ich kann nur selber was für mich tun, indem ich sofort, verstehst du, sofort, untertauche. Hab’ quasi schon gepackt und fahre gleich von hier mit dem Zug los. Gegen Abend müsste ich bei euch in Scranton ankommen.“

„Wie du sprichst, ganz aufgeregt und überhastet. So kenne ich dich gar nicht, Ann. Bist du’s auch wirklich?“

„Also wirklich, wohl noch nicht ausgeschlafen, wie? Die größte Notlage, die du dir vorstellen kannst, brauste gestern Abend um Mitternacht über mich ein.“

„Du stehst unter der Brause?“

„Melon, Mann, kannst du nicht mal ernst bleiben.“

In Shorts und Unterhemd flüsterte, den Telefonhörer in Armlänge weggestreckt haltend: „Ann will heute Abend zu uns kommen, Monique.“

„Du lieber Himmel, kann sie nicht alleine ihre Probleme aus der Welt schaffen, ohne uns zu belästigen. Sag ihr, dass wir tagtäglich genug eigene Probleme auf die Pinnwand nadeln. Wir brauchen keine Neuen und lehnen ihre Visite dankend ab. Sag ihr das, Melon! Soll Ann doch sonst wo hinfahren, aber nicht zu uns! An Moneten leidet sie ja nicht. Sag ihr, in Kalifornien oder Florida gäbe es genügend Stilblüten zu erleben. Was ist zum Beispiel mit diesem Künstlererben?“

„Kimberley …?“ Melon Jim führte den Hörer wieder ans Ohr, wispelte fast schon zärtlich hinein:

„Ann, wir haben wirklich anderes in den nächsten Tagen geplant, also keine Zeit, I am sorry.“ Melon Jim wartete einen Moment, Stille. Dann stampfte er vor Wut auf, setzte den Hörer kurz ab, setzte ihn wieder ans Ohr und fragte kleinlaut hinein: „Ann, bist du noch dran?“

Der Wrestler hörte sekundenlang heftiges Atmen in der Leitung, fragte vorsichtig, die Lage peilend nach: „Ann, Ann, sag doch was?“

Anns zitternde Stimme schleuderte ihm ein ‚Bye‘ entgegen, danach war Stille in der Leitung. Auch der Wrestler hängte am anderen Ende verstört den Hörer in die Gabel und Monique hetzte:

„Jetzt grollt sie bestimmt, ich sei das Teufelsweib, das sie wieder mal ablehnt. Ann glaubt wohl, alle müssen nach ihrer Pfeife tanzen, diesmal hat sie sich aber gewaltig geschnitten. Die Abfuhr wird ihr guttun. Was denkt sie sich bloß, du seist nur für sie da? Sie spinnt! Auch wenn alle anderen nach ihrer Pfeife tanzen, du nicht, mein Lieber.“

„Zähm dich, Monique, Ann geht es wohl gerade nicht so gut.“

„Nimm du sie auch noch in Schutz, Melon. Hat sie denn gesagt, was los ist?“

„Nur, dass irgendwer hinter her sei, zwei, genau genommen. Die Frau war fertig, was mich zutiefst beunruhigt.“

„Wegen Ann beunruhigt sein? Sie hat doch noch diesen Künstler in Maine. Soll sie sich doch zu dem aufmachen, statt uns lauter Unruhe ins Haus bringen. Melon, wird schon nicht so schlimm sein mit ihr. Vergiss das gerade, und ruf Ann meinetwegen die Tage zurück. Wirst schon sehen, wie sich alles in Schall und Rauch aufgelöst hat.“

Melon Jim schaute seine Hispanofreundin ein wenig irritiert an. Ohne ein Wort zu antworten, ging er zurück ins Schlafzimmer.

Als die Drehtür zur Straße Ann wieder freigab, war ihre miserable Laune im Auto deutlich zu erkennen. ‚Wird wohl nicht gut gelaufen sein‘, murmelte Lisa im parkenden Auto vor sich hin.

Vier weitere Augen, nämlich die von Agent Engelheim und Agent Hawknight, beobachteten vom Bahnhofseingang aus, wie die Ausbrecherin in aller Frühe eine Steintreppe hinunterging. Sich dann an den Bordstein stellte und die verkehrsreiche Straße überquerte.

„Na, bitte, hab’ ich’s nicht gesagt. Unser Ann kann es nur ins morgendliche Gedränge ziehen, also zum Hauptbahnhof. Menschen sind doch so berechenbar“, hinterließ Hawknight im Vorausgehen.

„Berechenbar, was ist denn nun mit dir los, Ed? So was höre ich zum ersten Mal von dir.“

„Ach, nicht hier, Gass! Und wie sie herabsteigt? Siehst du, sie trägt ihre Sachen von gestern Abend wieder. Wie hat sie denn das bloß wieder gemacht?“

„Egal, nun ist sie wieder in unserer Perspektive und wir nähern uns ihr. Sag nie wieder, dass ich mich in Frauenlogik nicht auskennen würde.“

„Wenn du meinst, ein wenig Glück hatten wir schon, dass unsere Ann ausgerechnet hier wiederauftaucht, und sich nicht woanders hin davonstahl. Wenn zwei Kerle mich nachts entführten und ich die Chance bekäme, abzuhauen, würde ich danach auch alles daransetzen, mich aus Schusslinie zu ziehen.“

„Schusslinie? Wir hatten doch mit ihr nichts weiter vor.“

„Nur, dass sie das noch nicht Mal ahnt.“

„Vielleicht doch? Nur keine Zeit, um sich Gedanken zu machen, stattdessen Flucht wohin auch immer.“

„Nur diese Flucht endet schon bald, zudem vor unseren Füßen. Ich bin schon gespannt auf ihren Gesichtsausdruck. Ed.“

„Unsere glattrasierten Kinne sind seit ein paar Stunden Miss Lindemanns Bedrohung, vergiss das nicht!“

„Mit wem sie gerade wohl telefoniert hat?“

„Du kannst sie ja nachher mal fragen. Hoffe, sie hat endlich Einsehen in ihre Lage. Alles andere eskaliert die Situation nur.“

„Was folgt, könnten wir ihr und uns sowieso ersparen. Besuchen wir gleich heute Vormittag Lindy noch mal und erklären ihm, dass uns seine Schwester letzte Nacht so prickelnd amüsierte. Dann hätten wir gewiss schon ein Gesprächsthema, und das eine ergibt bekanntlich das andere! Na, wie wär’s?“

„Lindy, noch mal das Gleiche, nicht so prickelnd, um gleich noch mal dieselbe Ohrfeige, wie gestern, abzuholen? Nein, Lindy ist eiskalt, hast es ja gestern selbst erlebt. Wir müssen ihm anders beikommen.“

„Ich schau noch mal nach, ob ich was übersehen habe.“

„Dann schau mal nach. Lindys Schwester ist aber auch nicht ohne! Die Kleine sieht in Perspektive doch ganz reizend aus, nicht gerade wie eine, die ein Sekretariat leitet.“

„Eher anführt! Schau dir mal lieber an, wie schlecht sie heute Morgen gelaunt ist. Sieht aus, als hätte da was gerade nicht geklappt.“

„Gleich wird sie noch schlechter gelaunt sein, wenn sie uns in die Arme läuft. Was macht sie denn jetzt? Sie strebt dem parkenden Wagen zu, indem eine Frau sitzt und zu ihr herüberguckt, siehst du.“

„Ja, war die Kleine gestern Abend nicht mit von der Partie?“

„Ja, komm‘, holen wir sie uns, ehe sie uns vor der Nase wieder wegfährt. Wir nehmen sie vom hinten an beiden Armen, da wir es halt nicht so gerne mögen, wenn jemand vor uns wegrennt, nicht.“

Engelheim und Hawknight setzten sich nacheinander in Bewegung, drängen sich auf dem Trottoir an Passanten vorbei. Im Lauf stoppte Engelheim und bremste Hawknight mit ausgestreckt vorgehaltenem Arm.

„Halt, der Wagen fährt schon wieder, aber ohne unsere Ann. Wo soll es denn diesmal hingegen, sie ist doch schon am Central Station? Ob sie uns schon gesehen hat?“

„Wir sind auch zu auffällig. Anscheinend bleibt sie hier, der Wagen stoppt wieder. Die beiden Misses unterhalten sich ziemlich angeregt am Fahrerfenster.

„Sieht’s du, die Fahrerin stört sich an kein Hupen, wohl an nichts.“

„Was macht sie denn jetzt? Sie verabschiedet sich, beeilt sich, Richtung Bahnhofshalle wegzukommen. Sieh, Sie kommt auf uns zu.“

„Mein’ste, ich hab’ keine Augen. Ob sie zu uns will?“

„Vielleicht, um sich entschuldigen, weil sie uns den Schlaf geraubt hat? Spaßvogel. Da, siehst du, Sie geht in die Bahnhofshalle hinein.“

„Wohin sie bloß will?“

„Wohin will man wohl in einem Bahnhof? Komm schon, Gass, nun holen wir sie uns.“

Hawknight und Engelheim und eilten vorbei an voranstrebenden Niner’s allen Geschlechts und Altersklassen ins Bahnhofsportal hinein. Nur einige Minuten dauerte es im halb vollen Bahnhofsinneren, bis Engelheim seinen Kollegen Erfolg vermeldend anstieß: „Da hinten steht sie!“

„Dahinten, wo denn genau?“

Engelheim zeigte mit ausgestrecktem Arm in Standrichtung vor einer Fahrplanvitrine.

„Ah, jetzt sehe ich sie auch. Sie schaut sich den Fahrplan an.“

„Irrtum, sie hat ihn sich angesehen, denn nun geht nun wieder.“

„Wohl um ihre Fahrkarte holen. Sie scheint ja wieder Geld zu haben.“

„Ach, lassen wir ihr den Spaß und schnappen sie uns, wenn sie mit ihrer Fahrkartengewissheit vom Schalter weggeht.“

Hawknight und Engelheim gingen gedrosselten Schritts Richtung der Fahrkartenschalter, vor denen sich recht lange Warteschlangen gebildet hatten. Ann Lindemann reihte sich in eine ziemlich weit hinten ein. Währenddessen setzten sich die beiden CIA-Agenten in Sichtweite auf eine Bank und beobachten ihren schleichenden Vorwärtsgang Richtung Fahrkartenschalter.

„Mit uns geht es bergab, Gass. Jetzt sitzen wir schon morgens auf einer Bank in einem kalten Bahnhof und observieren.“

„Hör auf, miese Stimmung zu verbreiten, Ed. Du hättest ihr, als wir mit ihr in der Villa waren, gleich Handschellen anlegen sollen. Dann verbrächten wir unsere Zeit woanders. Sei lieber froh, dass wir so vielen Menschen beim Warten zuschauen.“

„Froh?“

„Na, mit Gottlieb zu frühstücken, wäre auch nicht gerade angenehm heute Morgen.“

„Diese Energie, geradezu unheimlich. Hättest du geahnt, dass Gottlieb zur selben Zeit wie wir in Boston auftaucht?“

„Nein, woher sollte ich auch wissen, wo Gottliebs Pranke zuschlägt. Man munkelt, er habe die teuerste Spesenrechnung der Firma.“

„Wird nur zu gern gezahlt, es dient schließlich Gottliebs Psychiatrieprojekten. Da, Miss Lindemann rückt vor, wird wohl nicht mehr lange dauern, bis sie drankommt. Komm‘, wir suchen uns schon mal ein Plätzchen ziemlich nah am Tunneleingang zu den Bahnsteigen, an dem wir sie überraschen können.“

Hawknight und Engelheim eilten zum Tunneleingang, der zu den Gleisen führte. Hinter einer Säule versicherte sich Hawknight mehrmals mit Rückwärtsblicken. Nach Minuten war es dann so weit. Ann Lindemann, schon in Sichtweite, musste an ihnen vorbeikommen, um zu den Gleisen zu gelangen.“

„Sie kommt, Gass!“

„Ja, ich seh sie auch. Vermutlich nichts ahnend, so, wie sie heute Morgen stolziert.“

Als Ann Lindemann die beiden Agenten, wartend hinter einer Säule, passieren wollte, trat Hawknight hervor, verstellte ihr den Weg und sprach sie freundlich lächelnd an:

„Miss Lindemann, erfreut, Sie hier zu wiedertreffen. Ihr Bett war vorhin leer. Da dachten wir, wir sehen mal nach, wo Sie stecken könnten. Wir waren ehrlich besorgt und überlegten uns, wo Sie sich hingestohlen haben könnten. Da fiel uns als so eine Art siebten Sinn die Central-Station ein. Hätte ich auf Sie gewettet, wäre ich jetzt steinreich. Leider nahm die Wette niemand an, weswegen wir uns begnügen dürfen, Sie hier in Empfang nehmen. Sie erinnern sich sicher: ein paar Fragen zu Ihrem Herrn Bruders.“

Keine Reaktion. Ann Lindemann setzte, ohne sich umzusehen, ihren Gang in den dunklen Tunnel hinein fort. Was die beiden Agenten nicht sahen, ärgerlich verzog sie dabei ihr Gesicht, knüllte ihre Hand zur Faust und versuchte schneller voranzukommen.

Engelheim, gefolgt von Hawknight, setzte ihr nach. Kurz darauf verlor er Ann Lindemann in der Passantenmenge aus den Augen, in die sie eingetaucht war. Hawknight entdeckte sie erst wieder auf den oberen Treppenabsätzen zu einem Bahnsteig. Beide Agenten hasten ihr treppauf nach. Nun war es wieder Hawknight, der Ann Lindemann, einem einfahrenden Zug zugewandt, weiter hinten auf dem überfüllten Bahnsteig ausmachte. Parallel zu einrollenden Passagierwaggons rannten die beiden Agenten in Richtung Ann Lindemann über den nur halbvollen Bahnsteig. Der eingefahrene Passagierexpress kam quietschend zum Stehen. Als die verfolgte Frau bei offener Waggontür schon ihren Fuß auf dem Trittbrett setzte, bereit, einzusteigen, fasste Hawknight sie fest am Arm und zog sie gerade noch zurück. Sie begann, um sich zu schlagen, schrie: „Kann ich, verflucht noch mal, nicht in diesen Zug einsteigen. Was wollt ihr Bestien von mir?“

Rasch bildete sich um die ziemliche wüst aussehende Bahnsteigszene ein Halbkreis von Zuschauern. In der Waggontür zeigte sich eine Schaffneruniform. Mit dunklem Bass forderte der Schaffner, was los sei: „Lassen Sie die Frau los. Ich alarmiere sonst die Bahnpolizei!“

Hawknight, Ann Lindemann mit seiner Rechten zu Boden drückend, schaute erheitert den Schaffner an und fragte: „Die Bahnpolizei, ist er nicht süß?“ Engelheim drehte sich kurz zum Schaffner um und kommentiert salopp: „Wir dürfen das, wir sind von den Himmlischen.“

Nachdem sie, unter aufgewühlten Blicken und derben Sprüchen Ann Lindemann soweit unter Kontrolle gebracht hatten, brüllte ihr Hawknight fragend ins Ohr: „Mitkommen oder Handschellen?“ Ohne etwas zu antworten, folgte sie den beiden Männern durch das Stimmengewirr und Verkehrsgetümmel von Bahnhof und Straße bis ins Parkhaus hinein, wo ein Cadillac parkte.

Hawknight ließ Ann Lindemann unerwartet höflich und besorgt auf dem Rücksitz platznehmen. Kaum hatte der Cadillac das Parkhaus verlassen, tönte es angriffslustig von der Hinterbank: „Was wollen Sie noch, was für ein Spiel spielt ihr beide überhaupt?“

„Spielst du ein Spiel, Gass?“

„Wo gibt es denn was zu spielen?“

Hawknight wendete sich rückwärts, sagte scherzend:

„Wenn Sie wollen, spielen wir, um weich und ohne Schmerzen ihre Zunge zu lösen. Nur ‘n paar Informationen zu ihrem Bruder, mehr nicht. Machen Sie es uns doch nicht so schwer, Miss Lindemann. Sie wissen doch längst, um was es geht.“

„Ich, ich weiß nichts, rein gar nichts. Hab’ keine Ahnung, was ihr von mir und von James wollt. Ihr haltet mich nur von der Arbeit ab – ordentlicher Broterwerb, falls euch das etwas sagt. Der Fahrer hält sofort am Straßenrand und ihr lasst mich raus! Verloren gegangene Arbeitszeit stelle ich euch natürlich in Rechnung, das ist doch wohl klar. Und mein Auto, es stand gestern Abend nicht mehr in der Straße, also, wo ist es? Flegel, Peiniger, eine Dame nachts auf offener Straße k. o. zu schlagen. Wie viel man wohl dafür kriegt, he? Von mir aus, nicht zu wenig!“

„Beruhigen Sie sich erst mal, Miss Lindemann. Ihr Auto, diese Kampfansage an unsere Autoindustrie, ist unbeschadet in Sicherheit, versprochen. Allerdings ist nichts klar, verstanden. Sie wollten doch gerade Zugfahren, nach New York, laut Ticket, nicht?“

Hawknight entriss ihr das Bahnticket und vergewisserte sich noch einmal.

„Was wollen Sie denn in Big Apple? Von mir aus können Sie nach Oregon abdampfen, wir fänden Sie trotzdem, wenn es uns die Mühe wert wäre.“

„Angenommen, ich wäre schon jetzt nicht der Mühe wert, dann kann ich ja gehen.“

„Ha, mit Ihnen muss man’s schon aufnehmen können, was? Noch mal, wohin wollten sie vorhin?“

„Was wohl, mich aus dem Staub machen. Ihr kamt mir gleich so sonderbar vor, als ich euch … das darf nicht wahr sein … gestern das erste Mal sah.“

„Wir und sonderbar, hast du gehört, Gass. Wir beide sind für die Dame nicht exklusiv genug.“

„Miss Lindemann meint bestimmt mit ‚sonderbar‘ dich, Ed?“

„Du immer mit deiner Fuchserei. Wir sind die Guten, haben für Massachusetts Seife gemampft, jawohl, das haben wir. Zwei, drei Antworten, und alles ist wieder in Ordnung! Sie können nachher in Ihren Rover einsteigen, ich geb Ihnen die Schlüssel zurück, und Sie können hinfahren, wohin Sie wollen. Na, ist das ein Deal? Wir sind nicht überall die Bösen, wirklich.“

„Wo haben Sie ihn denn geparkt?“

„Sie müssen heute Morgen vor Sonnenaufgang an ihm vorbeigeschlichen sein, Miss Lindemann. Haben Sie etwa ihr eigenes Auto nicht auf dem Parkplatz bemerkt?“

„Nein, im Unterscheiden von Kotflügeln war ich noch nie besonders gut.“

„Ha, sie lockert sich, hörst du. Aber so ganz abgeschlossen ist die Angelegenheit für uns noch nicht.“

„Warum sucht die CIA meinen Bruder in seinem Büro auf, was hat das zu bedeuten?“

„Doch nicht die ganze CIA, du lieber Himmel, nur wir beiden Bittsteller um Lohn und Gehalt. Weil wir vernarrt sind, aufzuspüren, wo wir was erschnuppern. Und ihr Bruder hat vor Kurzem einen etwas, sagen wir, unangenehmen Duft hinterlassen, der nicht so recht in das von einem Rüstungsingenieur erwartete prestigeträchtige Umfeld passt. – Hab’ ich das nicht fein formuliert?“

„Hast du, Ed.“

„Konkreter, bitte, Düfte verfliegen so schnell, kaum dass sie gerochen werden.“

„Dieser nicht, das ist es ja. Haben Sie in letzter Zeit etwas Seltsames an Ihrem Bruder bemerkt? Warum nicht gleich mit den Fragen beginnen, die unsereinem auf der Seele brennen.“

„Seele, ihr? Wegen ein paar Fragen schlagt ihr mich k. o.“

„Ist Ihnen was spanisch vorgekommen, was uns interessieren könnte?“

„Spanisch, also etwas Seltsames bei James? Da bräuchte ich nicht lange zu überlegen, fragt sich nur, welche Art von Spleen ihr auf dem Kieker habt? James ist das optimale Gegenteil seiner Zahlentabellen – unberechenbar, obwohl er sich am liebsten unnahbar, selbstversessen, arrogant präsentiert.“

„Nicht charakterlich, das haben wir gestern Nachmittag zu spüren bekommen. Wir sind hinter einer Veränderung in letzter Zeit hinterher, die nicht so richtig ins Bild seines sonstigen Images passt. Das heißt, wie sind noch unwissend, wie lange sein Pläsier schon geht.“

„Na, dann viel Spaß! Kann mir schon denken, was euch aus der Routine lockt.“

„So, wir sind geduldige Lauscher, Miss.“

„Ruhig Blut, Ed. Mit Stift und Papier protokolliert es sich leichter. Gottlieb wird bestimmt schon zu seinem umschwärmten Termin unterwegs sein, wenn wir zurückkommen. Also brauchen wir seine Aufmerksamkeit nicht zu fürchten.“

„Gottlieb, nur weg mit ihm! Scheint auch so ‘ne ulkige Type zu sein, Ihr Bruder? Wir fragen uns konkret, was so einer wie Ihr Bruder in einem Hinterzimmer voller Kommunisten macht.“

„Kommunisten, Sie wollen doch nicht andeuten, dass James sich mit roter Brut trifft?“

„Hatten wir doch schon gestern Abend, und flugs sind wir wieder beim Thema angelangt. Ja, so sieht es aus, ihr Herr Bruder traf letzten Samstagabend mit Kommis in Manhattan zusammen, und seitdem hält Ihr ehrenwerter Bruder uns auf Trab.“

„Gleich sind wir da, Ed.“

„Was werft ihr ihm denn genau vor?“

„Vorwerfen, nichts, er hat sich uns nur verdächtig gemacht! Der Name Ihres Bruders wurde letztes Wochenende während einer Razzia in Manhattan gegen sich zu sicher einschätzende Kommis notiert, was unseren Aktionismus auslöste. Für uns ist es ziemlich wichtig, dass er bei den Richtigen auspackt, nämlich bei uns.“

„Was dreht ihr denn für ‘ne Nummer? Ihr vermutet, aber wisst es nicht? Ich lass mich entführen von zwei dummen Jungs, die nur vermuten, aber wie wild durch die Gegend prügeln?“

„He, Lady, vermuten gehört zu unserem Tagesgeschäft. Was soll Ihr Bruder auf ‘ner Anklagebank, beschuldigt und dann unamerikanischer Umtriebe überführt, wenn wir ihn umdrehen und von ihm abschürfen können?“

„Abschürfen, aussichtslos, das sage ich euch gleich. Ihr solltet James misstrauen, auch wenn er etwas zugibt. Ein Schwindelprofi, der Mann. Er reagiert, ohne zu zögern, und ohne Vorwarnung. Schätzt ab, wie er sich rausreden kann, ohne sein Gesicht zu verlieren. Er versucht sich, aus allem rauszuhalten, noch bevor eine Attacke gegen ihn überhaupt ausgeheckt worden ist. Glaubt mir, James hat schon so viel ausprobiert - von Bergsteigen bis Fischen, von Marathontraining bis Bogenschießen. Nach ein paar Monaten tropft sein Engagement jedes Mal ins Leere. Was Neues muss her, das James reizt. Wer hat eigentlich die Razzia veranstaltet, doch nicht die CIA?“

„Tja, wo Wunden in der Welt sind, wird hineingestochen. Was spielt das noch für eine Rolle, Lady? Mann, wie haben Sie das nur geschafft heute Morgen, aus der Villa sich davonzustehlen? Unser kleiner Nachmittagstalk mit Ihrem Bruder war zwar äußerst interessant, aber klüger sind wir kaum geworden, außer uns zu überlegen, dass wir andere Saiten aufziehen können.“

„Andere Saiten aufziehen, ah, deswegen sitze ich wohl noch hier? Dass ihr bei James keinen Erfolg verbuchen könnt, hätte ich Ihnen schon gestern Abend sagen können. Der ist rhetorisch zu brillant, um sich von euch etwas andichten zu lassen.“

„Siehst, Gass, wir sind fehleranfällig, hab ich’s nicht immer schon gesagt.“

„Ihr hattet ihn ja in unserer Kantine erlebt, wie er sich mir gegenüber verhält. Was übrigens typisch für ihn ist. Hat James aber ein Problem, das ihm auf den Nägeln brennt, ruft er mich auch spätabends oder wochenends frühmorgens an.“

„Männerprobleme sollten mich eigentlich nicht interessieren. So perfekt unperfekt, wie Sie Ihren Bruder schildern, scheint einiges nicht bei ihm zusammenzupassen.“

„Jedes Mal, nachdem er ein Rendezvous vereinbart hat, quatscht er mir am Vorabend die Leitung voll. Listet mir Vorlieben der Zugelassenen, ja, Sie hören richtig, auf, was sie trug, wie sie aussah, woher sie kam und so weiter. Wenn er fertig ist, fragt James mich mit hundertprozentiger Sicherheit, ob ich nun wüsste, was für ein Stil Frau seine Auserwählte sei, und wie er am zuversichtlichsten, für ihn natürlich, mit ihr anbändeln sollte. Ich sage Ihnen, der Mann klagt unaufhörlich, dass seine Chancen bei Frauen sinken, je älter er wird. Als ob ich ihm sagen könnte, wie ein Mann in den Vierzigern zu balzen hat. Nach dem ersten oder zweiten Treffen ist eh Schluss, weil er ihr zu vorgerückter Stunde haarklein auseinanderlegt, woran er gerade konstruiert. Dann kommt es, wie es kommen muss. James findet die Dame zwar nett, aber nicht ‚technisch versiert genug‘, wie er hinterher klagt. Eine ist James treu geblieben, er kennt sie seit der Studienzeit und trifft sie in zeitlichen Abständen mal wieder.“

„Und sonst?“

„Sonst, irgendwann hat James die bezweifelbare Welt für sich entdeckt. Entdeckt, dass die Dinge nicht so sind, wie sie scheinen. Seit seiner grandiosen Entdeckung traut er niemanden mehr über den Weg. Sich selbst am wenigstens, solange, bis er eine Zahl hat, mit der sich rechnen lässt. Eine Zahl in natürlichen, dezimalen, rationalen, reellen oder komplexen Dimensionen. Fängt mit einer Quersumme an und James hat wieder seinen Zahlenspaß.“

„Sie verblüffen uns, Miss Lindemann, sind wir doch lichtscheue Bürohengste, die von nichts ‘ne Ahnung haben. Interessieren würde mich schon, ob Ihr Bruder am Ende bekommt, wonach er sich sehnt.“

„Natürlich nicht, niemals! James ist ein durch und durch unglücklicher Mensch.“

„Ach, so hab’ ich ihn mir gar nicht vorgestellt. Eher zornig und gerissen, aufmerksam, gewieft, ein gerissener Taktiker eben. Brennend würde mich nun interessieren, welche Zahl er sich beim Plausch mit Kommunisten erträumte.“

„Vergessen Sie’s. Mit Nullen jongliert er ausgelassen gern. James hat sich im letzten Jahrzehnt seine eigene Welt um sich herum aufgebaut und waltet in ihr, wie es ihm gerade gefällt.“

„Lustig. Wir haben auch unsere eigene Welt, nur ist das Gute und Böse elementar darin verteilt.“

„Oh, natürlich nur privat! Auf seine Rüstung lässt James nichts kommen.“

„Hat Ihr Bruder Sie letzte Woche angerufen und von seinem bevorstehenden Rendezvous am Samstagabend in Manhattan erzählt?“

„In Manhattan, das gehört doch gar nicht zu seinem Jagdgebiet! Will James sich etwa auf seine alten Tage verändern, ohne mich zuvor zu fragen?“

„Das frage ich Sie jetzt.“

„Sagten Sie nicht gerade was von Kommunisten? Das interessiert mich mehr, weil ich diese Leidenschaft an ihm noch nicht kenne. James – ein Roter, hm? Wie hat er es nur geschafft, das vor mir geheimzuhalten.“

„Genau, das reizt unsere Sinne auch mehr.“

„Und dann noch dieses Rendezvous in Manhattan, wie merkwürdig, da passt doch einiges nicht zusammen.“

„Zugegeben, so was könnte man vermuten. Uns hat ihr Bruder gestern noch zugebrüllt, dass sein Rendezvous an jenem Samstagabend geplatzt sei. Dass er deswegen sauer war und er nur deswegen in diese Bar einkehrte.“

„Nein, wegen eines Rendezvous war James bestimmt nicht in Manhattan unterwegs, sonst hätte er in den letzten Wochen zum Feintuning auf seinen großen Tag am Hörer gehangen.“

„Er flunkert also, uns erzählte Ihr Bruder, dieses Rendezvous hätte am Samstagabend nicht geklappt, weswegen er wahllos in eine erreichbare Bar eingekehrt sei, um mit Gin seine Verärgerung zu ertränken.“

„Wie niedlich, das hat James Ihnen gestern erzählt? Höchstens ein Gläschen Gin, danach Orangensaft, Pampelmuse – was weiß ich, alles andere verwirre seinen Sinn, erzählt er sonst jedem und jeder, der oder die es hören soll, weil er ein Mann sei, der öfters im Nanometerbereich forsche. Zu viel Alkohol könnte langzeitgeordnete Synapsen nur außer Kontrolle bringen. James ist arbeitswütig, bis es nicht mehr geht. Na, vielleicht schaffte er es letzte Woche nicht mehr, mich abends anrufen, oder hat es ohne meine Beratung versucht, wer weiß!? Wie Sie nun wissen, bleibt meine Wohnung öfters abends kalt. Tagsüber im Unternehmen spricht James mit mir nur das Nötigste. Darf ja keiner merken, dass sich der Unternehmenskopf bei der Sekretärin Rat sucht.“

„Heimlichkeiten scheinen ihm nicht fremd zu sein.“

„Ich seh‘ nur noch James - kleiner Scherz. Gestern? War James wirklich in New York im Gefängnis?“

„Sieht so aus, aber nur kurz, allerdings musste er einen Anwalt kommen lassen, um entlassen zu werden.“

„Oh, je, dann ist seine Geometrie in Unordnung geraten!? Aber …“

„Was macht der denn da?“

Kaum steuerte der Chevrolet durch die Heckeneinfahrt des CIA-Büros Boston, sah man auf der rechten Parkplatzseite, wie sich ein Mann unter dem hochgeklappten Heck über die Gasturbine des parkenden Rover beugte. Der Mann war kein Geringerer als Dr. Gottlieb, der sich auch nicht von seiner Neugier ablenken ließ, als der Chevrolet ihm gegenüber einparkte.

Kaum, dass die beiden Vordertüren aufschlugen, tönte Gottlieb herüber:

„Wisst ihr, wem diese Prachtkarosse gehört?“

Außer sich darüber, was sie bei der Ankunft sah, stieß Ann Lindemann die Hintertür auf, windete sich ins Freie und raste quer über den Parkplatz. Zu dem fremden Mann herüber, der sich den Frevel herausnahm, unerlaubt die Motorhaube ihres Rover zu öffnen. Gottlieb sah die Frau mit Verve auf sich zurasen, ließ von seiner Inspektion ab und richtete sich ihr abwartend entgegen.

Kaum, dass eine schon schimpfende Ann Lindemann in Reichweite war, schupste sie Gottlieb so heftig, dass er den Halt verlor und fast gestürzt wäre. Im Aufrichten traktierte sie ihn, am langen Arm auf den Rover zeigend: „Der Rover gehört mir, also Finger weg von ihm, verstanden.“

Die dreiste fremde Frau, die soeben Unglaubliches getan hatte, nicht aus den Augen lassend, ruckelte Gottlieb sich wieder zurecht, stand, sich über beide Ärmel wischend, auf. Er stotterte, die Unbekannte freundlich angrinsend: „Ihr Auto, oh, Verzeihung, das wusste ich nicht. Hab’ gerade nur gestaunt über diese prächtige Karosse. Dass ich in unseren Breiten so was überhaupt zu sehen kriege, erstaunlich! Feines Auto, das Sie da haben, wirklich. Fegt wohl nur so über die Straße, wie? Na, da macht das Fahren richtig Spaß, nicht? Nicht, wie mit unseren ollen Chevrolets.“

„Oh, und wie das Fahren im Rover Spaß macht! Deswegen hab’ ich ihn mir ja aus England hierher transportieren lassen.“

„Ui, aus good old Britain? Mögen Sie keine amerikanischen Autos, Lady? In Detroit warten auch elegante Modelle.“

„Nicht so schnell, zudem schrecklich unelegant.“

„Eleganz im Auto, das kann ich mir ja gar nicht vorstellen. Unsereins denkt nützlich, plant nützlich und will natürlich auch nützlich von A nach B kommen. Haben die beiden dahinten Sie etwa belästigt, Miss?“

„Belästigt ist nicht das richtige Wort.“

„So, nicht das richtige Wort? Was wäre denn für Sie das richtige Wort für Sie?“

Gottlieb stemmte energisch seinen Arm in die Luft und schüttelte ihn mehrmals, als Zeichen seiner Ermahnung gegen Engelheim und Hawknight. Dann griff Gottlieb mit der anderen Hand in seine Westentasche und zog eine schmale ovale Blechdose hervor. Er öffnet sie, fingerte sich eine kleine weiße Pille heraus und führte sie zum Mund. Bevor die Hand den Mund erreichte, zog er sie wieder zurück und sagte freundlich grinsend: „Verzeihung, my fair Lady, fast hätte ich meine reizende Bekanntschaft vergessen. Mögen Sie auch eine“, und hielt Ann seine halbleere Blechdose hin.

„Was ist denn das?“

„Och, nur so zur Erfrischung. Man tritt den Problemen der Welt aufgeschlossener gegenüber. Wer braucht nicht einen klaren Verstand heutzutage? Morgens, mittags, abends. Greifen Sie ruhig zu, Sie werden’s mir danken.“

„Weiß nicht, das Zeugs hab’ ich noch nie gesehen.“

„Ich biete Ihnen doch kein Zeugs an, was halten Sie denn von mir. Sie befinden sich bei der CIA, den reinsten Jungs der Nation!“

Ann Lindemann warf einen zweifelnden Blick auf Gottlieb, fingerte aus der ihr vorgehaltenen Dose eine Pille und steckte sie in den Mund.

„Wissen Sie, mein Fräulein, gerade erfuhr meine Wenigkeit, dass wir künftig mehr Frauen einstellen wollen. Reizende weibliche Wesen, wie Sie, zum Beispiel, die sich nichts vormachen lassen und in jeder Lage wissen, was zu tun ist. Und wer so rasant unterwegs ist, wie Sie, passt doch ausgezeichnet zur Firma, stimmen Sie mir da nicht zu? So viel Glück, wie Sie haben die wenigsten, gleich den Richtigen zu kontaktieren, der ihre Karriere in der Firma sicherlich befördern kann.“

„Mir ist so schwindlig.“ Ann Lindemann führte ihre linke Hand Richtung Kopf, fasste sich an die Stirn und sank vor Gottliebs ihr schmunzelnd folgendem Blick zu Boden. Als Engelheim und Hawknight angelaufen kamen, blickte Gottlieb auf die vor ihm liegende Frau herunter.

„Was ist mit ihr passiert, Sie stehen da noch rum und unternehmen nichts, Dr. Gottlieb?“

„Was soll schon passiert sein? Die Kleine ist umgefallen. Kleiner Zaubertrick - Las Vegas, 100 Dollar! Pille zwischen Daumen und Zeigefinger halten und so tun, als ob ich sie einnähme. Ja nicht weitersagen, könnte sonst teuer für euch werden. Ihr Drive gefiel mir halt, als sie herüberschoss und mich umstieß. Schaltete sofort, dass ich sie für meine MK’s (MK= Mind Control) ködern sollte. Wird wohl leicht sein, sie unterzukriegen. Wir haben ja in allen Einrichtungen noch Mangel. Ich lass sie nachher vom Transport abholen.“

„Transport?“

„Kleine Umdisposition, sie hat sicher schon mal Erfolg im Leben gehabt und weiß, damit umzugehen, so was sieht man sofort. Eine Schande wäre, sie nicht zu gewinnen.“

„Gewinnen, wovon sprechen Sie überhaupt, Dr. Gottlieb?“

„Solch eine Frage können wohl nur Sie stellen, Hawknight. Solche Frauen, größere Synapsendichte, meine Hypothese, brauchen wir in unseren Spezialabteilungen dringendst! Wer in der Arbeitswelt besteht, wird auch hinter feindlichen Linien ihre Frau stehen, und das setzen wir auch um!“

„Was ist denn nun wieder los? Die Frau bekommt bei uns keine Akte. Sie gefährden unsere Ermittlungen, ist Ihnen das klar, Dr. Gottlieb.“

„Vorsicht, Hawknight, ja! Es gibt eben Höheres als Ermittlungsarbeit. Schwachsinn von vorgestern. Sie haben‘s doch gerade selber beigewohnt. Ein bisschen Pulvermix und schon purzelt ein Mensch, uns zu Diensten. Im Humanoidengehirn und seiner Erforschung zur Militär unterstützenden Menschenmanipulation, ha, vorzugsweise junge, gut erhaltene Frauen, liegt unsere Zukunft! Nehmt sie mit rein! Nachher kommt ein Kleinbus, der kann sie abholen.“

„Dr. Gottlieb, das geht nicht! Unser Fall ist ihr Bruder, nicht die Schwester.“

„Wie wunderbar! Seien Sie doch froh, dass ich Ihnen das Frauchen abnehme und zu Zwecken führe, wo sie mehr nutzen kann. Schluss, mehr will ich nicht hören, verstanden, Hawknight.“

Die atlantische Magd

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