Читать книгу Die atlantische Magd - Ralf Blittkowsky - Страница 8

Die Schwester

Оглавление

Am späten Mittwochnachmittag in Nähe des Werksgeländes. Engelheim steuerte langsam am Außenzaun entlang. Hawknight beobachtete abwechselnd den Ausgang des Unternehmensgebäudes, in dem James Lindy und seine Schwester arbeiteten, zudem den vergitterten Werksausgang.

„Ob sie es mit Nine-to-Five genau nimmt“, durchbrach Hawknights Stimme eingezogene Stille im Fond.

„Dann müsste sie ja bald kommen. Da hinten kommt übrigens schon ihr Bruder.“

„Sollten wir uns nicht lieber an ihn dranhängen und gucken, was der nach Dienstschluss so treibt?“

„Was haben wir uns vorgenommen, Ed? Lindy lassen wir noch ein bisschen zappeln. Er weiß doch seit vorhin, dass wir an ihm dran sind. Deshalb wird er sich hüten, noch was Riskantes zu unternehmen. Lass ihn ruhig nach Hause fahren, wir haben uns für heute Nachmittag seine Schwester als Zeitvertreib vorgenommen, wie du weißt. Erst wenn wir etwas Handfestes gegen Lindy haben, holen wir ihn uns, ohne uns schikanieren zu lassen. Mal hören, was uns die Schwester über Avancen ihres Bruders erzählen wird. Zwar eine kleine Schleife in der Sache, aber nichts soll umsonst sein.“

„Die Schwester hat wohl nichts von der lässigen Arbeitsmoral ihres Bruders, wie?“

„Geduld, Ed, sie wird schon noch herauskommen.“

Eine Stunde, zwei Stunden vergingen. Auf dem Werksgelände gingen nacheinander Laternenlichter an, während in Büroetagen Lampenlichter nur verzögert ausgeknipst wurden. Dann, auf unterer Ebene gingen mehrere Schreibtischlampen etwa gleichzeitig aus!

„Hab’s ich dir nicht gesagt, Ed, gleich trippelt sie hinaus!“

„Schon mal ‘ne gähnende Miss verhört?“

„Du hast sie doch ins Spiel gebracht, Gass. Nun warten wir auch solange, bis sie sich zeigt.“

„Hoffe nur, dass sie verständig ist und mit uns spricht.“

„Deine Hoffnungen kannst du direkt wieder begraben, Ed. Die Frau wird auf uns düpiert reagieren, uns angiften und dann abweisen. Wir haben ja selbst erlebt, wie das Geschwisterverhältnis der beiden zueinander ist, angespannt und nicht das Beste.“

„Ach, so sieht es nur aus? Sah mir eher wie ein eingespieltes Zeremoniell aus, das die beiden in der Kantine miteinander trieben.“

„Machst du jetzt auf Geschwisterpsychologie, Ed? Komm, lass uns fahren. So was herauszufinden, sind wir weder erfahren noch berufen. Wir werden uns Lindy auch so vornehmen, ohne erneut ins offene Visier zu laufen. Keine Lust, auf die Kleine zu warten.“

„Unfug, Ed, nun sind wir hier und bleiben hier, warten, bis die Kleine rauskommt! Auf dem Anklagestuhl, der ihm mit seinen unamerikanischen Umschweifen auf kurz oder lang droht, nutzt Lindy uns jedenfalls wenig. Die Roten im Land würden sich nur in die Flossen klatschen, wenn wir so bekloppt wären, ihr undichtes Loch vom FBI ohne Weiteres ins Kittchen schieben zu lassen.“

Minuten später zeigte sich eine locker gekleidete Ann Lindemann, die sich offensichtlich zum Dienstschluss umgezogen hatte, am Eingangsportal. Grüßte mit Handzeichen den Pförtner, verschwand dann um eine Ecke in Richtung fast leerem Parkplatz, auf dem in sichtbarer Perspektive nur noch einige Limousinen unterschiedlicher Marken parkten.

„Die Lindemann lässt sich aber heute Abend Zeit. Ob sie ahnt, dass wir auf sie warten.“

„Mit Sicherheit nicht! Wenn sie klug ist, weiß sie vielleicht, dass mit ihrem Bruder etwas nicht stimmt. Wie sie uns vorhin in der Kantine abgecheckt hat, während sie mit Lindy redete. Ich wette mit dir, die vermutet schon, dass mit ihrem Bruder etwas schiefläuft. Sagen wir es ihr, was genau!“

„Dann könnten wir ja mit ihr ein leichtes Spiel haben.“

„Woher du deinen Optimismus nimmst, verbirgt sich mir, Ed. Glaube eher, Lindys Schwester hatte sofort was geschnallt, dass was nicht stimmte. Zwei schräge Typen ihrem Bruder gegenüber in der Werkskantine, was soll denn das schon wieder?“

„Schräg, na, dann kennt sie uns ja schon und ist vorbereitet, wenn wir bei ihr aufkreuzen.“

Minuten später fuhr ein dunkelgrünes Cabrio in den Blick hinein und hielt nochmals auf dem Weg zum Werkstor.

„Ist das nicht unsere Ann?“

„Natürlich, ihr Rover, von dem Lindy uns erzählte. Sieh, vermutlich wartet sie noch auf jemand.“

„Hup doch mal, uns so viel Geduld abzuverlangen?“

„Du Witzbold, die hat schon genug Aufmerksamkeit.“

Kurz darauf ging eine Frau in den Vierzigern im dunkelblauen Mantel und Kopftuch zum Cabrio, bückte sich und sprach durch die rasch heruntergekurbelte Fensterscheibe mit der Fahrerin.

„Was haben die beiden Ladys heute Abend denn noch vor. Ist doch schon nach acht, und noch so erregt, sieh dir das Mal an.“

„Sieht nach Querelen aus, wenn du mich fragst. Die Ältere kann sich vielleicht nicht damit abfinden, dass die Jüngere ihr die Position abgeluchst hat.“

„Vermutung, Gass, was machen die beiden denn jetzt?“

„Anscheinend doch was anderes, als ich vermutet habe. Sie steigt jetzt in den Rover zur Lindemann ein.“

„Die beiden wollen so spät doch nicht noch zusammen wegfahren.“

„Unser kleiner Plan sinkt gerade ins Unermessliche. Dann wird es eben ein heiterer Abend werden. Temperament erzeugt Adrenalin, oder so?“

„Nur bei einer ganz bestimmten Spezies. Sieh, sie fährt los.“

„Dann häng dich dran, Gass.“

„Oh, das könnte Ärger geben.“

„Was ist denn, Gass?“

„Im Rückspiegel kommt ein Polizeiwagen auf uns zugefahren.“

„Scheint so, dass der Rüstungsbauer Augen hat.“

„Gib Gas, Gass, unsere Dienstausweise brauchen Provinzbullen nicht zu sehen. Nur der Schwester nach!“

Der Rover fuhr auf einer noch verkehrsreichen Straße und der Chevrolet folgte ihm in einigem Abstand.

Nach etwa zehn Minuten.

„Da vorne, sie biegt doch schon ab.“

„Dann nichts wie ihr nach!“

„Was meinst du wohl, warum ich hier sitze und steuere, Ed.“

„Ach, wo wollen die beiden Frauen bloß heute Abend noch hin, und das so spät am Abend?“

Boston kennt doch bestimmt auch eine Polizeistunde, oder?“

„Vermutlich ist ihr Adrenalinspiegel noch nicht im Minus. Die wollen sich noch heute Abend bestimmt noch ins Gewühl schmeißen, wie’s aussieht. Na gut, gönnen wir Ann Lindemann ihr Abendvergnügen, von uns gefolgt. Und die Cops hinter uns?“

„Haben sich schon längst verflüchtigt. Kannst du nicht selbst im Spiegel nachschauen, Gass?“

„Vielleicht auch gar nicht so schlecht, sie nicht vor ihrer Haustür abzufangen. Sehen wir uns also mal an, wie eine Jungfrau sich nach Dienstschluss amüsiert. Das zu erleben, darauf war ich schon immer scharf.“

„Solltest mal nachschleifen. Weiß nicht, hätte nicht gedacht, dass es spät werden könnte, als geplant. Wir haben schließlich nur ein paar Fragen zum Bruder an sie.“

„Ed, höre ich da Zweifel? Jetzt sind wir schon mal in Boston und das hiesige CIA-Büro ist verständigt, dass wir noch kommen werden. Man muss eben nehmen, wie es kommt. Ungewöhnliche Vorgehensweise erzwingt auch mal ungewöhnliche Praktiken.“

Nach einer Viertelstunde.

„Was macht sie denn jetzt? Wo sind wir überhaupt, so viele Menschen, vor allem junge, noch auf der Straße.“

„Na, wonach sieht es denn aus. Die Bostoner kennen eben ein Leben ‚after work‘. Sieh, sie sucht einen Parkplatz. Offenbar sind wir nicht mehr weit vom Fahrziel entfernt.“

„Da, in der Reihe gegenüber, eine Parklücke! Das Fräulein parkt, such‘ dir auch eine, Gass, schnell!“

„Ed, mit wem fährst du wohl?“

Minuten später.

„Schnell, schnell, die beiden Damen sind schon ausgestiegen. - Sie schließt schon ab!“

Engelheim parkte in einer Parklücke, nicht unweit des Rover, und die beiden Agenten auf Exkursionstour ins Bostoner Nachtleben stiegen aus. Hawknight zeigte übers Wagendach um die nächste Häuserecke.“

„Sie verschwinden in der Querstraße dahinten, Gass! Scheint so, als kenne sich die Ältere im Viertel nicht aus. Sie dreht sich um, guckt in unsere Richtung. Beeilung, Gass, aus den Augen haben wir unser Zielobjekt erst mal verloren.“

„Was ist denn das überhaupt für ein Viertel hier? Scheint ja noch einiges los zu sein, und dass zur Wochenmitte.“

In der Tat war einiges los. Auf beiden Straßenseiten reihten sich Restaurants, Bars und Kneipen, dazu durchdrungen Musikrhythmen und Soloeinlagen. Auf der erleuchteten Straße schlenderten jüngere Männer und Frauen Arm in Arm. Eine ausgelassene abendliche Straßenstimmung, die sich den beiden Agenten bot.

Engelheim und Hawknight liefen zur nächsten Straßenecke, blieben stehen, in eine Querstraßenrichtung sich orientierend. Im Schein der Straßenlaternen sah Hawknight gerade noch den Mantelsaum der Älteren von beiden Frauen nach links verschwinden. Engelheim und Hawknight liefen zu genau der Stelle und sahen in einen ziemlich düsteren Pfad zwischen zwei Hauswänden hindurch, hörten vom Ende her ein vom Schlagbesen begleitetes Jazzpiano spielen.

Beider Agenten skeptische Blicke trafen sich irritiert im Schein der Straßenlaterne. Dann ein entschlossenes Kopfnicken Engelheims, und beide Männer durchquerten den steinigen Pfad zwischen den beiden Hauswänden. Mit jedem Schritt klangen Saxofontöne wilder und lauter. Männer ohne Anzug und junge Frauen im Kleid standen auf einer Holzveranda, lachten, sprachen miteinander, prosteten sich mit Sektgläsern zu. Doch, wo steckt Ann Lindemann?

Wieder brauchte es ein Kopfnicken Engelheims, um sich nacheinander die voll besetzte Holztreppe hoch zu drängen.

Hawknight drängte sich als Erster durch eine halb offene teilverglaste Tür in eine Art gut besetzte Kneipe, in der noch einiges los war. Vom Eingang her navigierte sein abschätzender Blick über voll-, halb- und teilbesetzte Holztische, an denen mehr Männer und Ladys, allesamt jüngeren Alters, lachten, sich unterhielten oder einfach nur ernst blickend dasaßen.

Lautes Frauenlachen ließ Hawknight in eine andere Blickrichtung wechseln. In einer fensterlosen Ecke erheiterte sich eine augenreizende Damenrunde rund um einen voll besetzten Tisch. Auch die vorhin wahrgenommene Frau um die Vierzig, nun vorgebeugt im Anthrazitkostüm saß zwischen ihnen. Nur ein Stuhl war in der fröhlichen Runde unbesetzt. Hängt über der Stuhllehne nicht die Jacke, die ich vorhin an der Lindemann gesehen hatte? Auf dem leeren Platz saß wohl Ann Lindemann, nur wo ist sie hin?“

Engelheim klopfte Hawknight auf die Schulter, murmelte: „Ach, sie wird schon noch kommen. Wir wissen ja jetzt, dass sie in diese Kneipe hinein ist. Lass uns erst mal an die Theke gehen. Vielleicht gibt es hier oben auch was Härteres zu trinken.“

„Nichts Härteres! Wir sind im Dienst, vergiss das nicht, Gass. Was weißt du, wie lange sie bleiben wird.“

„Bebop-Folklore in Boston, was Neues für uns. Dass sie in so einen Schuppen, und noch nach Dienstschluss hineingeht. Sie muss doch morgen früh bestimmt wieder raus?“

„Möglich, dass sie sich das für uns ausgedacht hat.“

„Glaub ich nicht, dass sie schon Gefahr im Verzug geschnuppert hat, Ed. Dann nämlich wäre sie verflixt schnell, obwohl? Ordentlich Haare auf den Zähnen wird sie schon haben, nach allem, was wir vorhin über sie hörten.“

Engelheim und Hawknight setzten sich nebeneinander auf noch freie Barhocker an der Theke, mit Blick über den ausladend großen Barspiegel zur Sitzecke. Kaum, dass beiden Agenten, in Alter, Aussehen und Kleidung aus dem Rahmen fallend, platzgenommen hatten, beendete der Barkeeper seinen Talk. Er beugte sich zu den beiden unbekannten Gesichtern und fragte witzelnd:

„Na, Daddys, was führt euch denn so früh am Abend zu mir? Orangensaft, Limonade oder Pepsi-Cola gefällig?“

Der Barkeeper war ein schmaler Glatzkopf, vielleicht Ende zwanzig, in Rüschenbluse. Ein Typ, welcher Hawknight schon wegen seines Aussehens störte, nun aber wegen seiner Begrüßung noch mehr.

In diesem Moment trat Ann Lindemann seitlich zur Theke hinter einem Vorhang hervor. Ihr strohblondes Haar hing nun frei bis zu den Schultern herunter.

Hawknight setzte gerade an, zu bestellen, ließ aber spontan davon ab, um ihr nachzuschauen, wie elegant sie sich durch den Kneipenraum bewegte.

„Die ist nichts für dich, zu jung und oben nicht ohne.“

‚Ganz oben‘, korrigierte er sich.

„Kann‘ste dir nur ‘ne Ohrfeige holen, wenn dir einfallen sollte, so eine zu bezirzen, Ed. Sie feiert, ich weiß nicht, was, aber sie feiert im kleinen Kreis.“

„Dann lass sie feiern, während wir uns an der Theke die Beine in den Bauch stehen, Gass.“

Engelheim bestellte zwei Whisky und ein Schälchen Cashewnüsse.

Ann Lindemann schien gleich wieder mittendrin im spritzig-spaßigen After-Work-Lady-Talk. Nur die brünette Ältere saß mit grimmiger Miene zurückgelehnt auf ihrem Stuhl und sah dem gestikulierten Quatschen und Lachen der übrigen Frauen um die Dreißig am Tisch zu.

So vergingen reihum vergnüglich Stunde um Stunde, bis kurz vor halb zwölf. Das Lokal hatte sich bereits geleert. Nicht aber die Zusammensetzung des sich amüsierenden Roundtables. Herausgeputzte und aufgekratzte Ladys äfften wen auch immer nach, lachten, prosteten sich zu, wechselten Stühle, Sitzplätze reihum.

Engelheim und Hawknight hatten sich längst ihrer Trenchcoats und Jacken entledigt, gingen in Hosenträgern abwechselnd auf den Hinterhof, um frische Luft zu schnappen. Auch waren beide schon längst zu Orangensaft, Limonade und Frischmilch gewechselt, wunderten sich abwechselnd und immer wieder durch die verqualmte Lokalperspektive, wie lange die Chefin es, umringt von Kolleginnen, bei Fusel voller Harmonie aushalten konnte.

Schon seit einiger Zeit passierte, was zumindest Hawknight hätte auffallen müssen. Ann Lindemann linste immer wieder durch die Delfinplastik in der Raummitte Richtung Theke. Dann war es soweit! Engelheim tippte Hawknight auf die Schulter, und fragte dabei erstaunt: „Was hat sie denn jetzt vor?“ Postwendend drehte sich Hawknight auf seinem Barhocker um und sah gerade noch, wie Ann Lindemann in ihre Handtasche griff und etwas herausholte. Er sah, wie sie sich an der Damenstuhlreihe vorbeischlängelte, um dann, nur halb angezogen, Richtung Kneipentür zu hasten.

„Sie will abhauen“, gellte Engelheims Nordstaatenakzent kurz darauf durchs geleerte Lokal. Ann Lindemann öffnete bereits die Ausgangstür und war dabei, ins dunkle Freie hinauszuflitzen.

Zuerst rannte Engelheim ihr nach, dann folgte Hawknight Richtung Ausgang, nicht ohne beide Trenchcoats über seinen Arm zu schlagen.

Barkeeper Glatzkopf erwischte Hawknight gerade noch am Hosenträger, als er schon halb zur Tür hinaus war, und schrie ihn an: „Die Zeche, was ist mit der Zeche? Auch Orangensaft kostet in Boston ‘n‘ paar Dollar.“ Genervt davon, zurückgehalten zu werden, drehte Hawknight sich mit seiner abgründigsten Miene um, kramte in seiner Trenchcoatinnentasche, fischte seinen Dienstausweis heraus und hielt ihn dem Barkeeper vor die Nase. Mit den Schultern zuckend erwiderte die widerspenstige Hassfigur nur: „Na und, auch die CIA muss für ihren Durst blechen.“ Was offenbar keinen Effekt erzeugte, denn Hawknight schlug wuchtig die Tür nach hinten und raste seinem Kollegen, und natürlich Ann Lindemann, durch die Dunkelheit hinterher.

Im Schein einer nicht weit entfernten Straßenlampe sah Hawknight, wie Engelheim Ann Lindemann hinterherlief. Hawknight zog sich seinen Trenchcoat an, setzte sich im Laufschritt ihnen nach straßenmittig in Bewegung.

Als er keuchend um die nächste Straßenecke bog, sah er im Schein von Straßenlaternen, dass die Flüchtige bereits in ihrem Rover mit angelassenem Motor saß. Vor der Parkbucht stand Engelheim, der ihr mit ausgebreiteten Armen die Ausfahrt versperrte. Die Fahrerin zögerte, würgte den Motor kurz entschlossen ab, öffnete die Wagentür, wahrscheinlich um herauszustürzen und wegzurennen.

In einigen Wohnungen ging Licht an und nach und nach durchzitterten einige erboste bis besorgte Fragerufe aus verschiedenen Fensterrichtungen die fast mitternächtliche Straßenstille. Hawknight, verzögert die Szene erreichend, lief gleich zur Fahrerseite des Rover, lächelte galant abwärts: „Darf ich bitten“, und zog die Fahrertür weit auf. Die in den Autositz zurückgefallene Frau beschimpfte den dreisten Kerl, der die Wagentür im festen Griff hielt, auf übelste. Als sie fertig war, fragte sie, zu ihm aufsehend: „Was wollen Sie eigentlich von mir? Ist das etwa Ihre Art, einer Dame Ihre Aufwartung zu machen? Sie beide sind vorhin schon bei James abgeblitzt, reicht Ihnen das nicht? Was seid ihr nur für dämliche, abgefeimte Kerle. Abends einer Frau zu folgen, und ihr noch vor Mitternacht auf offener Straße ein Bein stellen zu wollen. Schert euch endlich weg, ein Bewohner hat bestimmt schon die Polizei gerufen.“

„Hast du das gehört, Gass, dämlich und abgefeimt. Sie haben wirklich keine Ahnung, wer wir sind, oder?“

„Wer seid ihr schon, eine nicht mehr ganz junge Frau vom Fahren spätabends abhalten. So, wie ihr ausseht, Typen, die es heiß mögen, vielleicht?“

Ann Lindemann sprach zögerlich, voller Misstrauen, aber keineswegs ängstlich. So als ob diese ungeheuerliche Nachtszene nicht ihr Schicksal einleiten sollte.

„Wir tun nur unseren Job, Miss Lindemann, ehrlich. Nennen wir es Zufall, dass wir uns heute Mittag in dieser Kantine begegneten. Wenn nicht, blieben Sie eine Notiz auf ‘ner Karteikarte, mehr nicht. Nun aber ist es, wie es ist. Hätten wir nicht vorhin Ihrem Herrn Bruder unseren Besuch abgestattet, ständen wir beide so spät nicht hier. So, aber!? Sehen Sie, mit Ihrem Bruder war heute Nachmittag nicht gut zu reden. Ohne irgendwas Verwertbares wollten wir trotzdem nicht aus Boston wieder verschwinden, nur deswegen sind wir hier. Sie sollen uns in unserem Wissensdurst weiter ..., äh, sagen wir mal, unsere Spur befüllen.“ Hawknight hielt ihr seinen Dienstausweis hin.

„CIA, hm, als ob ich’s nicht geahnt hätte.“ (geflüstert)

Hawknight beugte sich in Kopfhöhe, bemühte sich, sein Imponierlächeln aufzusetzen und redete behutsam weiter.

„Verraten Sie uns auch, weswegen Sie etwas geahnt hatten? Am liebsten aber gleich, was mit ihrem Bruder los ist, Miss Lindemann. Das interessiert uns nämlich brennend, wissen Sie.“

„Gegenfrage: Wieso haltet ihr mich vom Fahren ab? James hat mit dem, was ihr ihm vorwerft, nicht das Geringste zu tun! Dafür lege ich meine Hand ins Feuer.“

„Vorsicht, das würde ich an Ihrer Stelle unterlassen, Sie könnten sich sonst leicht verglühen. Wir werfen Ihrem Bruder nichts vor, wir verdächtigen ihn nur! Vorwerfen, ihn anklagen, das machen andere. Soweit wollen wir es gar nicht kommen lassen, oder?“

„Dass ihr die Guten mimt, bildet ihr euch nur ein. Ich nehme euch das auf keinen Fall ab.“

„Wir, und die Guten? Oh, das würde ich nicht gerade sagen. Sagen wir, wir sind mehr interessiert an Ihrem sicherlich hoch verdienten Herrn Bruder als andere, die ihn lieber hinter Gitter schmoren sehen würden.“

„James hinter Gittern, was wird hier eigentlich gespielt? Ich wiederhole, ihr seid hinter dem Falschen her! Hinter James her, ihr spinnt!“

„Hast du gehört, wir spinnen, Gass? Zugegeben, manchmal kommt man auch da nicht drumherum. Aber was falsch und was richtig ist, bestimmen immer noch wir, deshalb legen wir auch öfters mal eine Nachtschicht ein, um rote Motten jagen.“

„Rote Motten? Oh, die Zeit, meine Herren! Auf mich wartet morgen ein erlebnisreicher Arbeitstag, also weg von der Autotür. Muss schließen, ich bin müde, und es war schon ein ereignisreicher Tag heute.“

„Ist es mein texanischer Dialekt, dass Sie nicht kapieren, was los ist, Lady? Sie können uns nicht hier unverrichteter Dinge stehen lassen, nicht jetzt! Wir erwarten was Ergiebiges von Ihnen.“

„Muss ich das kapieren? Meine Vorgängerin hatte Geburtstag und wollte den neuen Bürostil ‚after work‘ erleben. Ist schon spät, Mister.“

„Die in der Ecke, nicht?“

„Meine Herren, Schluss dem Geplänkel! Es ist schon spät, und morgen um neun werde ich auf meinem Bürostuhl zum Diktat erwartet. Schreibmaschinenseiten rollen sich nun mal nicht von selbst ein, das wissen Sie doch auch.“

Flink griff die Ann Lindemann zum Türgriff, setze an, die Wagentür, trotz des sie hindernden Haltegriffs Hawknights, zuzuziehen. Was, selbst nach mehreren Versuchen unmöglich schien, denn Hawknights Hand gab um nichts nach.

Ihn vom Fahrersitz wütend angischtend, kommentierte Hawknight grinsend sein widerständiges Haltemanöver: „Miss Lindemann, verstehen Sie uns nicht falsch, wir …“

„Wie soll ich Ihre Dreistigkeit denn richtig verstehen? Sie halten mich von meiner Ausfahrt ab. Ich werde mich über Sie beschweren!“

„Unser Dienstherr hat sicher auch eine Beschwerdestelle. Wir wollen uns einfach mit Ihnen über Ihren Bruder unterhalten, mehr nicht. Nur ein paar Fragen, und die Welt gehört wieder Ihnen, versprochen.“

„Hat das denn keine Zeit bis zum Wochenende? Ich kenn‘ da ein nettes Strandrestaurant im Hafen von Boston. Dort können wir uns ja verabreden und Sie können alle Fragen stellen, die Ihnen nur einfallen. Ich werde dann sehen, ob ich sie Ihnen beantworten kann. Sagen wir, so am Sonntag um 3 Uhr p.m. Bye, Mister.“

Unvermittelt zog Ann Lindemann erstaunlich kräftig am Griff der Wagentür. Die Autotür gab zwar ein Stück weit nach, wurde dann aber jäh von Hawknights Hand zurückgehalten. Der kleine Mann mir der enormen Kraft und schneller Reaktionsaufmerksamkeit beugte sich, die Fahrerin angrinsend, zu ihr herab: „So läuft das nicht, Miss Lindemann! Nicht, weil ich von Kuchen die Krätze kriege, sondern weil der goldene Faden gleich reißt, an dem unsere Geduld mit Ihnen baumelt.“

„Sie machen mir Spaß.“

„Spaß, Schluss mit den Nettigkeiten! Statt einer vertagten Strandplauderei kommen Sie jetzt mit uns mit. Gleich drüben in unseren Chevrolet. Ein paar Fragen, dann sind wir miteinander fertig, versprochen. Den Rest wird Ihr seltsamer Bruder auszubaden haben! Sie haben es in der Hand, ob Sie uns behilflich sein möchten oder nicht.“

Engelheim, schon längst skeptisch zusehend, mischte sich ein:

„Ed, komm, lass sie fahren. Die Frau spricht nicht mit uns, was sich auch nicht ändern wird, wenn du sie auch noch so sehr bedrängst. Ihren Bruder werden wir auch ohne sie anzapfen.“

„Nein, lass mich nur machen, Gass. Welcher Fischer schmeißt den Fisch am Haken wieder ins Wasser?“

„Soll vorkommen, Ed. Komm‘ schon, war ein Versuch wert, aber lass die Miss endlich fahren. Es ist auch schon spät.“

„Nein, Gass, so leicht gebe ich nicht auf! Wir gehen rüber, wo es sich gemütlicher spricht! Ihren chicen Sportwagen, Miss Lindemann, schließen Sie bitte ab, und folgen uns.“

„Für wen halten Sie mich? Ich steig doch nicht weder vor noch nach Mitternacht in ein wildfremdes Auto ein.“

Im selben Augenblick zuckte erneut ihre Hand zum Türgriff, die Autotür prallte schmerzhaft gegen Hawknights Schulter. In der Rückbewegung ließ er seine Faust nach vorne sausen, traf gerade noch ihr Kinn. Die spontan geschlagene Kinnwunde fing unverzüglich an zu bluten. Ann Lindemann fingerte an der Wunde, sah irritiert auf das Blut auf ihrer Zeigerfingerspitze und warf Hawknight vor Wut schnaubend einen hasserfüllten Blick zu. Sekunden später spürte sie ein zweites Mal die harte Agentenfaust gegen ihre Stirn wuchten. Augenblicklich fiel ihr Kopf aufs Steuer und sie in Ohnmacht.

„Das wäre aber nicht nötig gewesen, Ed.“

„Was hätte ich denn machen sollen, Gass? Sie wollte mich übertölpeln, wäre auf und davon gefahren, und wir hätten in der Nachtluft Selbstgespräche führen können. Für das blutige Kinn seiner Schwester kann sich ja ihr Bruder revanchieren.“

Eine gute Dreiviertelstunde später. An der Straßenecke in Atlantiknähe stieg Hawknight aus dem Rover Coupé aus, wartete auf den Chevrolet, den Engelheim durch das nächtliche Boston ihm hinterher steuerte. Auf dem Hintersitz lag bewusstlos Ann Lindemann. Etwa eine halbe Stunde später stoppte der Chevrolet neben Hawknight, Engelheim stieg aus:

„Mann, Mann, Ed, das hätte ich mir nie geträumt, nachts wie ein Gangster mit ‘ner entführten Frau durch Boston zu kurven. Sind wir wenigstens dort angekommen, wohin wir so spät noch wollen?“

„Yeah, das müsste die notierte Straße sein. Übrigens, ganz brav, wie du mir gefolgt bist, Gass.“

„Texanische Späße kann ich jetzt am wenigsten brauchen, Ed. Gar nicht so leicht, so eine ohnmächtige Frau bei mäßiger Straßenbeleuchtung über die Straße zu transportieren. Du weißt, das hätte vorhin auch schief gehen können, und wir beide könnten dafür im Gefängnis landen.“

„Ist aber nicht schief gegangen. Muss schon sagen, ganz anders Fahrgefühl, ihr adrettes Coupé zu kutschieren, als unsereins Karossen so kennt. Wenn ich mir nur so was leisten könnte.“

„Wann willst du denn sowas überhaupt fahren? Wenn du mit ‘nem Coupé bei unseren Kunden vorfährst, registrieren die gleich, dass du spinnst.“

„Auch wieder Recht, obwohl … Tarnung? Ob sie weiß, was sie uns schuldig ist, wenn sie wieder aufwacht? Wenn ihr Autoschlüssel auf dem Tisch liegt und ihr Coupé vor der Villa parkt?“

„Zur Villa müssen wir nur noch hinfinden?“

„Müsste da entlang sein, also ein Klacks.“

Engelheim und Hawknight verteilten sich wieder auf die beiden Wagen, ließen die Motoren an und fuhren nacheinander bei gedrosselter Geschwindigkeit los. Nach einigen Hundert Yards bremste Hawknights ungalant entliehenes Coupé vor einer Einfahrt, die zwischen einer hochgewachsenen Hecke hindurchführte. Der vordere Trenchcoatagent stieg aus. Engelheim kurbelte sein Fahrerfenster runter:

„Sind wir endlich da, Ed?“

„Wonach sieht’s denn aus?“

„Sieht ja nobel aus, selbst im Dunkeln. War unser aller Chef Dulles denn schon mal hier?“

„Das Paradies schimmert hinter der Hecke. Ich fahr mal rein, du hinter mir her.“

„Was denn sonst?“

Das Coupé und der Chevrolet fuhren langsam durch die Einfahrt auf einen asphaltierten Parkplatz, auf dem einige Autos verteilt parkten, gerade noch sichtbar im Fensterlicht, das vom Haus herüberschimmerte. Hawknight stieg aus und kam zu Engelheim herübergelaufen, kurze Abrede am Autofenster:

„Yeah, hier ist es, park‘ einfach, wo noch Platz ist.“

„Ob unsere Bostoner Kollegen noch wach sind? Du hattest uns doch für nicht so spät angekündigt, Ed?“

„Darüber würde ich mir am wenigsten Sorgen machen, Gass. Überleg dir lieber, wie wir unseren widerspenstigen Fang zum Reden bringen. Zudem, wie wir verhindern können, dass sie ihrem Bruder brandheiß serviert, was diese Nacht passiert ist.“

„Mann, wir wissen ja noch nicht mal, was uns drinnen erwartet.“

„Was soll uns schon erwarten, abhängende Typen, die Lust auf nichts haben, kennst du doch auch.“

„Hey, wenn schon Kollegen, ein Bett für mich, eins für dich, das reicht. Werd‘ nämlich auch mal müde.“

„Schlafen, warten, bis wir uns wieder die Augen reiben? Wenn du mich fragst, kann’s mit ihr heute Nacht noch weitergehen. Nachdem, was passiert ist, wird sie uns bestimmt Gehör schenken. Warum kippen wir ihr nicht ein Glas Wasser ins Gesicht? Hilft überzeugend gut gegen gespielte und echte Müdigkeit!“

„Aber nicht mitten in der Nacht, Ed. Denk auch an uns, und Lindy läuft uns bestimmt nicht weg. Hast ja gesehen, wie sicher der sich gebärdet.“

„Na klar, wir sind auf Urlaub. Gönnen uns Zeit, Schlagen die Beine hoch und warten auf den günstigsten Zeitpunkt, wann Mimi ihre Lippen bewegt.“

„So bewegt, dass wir mit uncharmanter Verzögerung trotzdem erreichen, was wir wollen.“

„Erzähl das Mal in der Villa, weshalb wir auf Achse waren.“

„Die brauchen nur das wenigste zu wissen. Da haben sich die Kollegen aber ein Objekt ausgesucht, wie eine andere Welt!? Ich wette mit dir, dass wöchentlich einer ausgelost wird, den Rasen zu mähen.“

„Fensterputzen, Abfalleimer auskippen, etc. Und ich wette mit dir, unsere Kollegen hier oben haben was anderes zu tun. Brennt ja noch Licht am Eingang. Was hab’ ich gesagt, auf die Bostoner ist eben Verlass.“

„Kennst du einen von denen?“

„Thomas Myers oder Mayers, einmal mit und ohne ‚a‘. Mit dem habe ich am Nachmittag telefoniert. Vielleicht, wenn ich ihn sehe.“

„Wofür ich votiere, sind ein paar Stunden Schlaf. Am Morgen hören wir, ob Miss Lindemann uns zugeneigt ist.“

„Wie du meinst, Gass. Nur die Haustreppe führt zum Eingang rauf. Außergewöhnlich extravagant gegenüber den Kabuffs, in denen ich schon hausierte.“

„Du wiederholst dich, sollen wir sie da etwa hoch schleppen?“

„Sei nicht immer so zimperlich, Gass. Du wolltest doch schon immer eine Lady Stufen hochtragen, jetzt hast du die Gelegenheit.“

In dem Moment öffnete sich die Haustür, ein wild winkender dürrer Mann erschien mit breit ausleuchtender Stabtaschenlampe auf der Brüstung. Als er die beiden ankommenden Männer im Taschenlampenlicht erkannte, eilte er die Haustreppe hinunter. Hawknight ging auf ihn zu, schützte seine Augen mit schirmartig vorgehaltener Hand vor allzu grellen Taschenlampenstrahlen.

„Sind Sie Hawknight, der mich gestern Nachmittag anrief?“

„Ja, Agent Hawknight. Wir müssen noch mal zurück zum Wagen, um was rauszuholen.“

„So, Gegenstand oder Lebewesen?“

„Werden Sie schon sehen, Myers.“

„Oh, ich bin nicht Myers. Myers ist so spät noch beschäftigt.“

Die drei Männer gingen schnellen Schritts zurück in Richtung parkendem Chevrolet.

„Mann, ihr kommt aber wirklich spät.“

„Howdy, spät geworden, hatten wir auch anders geplant. Pardon, wenn es hier noch was gilt?“

„Natürlich!“

Agent Drake öffnete die Wagentür, beugte sich hinein und schaute in den Chevrolet hinein. Dann, sich umdrehend, fragte er erstaunt:

„Was ist denn mit der da auf dem Rücksitz? Von Amüsement war heute Nachmittag keine Rede. Gut, weil ihr’s seid, müsste nur mal schauen.“

„Ist uns zugelaufen. Ein paar Fragen, dann lassen wir sie wieder springen.“

„Ach so, dienstlich. Übrigens, schon Abendbesuch im Haus. Zwei Überraschungen innerhalb von sechs Stunden! Noch jemand kündigte sich kurz nach Ihnen an.“

„Ach, euer schmuckes Domizil ist voll?“

„Nein, nein, hab’ unsern Überraschungsgast gegen acht Uhr heute Abend von Boston Airport abgeholt. Keine Ermüdung, Schlaf scheint der nicht zu kennen. Er hält noch immer das ganze Office auf Trab.“

„Einer von uns?“

„Na klar, würde ich ihn sonst vom Airport abholen?“

„Wer ist es denn, wenn ich fragen darf.“

„Um einige Ebenen höher als ihr beide. So ein Krautname, stottert und humpelt.“

„Gottlieb, ach, du meine Güte. Was macht der denn hier oben in Boston?“

„Tja, so einer kann sich auf Firmenkosten herfliegen lassen. Wenn ihr mich fragt, bei seiner Anstellung haben die Personaler durch die Reihe weggeguckt, allerdings hält er sich wacker, wie es aussieht.“

„Na, dann können wir uns auf einiges gefasst machen. Wo kann ich denn den Wagen möglichst nahe am Haus parken? Wir haben unsere noch immer bewusstlose Last hoch ins Haus zu schleppen. Haben uns gerade verständigt, sie erst morgen zu befragen.“

„Befragen, seid ihr überhaupt von der Firma?“

„Klar, nur wir bauen an unserer Zukunft als Vertreter für Samthandschuhe.“

„So, dann könnte ich euch etwa gleich welche abfeilschen? Warum seid ihr überhaupt in Boston?“

„Zu kompliziert, um den Anlass unseres Hierseins zwischen Tür und Angel zu erklären. Ihr habt doch ein abschließbares Zimmer für eine Lady um die Dreißig, zudem zwei getrennte Zimmer für den Kollegen und mich?“

„Ui, Solitäre in Boston. Die Frau für die restliche Nacht unterzubringen, sehe ich kein Problem, nur bei euch beiden schon. Dr. Gottlieb hat schon eines belegt. Ich schwöre, bei unserem Telefonat ahnte ich noch nichts von seiner Visite heute Abend, also müsst ihr beide euch das kleinere Zimmer am Gangende im Ersten teilen. Eine Matratze wird nachgeschoben. Könnt ja auslosen, wer was bekommt.“

„Was, noch nichts ist vorbereitet? Komm‘, bringen wir es hinter uns. Die paar Stufen werden wir wohl noch mit ihr heraufschaffen.“

Engelheim sah zum Rücksitz, stellte fest:

„Sie ruht noch immer, war wohl ein bisschen zu hart vorhin, Ed.“

„Dann weiß sie morgen wenigstens, wo es langgeht.“

Hawknight stieg zu Engelheim in den Chevrolet und fuhr mit ihm vorsichtig quer über den Parkplatz, dicht an die Haustreppe heran, wo Drake mit seiner Taschenlampe manövrierte.

Nach etwa einer Viertelstunde im Korridor: „So, das wäre geschafft. Hätte nicht gedacht, dass es uns so schwer werden wird, eine Frau die Stufen rauf ins Haus zu kriegen.“

„Gleich mit ihr in das Zimmer hier, und auf die Couch mit ihr.“

Drake ging vorwärts, öffnete eine Zimmertür und bedeutete mit elegantem Armschwenk, die bewusstlose Frau dort hineinzutragen. Kaum, dass Engelheim und Hawknight aus Zimmer heraustraten, öffnete sich eine Zimmertür weiter hinten im Langkorridor und ein untersetzter Mittdreißiger zeigte sich im Korridor. Hinter ihm zeigte sich ein deutlich älteres schnauzbärtiges Männergesicht, das über Gottliebs rechte Schulter hinweg das Trio aufmerksam beobachtete.

„Was ist denn das für ein Lärm? Noch nicht mal in der Nacht hat man seine Ruhe. Lässt sich zur Nacht nicht mal ein dienstliches Gespräch in Silentium praktizieren?“

Gottlieb gähnte hemmungslos, stotterte, ohne eine Antwort abzuwarten: „Engelheim, Sie hier? Ach, da ist ja noch Hawknight. Hätte mich auch gewundert, wenn nicht. Zwei, die wie Pech und Schwefel zusammengehören, ha, ha. Also, was treibt euch beide noch so spät durch Boston?“

Engelheim retournierte, künstlich überrascht, mit einer Gegenfrage: „Dr. Gottlieb, haben Sie denn hier oben zu suchen, neues Labor einweihen, wie?“

„So ähnlich, äh, wenn hier einer Fragen stellt, dann wohl ich! Brauch ja gar nicht erst zu fragen, sehe ich ja selbst im Halbschlaf. Eine Frau, die zwei Agenten nachts die Kellertreppe raufschleppen. Wer hat denn die Ärmste ausgeknockt? Bestimmt der Texaner von euch beiden. Südstaatlern jucken unentwegt die Flossen. Hm, scheint, nachdem, was ich vorhin am Fenster sah, eine von der interessanteren Sorte zu sein. Zieht um Woolworth bestimmt straffe Tangenten. Also, nichts für eure Duftmarke. Ach ja, was ist denn mit ihr? Ohne Grund schleppt ihr doch keine Miss hierher, oder? Hat das Perlchen überhaupt einen Ring am Finger?“

„Mehrere, aber nicht an der vermuteten Position. Meines Wissens nach ist Sie solo – harte Nine to Fiverin.“

„Ja, ja, sicher würde sie längst in ihrem Bettchen schlafen, wenn ihr nicht wäret, ihr bösen Buben. Haltet sie nur von ihren Träumen ab. Mich übrigens auch, wenn wir noch lange weiterquasseln. In acht Stunden soll ich nach New Hampshire. ‚Ohne Unterschrift, weder Pille noch Spritze‘, so diesmal die Devise. Was sich so ein Hospitaldirektor nur einbildet, grässlich! Unsere Dauerüberweisungen bedeuten doch künftige Schwerelosigkeit für ihn, und dann so was.“

In sich hineinkichernd humpelte Gottlieb an Engelheim und Hawknight vorbei, öffnete die Zimmertür, in welches die Frau verfrachtet worden war, drehte das Licht an, sah hinein und nuschelte:

„Sieht hübsch aus, wenn sie so da liegt. Wie heißt sie denn?“

„Was soll denn das wieder, Dr. Gottlieb?“

„Komisch, hab’ gerade ‘nen Druck auf den Ohren? Ihren Namen!“

„Lindemann! Ann Lindemann“, schnellte Engelheim heraus, Hawknight zurückhaltend.

„Lindemann? Sagt mir nichts. Gibt es denn schon eine Akte über die Kleine? So viel kann sie ja nicht auf dem Kerbholz haben, oder? Vielleicht Spionage?“

„Nein, sie soll uns nur einige Fragen zu ihrem Bruder beantworten“, kam Hawknight Engelheim zuvor.

„So, zu ihrem Bruder, und deswegen spielt ihr mit seiner Schwester ziemlich derb rum? Warum überhaupt so brutal, wenn’s auch zärtlich geht. Äh, seid ihr eigentlich noch bei der Firma?“

„Das hat Agent Drake uns auch vorhin gefragt.“

„So, hat er das? Wir wiederholen hier alles. Wie heißt denn ihr Bruder?“

„Im Visier haben wir eigentlich Lindy, James Lindy. Er will aber nicht so, wie wir wollen, deshalb unsere kleine Verzögerung.“

„Lindy, der Name sagt mir schon eher was. Ist das nicht dieser rhetorisch begabte Waffentüftler, der allen, die es hören wollten, während der Weltkriegs erklärte, wie nach der Landung an der Küste der Normandie die Krautartillerie zerpflügt werden konnte?“

„Ja, das ist eine Quelle seines Ruhms, Dr. Gottlieb.“

„Ach, dieser Waffentrickser ist ihr Bruder. Stöhnt der etwa auch hier in Boston?“

„Dr. Gottlieb, können wir nicht zu dritt in ein Zimmer gehen und uns dort weiter unterhalten. Die Sache ist streng vertraulich, und nicht für alle Ohren bestimmt, wissen Sie. Bis wir uns Klarheit verschafft haben, brauchen nur ich und Kollege Hawknight davon zu wissen.“

„Streng vertraulich!? Bestimmt ihr beiden jetzt, was bei der CIA streng vertraulich ist? Vergnügt euch nachts mit Frauenstibitzen und nennt es streng vertraulich. Engelheim und Hawknight, seid ihr wahnsinnig.“

„Gedulden, Sie sich, Dr. Gottlieb. Die Angelegenheit ist brisanter, als es der erste Eindruck vermuten lässt. Wir gehen mal schnell nach oben, legen unsere Sachen ab, dann sind wir gleich wieder für Sie da, ja.“

„Wie komfortabel. Dann erzählt mir mal, was genau passierte und wieso so eine Biene euer Begehr entfachte.“

Etwa eine Viertelstunde später kehrten Engelheim und Hawknight zu Gottlieb zurück, der sich währenddessen nicht vom Fleck bewegt hatte und mürrisch wartete. Dann erst humpelte Gottlieb zurück in das Zimmer, aus dem er gekommen war. Nachdem das ungleiche Trio platzgenommen hatte, gähnte Gottlieb und stotterte dann:

„Na gut, nehmen wir mal an, ihr hättet euch Klarheit verschaffen wollen und ich sei der Erste, den ihr einweihen würdet. Die Entscheidung, ob und was ihr mir mitteilt, auf oberen Ebenen Erwähnung findet, überlasst ihr mir, kapiert.“

„Wir würden Ihnen alles überlassen, aber diesmal kam ein versteckter Hinweis vom FBI.“

„Wie, vom FBI? Wenn das FBI seine Fühler ausstreckt, interessiert das uns alle in Langley, nicht nur euch Subalterne. Was liegt denn gegen unseren in die Jahre gekommenen Waffenfreak vor?“

„Vom FBI kam der diskrete Hinweis.“

„Vom FBI ein diskreter Hinweis, und dem misstraut ihr nicht?“

„Gerade deswegen sind Ermittlungen gegen James Lindy so brisant. Das war gerade unser erster Ermittlungstag, folglich stehen wir noch ganz am Anfang. Möglich, dass das FBI uns mit seinem versteckten Hinweis auf Lindys Namen eine Falle stellen wollte.“

„Zum Reintappen, wie? Ha, ha, wie naiv deren Welt doch ist! FBI-Hoover würde vor Freude jauchzen, wenn er wenigstens einem von uns die Hammelbeine langziehen könnte. Darauf kann er doch lange warten. Warum soll ausgerechnet dieser Lindy das Einfallstor sein?“

„Ja, das hat mich auch perplex zunächst gemacht. Duftet nach Raffinesse, könnte …“

„Was von Hoover gegen die CIA gerichtet ist, lässt keinen anderen Schluss zu, als dass es sich um eine raffiniert eingefädelte Finte handelt, Hawknight. Kurzum, ihr beide vergeudet CIA-Zeit, wisst ihr das.“

„Das ist es ja, man kann es annehmen. Eher sieht es nach etwas ganz anderem aus.“

„Wie, anderer Ansicht als ich?“

„Klar, weil Sie keine Ahnung haben, wie wir auf Lindy gestoßen wurden.“

„Ihr nehmt euch heute Nacht viel raus, ich höre:

„Ganz ohne Vorankündigung letzten Samstag, spät abends. Einfach vor den Latz geknallt. Entweder du bist auf der Hut - oder dein verflixtes Pech.“

„Ach, vom FBI, was genau könnte ihr Pech denn sein?“

„Würde ich nicht den Faden aufnehmen und ermitteln, würde mich das FBI früher oder später drankriegen, weil ich einen Kommunisten deckte. Was dann los ist, können Sie sich ja ausmalen“, fügte Hawknight sachlich, gelassen ein.

„Hab’ ich das eben richtig verstanden, Lindy und Kommunist?“

„Ja, so stellt es sich für uns dar. Sein Name stand jedenfalls auf der FBI-Razzialiste gegen Kommis, die mir letzten Sonntagmorgen vorlag. Eine Kopie hab‘ ich natürlich nicht.“

„Verstehe, das FBI lässt eben mal so einen CIA-Agenten in ihre frisch erstellte Razzialiste glotzen? Kooperation, ohne anzuklopfen, oder Danaergeschenk?“

„Danaergeschenk?“

„Verflucht, wie ungebildet ihr in unteren Etagen doch seid ‚Geschenk mit Hinterlist‘.“

„Vielleicht, aber wir können nur ermitteln, was der Fall ist. Der Name James Lindy stand in der Razzialiste. Also sind wir gestern wegen Lindy nach Boston aufgebrochen. Wir wollten mal mit ihm reden ...“

„Reden, und ihr habt auf einen galanten Empfang gehofft, mit dem ihr nur ein paar Worte wechseln müsst, um sicherzugehen, was Sache ist? Seid ihr wirklich so naiv?“

„Wer weiß, wie einer wie Lindy auf die direkte Konfrontation reagiert? Unser Ziel ist es nach wie vor, herausbekommen, wie viel am Kommunismusverdacht dran ist, oder ob Lindy eine Strohpuppe des FBI mimt.“

„Was er euch zweien bestimmt auf Anhieb verraten wird.“

„Nun ja, was schlagen Sie vor? Was kann effektiver sein, als unmittelbar mit ihm zu reden? Fakt ist, dass Lindys Name auf der FBI-Liste stand. Auf so eine Liste kommt man nicht ohne Weiteres.“

„Dass einer von uns seine Nase darüber hält und mitlesen darf, wohl auch nicht! Wie klein doch die CIA-Welt ist. Fast immer geht’s um bespitzeln und umdrehen.“

„Lindy ist ‘ne Nummer, so was rieche ich. Wie müssen den Mann nur für uns nützlich machen.“

„Aber zunächst ermittelt ihr beide auf die sanfte Tour, nicht? Hm, dass Hoover mit uns im Dauerclinch liegt, ist nichts Neues. Ihr wolltet einmal wenigstens die braven Jungs sein, stimmt’s oder hab‘ ich recht? Wenn Lindy sich im Kreis seiner unangesehenen Freunde, sprich Staatsfeinde, in Manhattan vergnügt, war er bestimmt nicht zum ersten Mal mit von der Partie, oder, also muss er schon mal den Schwarzen im Bunde roter Brüder aufgefallen sein. Lasst doch das FBI zu Ende ermitteln und Lindy dann McCarthy zum Fraß vorwerfen. Wie die vor Freude jaulen werden, eine ehemalige Lichtgestalt zu zerfleischen.“

„Was nicht besonders gut wäre. Im Knast nutzt uns so einer, wie Lindy, rein gar nichts. Besser, viel besser, wir drehen Lindy um und lassen ihn undercover für uns liefern.“

„Gut, warum auch sollte eine Kuh abgestochen werden, bevor sie gemolken ist?“

„Schlechter Vergleich, Lindy ist ein schlauer Fuchs. Seinen Namen auf dieser FBI-Razzialiste lächelte er einfach weg und schmiss uns heute Nachmittag aus seinem Büro raus.“

„Er schmiss zwei CIA-Agenten aus seinem Büro raus? Scheint schon spät zu sein.“

Laute Geräusche im Korridor, Zimmertüren wurden auf und zugeschlagen. Es klopfte.

„Muss man noch ‚herein‘ brüllen, verflucht noch mal. Was ist denn das für ein Lärm plötzlich?“

Myers kam hochrot, in Nachthemd zur Zimmertür herein und stotterte kleinlaut: „Sie ist weg, wohl durch die Küche, über den Balkon.“

„Wer, die bewusstlose Frau von eben? War ihr Zimmer denn nicht abgeschlossen?“

„Weiß nicht, hab’ nicht nachgesehen. Der Schlüssel jedenfalls steckte noch.“

„Schien uns nicht nötig zu sein“, verteidigte Engelheim Hawknight, den Gottlieb scharf, kochend vor Wut fixierte.

„Das war‘s wohl mit eurer grandiosen Idee. Ich muss mich noch ein paar Stündchen aufs Ohr legen. Ihr könnt ja bis morgen früh überlegen, wie ihr das ‚un‘ vor Fähigkeit wieder vergessen macht.“

Die atlantische Magd

Подняться наверх