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Mord an einem Wintermorgen

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Aus früh morgendlichem Nebel zog eine noch frische Fuchsspur quer über das Schneefeld zum Waldrand hin. Blutstropfen im weißen Schnee ließen ahnen, dass der frühmorgendliche Räuber sein Opfer gefunden und sich mit seiner Beute davongeschlichen hatte. Dass sich hinterm Haus Fußspuren aus verschiedenen Richtungen zum und vom Kellereingang wegbewegten, bemerkte Bauer Lennartz erst, als er aus der knarrenden Holztür des Gänsestalls heraus ins kühle Freie trat und beim Einatmen von Morgenluft plötzlich stockte. Irritiert spurtete der Bauer zur nur wenig verschneiten Rasenfläche und blickte den pfeilförmig sich teilenden Gangspuren nach, die zu einem Busch auf der rechten und in einen angrenzenden Hain auf der linken Seite verliefen. Hinter dem Hain zur Linken, wohin er als Erstes ging, um nachzusehen, erschrak er wegen zweier verschiedener Fußspuren - der eine Fußabtritt war größer, der andere kleiner. Nach der Größe der Fußspur zu urteilen, gehörte sie ebenfalls einer Frau.

Fassungslos starrte Bauer Lennartz abwechselnd auf die Schneespuren, die zum und vom Kellereingang weg sich auf der schneebedeckten Wiese aus zwei Richtungen verteilten. Als Licht in der Küche angeknipst wurde, zuckte Bauer Lennartz erschrocken zusammen.

„Hat der Fuchs wieder gerissen? Komm rein, Malte, daran ändert sich nichts, auch wenn du noch länger in der Kälte dumm rumstehst.“

Der Bauer drehte sich zum Haus, sah, dass Gattin Frederike sich aus dem geöffneten Fenster herauslehnte. Winkend appellierte sie, reinzukommen. Einen vorerst letzten Blick auf die Spuren werfend, ging der Bauer in Überlegung zurück zum Haus, ob er zuerst Frederike von merkwürdigen Schneespuren erzählen oder die Kellertür kontrollieren sollte. Nur, gleich drei Fußspuren auf einmal sahen kaum nach Einbruch aus, aber, was könnte sonst letzte Nacht passiert sein? Nachts hinter einem Bauernhaus herumzuschleichen, noch dazu bei Außentemperaturen unter null, unglaublich!?“

„Was stehst du denn solange in der Kälte auf unserer schneebedeckten Wiese hinterm Haus herum, Malte? Hält sich wohl nicht lange“, fragte Bäuerin Frederike ihren Mann in der Küchentür.

„Sieh dir das Mal an, was sich letzte Nacht hinterm Haus zugetragen hat. Ist ja nicht zu fassen!? Ich muss gleich runter in den Keller. Das Schloss wurde bestimmt heute Nacht aufgebrochen.“

„Einbrecher, bei uns? Wer …?“

„Glaub ich nicht, Frederike. Hinterm Haus finden sich drei verschiedene Fußspuren, zwei aus zwei verschiedenen Gangrichtungen zum Kellereingang und wieder zurück.“

„Wie jetzt, zwei oder drei?“

„Drei, aber nur zwei, die zum Kellereingang führen. Sieh selbst nach, wenn du mir nicht glaubst. Keine kräftigen Stiefelabdrücke, wahrscheinlich von zwei Frauen, die wohl nacheinander heute Nacht zum Kellereingang gingen. Was sie da suchten, kannst du dir wohl denken.“

„Was wollten die bloß hier, während wir schliefen? Wer sich da auch anschlich, war doch nicht etwa oben?“

„Nicht die geringste Ahnung, nur ein Gefühl. Wer nachts durch den Keller geht, wohin will der wohl?“

„Eingebrochen in unsere Räume? Allein der Gedanke ist so schrecklich.“

„Genau werde ich das erst wissen, sobald ich mir ein Bild gemacht habe, was in der Nacht genau passiert ist. Nachdem, was ich heute Morgen hinterm Haus sah, sind meine Erwartungen nur zu betrübt.“

„Bei uns gibt’s doch nichts zu holen. Schnapp dir zur Vorsicht ‘nen Spaten, wenn du in den Keller runtergehst, Malte!“

„Angst kannst du dir sparen, Frederike. Wer da auch immer bei uns war, hat sich schon längst vom Acker gemacht. Ich will euch nur in unserer Küche sitzen sehen, wenn ich wieder rauf komme, dann weiß ich hoffentlich Näheres.“

Eine nicht sichtbare Tür öffnete sich im Flur, Hofhilfe Utes brauner Pferdeschwanz zeigte sich, um kurz darauf mit einer Milchkanne hineinzukommen. ‚Ist was‘, fragend, sah sie Bauer und Bäuerin, ihrerseits grübelnd, an. Ohne eine Antwort abzuwarten, stellte Ute fest: „Grit ist ja noch nicht unten. Sie hat den Hühnerstall noch nie vergessen. Ich renn‘ mal rauf, um das verschlafene Luder zu holen.“

Und schon verschwand Hofhilfe Ute schimpfend die Haustreppe rauf.

„Fürchte, wir kommen nicht drum rum, die Polizei zu rufen.“

„Wenn‘s denn sein muss. Diese Spuren, wer macht nur so was?“

Zwei Minuten später zuckten Bäuerin Frederike beim Decken des Frühstückstisches und Bauer Malte auf dem unteren Absatz der Kellertreppe erschrocken zusammen, als sie einen schrillen Schrei aus dem oberen Stockwerk hörten. Sekunden später noch einer – zwei ins Mark stechende Angstschreie, und das unmittelbar hintereinander. Utes Schreie kamen von oben aus dem Korridor mit den Schlafzimmern.

Schneller als Bauer Malte die Kellertreppe hochkam, schaffte es die Bäuerin, die Haustreppe aufwärts zu hasten. Ute stand in der geöffneten Zimmertür von Grits Zimmer und zeigte tränenüberströmt hinein, während sie ihre andere Hand zitternd vors Gesicht hielt. Frederike schnellte durch den Korridor zum Ort des Geschehens und zögerte nicht, ins Zimmer hineinzusehen, Utes zittrig zeigendem Arm zu folgen. Hinterm Bettrahmen ragten Grits nackte Füße hervor. Sie lagen in einer Blutlache mit dem Oberkörper auf der Bettdecke. Frederike schlug mehrmals wütend auf den Türrahmen, unterstrich jammernd ihre Fassungslosigkeit.

Bauer Malte drängte sich an den beiden wie reglos starrenden Frauen vorbei ins Zimmer. Er ging gefasst einige Schritte vorwärts, um aus nächster Nähe zu sehen, was passiert war, was Grit passiert war.

Im Nachthemd die Bettkante halb runtergesunken kniete Grits Leiche im eigenen Blut, das sich über den Läufer zur Blutlache ausgelaufen hatte. Ihr strohblonder Kurzhaarkopf lag leblos quer über dem Laken, beide Arme nach vorne gestreckt. Von hinten drängte die Bäuerin ihren Mann zur Seite, wollte sich weinend über Grits Leichnam stürzen, der wohl schon vor Stunden ausgeblutet auf dem Boden lag. Der Bauer fasste seiner schluchzenden Frau an der Schulter, zog sie hoch und führte sie zurück in den Korridor. „Hier ist alles zu spät. Verschließ das Zimmer und bring meine Frau erst Mal in unser Schlafzimmer, Ute“, zischte Bauer Lennartz. „Ich geh runter und ruf die Polizei. Nicht zu fassen, man wird wach, orientiert sich, ein Tag wie jeder, assoziiert man, und einige Zimmer neben unserem ist ein Mord passiert.“

„Und dass, während wir schliefen. Wer macht nur so was? Ausgerechnet Grit, die keiner Fliege etwas zuleide tun konnte.“ Unter Klagen und Heulen schob der Bauer seine Frau, vorsichtig zurückbewegend über die Schwelle der Zimmertür in den Korridor zurück.

„Ein Mord, hier auf dem Hof, wo Sie und ich wohnen.“ Hofhilfe Ute sah den Bauern ebenfalls verheult an.

„Nach was sieht’s denn aus? Sieht so aus, als hätten wir heute Morgen eine Tote zu beklagen. Frag mich nicht, wer, warum. Ich habe keine Ahnung, wer in unserer Nähe so brutal wütete. mit Ahnungen kann ich daher nicht viel anfangen. Grit wurde diese Nacht aus dem Schlaf gerissen und ihr wurde die Kehle aufgeschlitzt. Sie verlor viel Blut - ein qualvoller Tod.“

„Beim Allmächtigsten, mein Zimmer ist doch am nächsten dran, und ich habe nichts gehört.“

„Das wirst du … der Polizei … Ich muss runter, die Polizei verständigen. Wird hektisch werden hier in den nächsten Tagen, aber wer rechnet denn mit so was: Mord an einer Magd auf einem abgelegenen Bauernhof.“

Während der Bauer im Eiltempo die Treppe herunterflitzte, lehnten die Ältere und die Jüngere verwirrt und immer wieder schluchzend an der Korridorwand. Sie glitten dann hinunter, heulten gemeinsam weiter, stammelten immer wieder: „Grit, Grit, wer nur hat dir das angetan?“

„Und nun“, flüsterte Ute unter Tränen. „Ist mal mit ihr etwas gewesen? Aus dem Korridordunkel starrte Frederike die allzu naive Fragerin an und wiederholte ungläubig: „... gewesen? Was soll denn mit Grit gewesen sein? Vier Jahre und ein paar Monate war Grit bei uns. Du weißt ja selber, wie sie gerackert hat. Malte erzählte mir gerade, als wir dich schreien hörten, dass ihm heute Morgen seltsame Schneespuren auf der Wiese hinterm Haus aufgefallen sind. Hast du davon etwas bemerkt, Ute?“

„Ja, stimmt, dass da jemand war, hatte ich vorhin beim Gang zum Kuhstall bemerkt.“

„Und das sagst du erst jetzt erst?“

„Wann hätte ich denn erzählen sollen, es ging ja alles so schnell heute Morgen. Haben denn die Spuren was … beim Allmächtigen, ich kann es noch gar nicht fassen.“

„Warum sollten Fußspuren sonst hinterm Haus sein? Werde ich mir trotzdem gleich mal ansehen. ‚Spuren aus verschiedenen Richtungen führten zum Kellereingang und wieder zurück‘, erzählte mir Malte vorhin. Schon das allein wäre ein Fall für die Polizei, nun aber ein Mord in unserem Haus!? Sieht so aus, als ob die Spuren mit dem Mord zusammenhingen, einfach furchtbar das Ganze! Nicht auszudenken, Einbruch in mörderischer Absicht, ausgerechnet bei uns. Als ob man urplötzlich aus seinem Leben gedrängt wird, herrje.“

Inzwischen war Malte Lennartz die Treppe runter in das kleine eingerichtete Büro hinten im Flurtrakt zum Telefon geeilt, hob den Hörer ab und wählte den Polizeiruf 112. Nur mit Mühe und nach mehrmaligem Verstottern schaffte der Bauer es, von Mord zu sprechen und zu erklären, wer das Mordopfer war. Der Polizeibeamte am Apparat verweigerte ihm anfangs, abzunehmen, dass eine Magd das Opfer sei, er riet stattdessen, den Hausarzt zu holen. Der würde schon, wenn was sei, alles Notwendige in die Wege leiten. Als Lennartz dann auf die Blutlache am Tatort hinwies, reagierte der Polizeibeamte endlich, nahm die Adresse des Bauernhofs auf und sicherte zu, den Fall an das Hamburger Kriminalkommissariat weiterzuleiten.

Genervt verließ Bauer Lennartz sein Büro, ging zurück in den Flur. Die Türklinke der Kellertür schon gedrückt, trat er noch mal einen Schritt zurück, schaute zurück zur Treppe und rief fragend aufwärts, ob ‚alles in Ordnung’ sei. Geradezu idiotische Frage, auf die er keine Antwort bekam.

In der Drehbewegung zog seine Hand die Kellertür auf, mit der anderen knipste er das Kellerlicht an und ging flott die Kellertreppe runter. ‚Wenn ich mir nur vorstelle, dass diese Sprossen letzte Nacht leise, heimtückisch, um zu morden gleich mehrmals herauf- und heruntergegangen worden sind!? Trotzdem, nur eine von beiden Spuren kann die vermutliche Mörderin getreten haben. Einfach absurd, Grit in aller Heimtücke den Garaus zu machen.“

Der Kellerraum mit der Kellertür nach außen lag im Dunkeln. Als der besorgte Bauer das Raumlicht andrehte, flackerte es zuerst bedrohlich, ging aber nicht aus, sondern erhellte stattdessen den Kellerraum.

Lennartz erschrak, obwohl er sich hätte denken können, was ihn erwarten würde. Die Kellertür war ein Stück weit angelehnt. Durch den Spalt strömte kalte Morgenluft ein. Das Türschloss, alt und verrostet, war vermutlich bei einem tückisch eingeführten Draht aufgesprungen. Misstrauisch blickte er sich um, schätzte ab und sah skeptisch zur fensterlosen Tür des Kellerausgangs hin. Dann drehte Bauer Malte das Licht aus und orientierte sich im dunklen Keller mit einer Taschenlampe. Wer einbrach, hatte sich wohl mit einer Taschenlampe orientiert. Die Mörderin musste die Kellertreppe raufgeschlichen sein und oben die Kellertür zum düsteren Flur geöffnet, kurz ins Haus hineingehört haben. Dunkel, mucksmäuschenstill, alle schliefen, wie auch anders. Dass Gefahr im Verzug war, ahnte ja keiner. Hinter der Kellertür lag die Haustreppe zu den Schlafräumen. Dann war die Täterin herauf- und den Korridor entlang geschlichen, bis zu Grit Zimmer. Sie muss es unweigerlich sofort gefunden haben. Aus Vertrauen schloss Grit ihr Zimmer nie ab. Wäre auch eine Leichtigkeit gewesen, auch dieses Schloss zu knacken. Wer mordete, war ins Zimmer hineingeschlichen, hatte sie mit vor ihren Mund gehaltene Hand aufgeweckt und dann brutal ermordet – so kann es passiert sein!? Aber warum ausgerechnet Grit? Unsere Magd, die die ganzen Jahre, seit sie bei uns ist, keinerlei Außenkontakte hatte. Jedenfalls keine, die ich erinnere. Moment mal, Grit blutete auch aus dem Kopf. Eine Schusswunde, wahrscheinlich wurde sie mit Schalldämpfer zugefügt. Wer auch immer Grit das antat, hatte sie doppelt hingerichtet. Ein Rachemord vielleicht, und so was bei uns. Darum soll, darum muss die Kriminalpolizei sich kümmern.

Als Bauer Lennartz im dunklen Kellerraum sich den Tathergang szenisch vorstellte, wusste er plötzlich nicht mehr, wie ihm geschah. Wer nachts in und durchs Haus geschlichen war und gemordet hatte, muss genau gewusst haben, wo Grits Zimmer lag. Das Haus musste zuvor schon länger beobachtet worden sein, um zu herauszufinden, welches Grits Zimmer war, oder? Jedenfalls hatte ich bei meinem späten Rundgang gestern Abend niemand hinterm Haus bemerkt. Niemand Verdächtigen, der oder die, wie sonst in Frühling, Sommer oder Herbst, sich entschuldigend wieder Hof entfernte, sobald er ihm oder ihr nähertrat. Meist kam es aber gar nicht erst dazu, höflich zu nachzufragen, was sie suchten.

Gegen elf Uhr vormittags fuhr ein dunkelgrüner Polizei-Mercedes durch das Hoftor und parkte vor dem Bauernhaus. Bauer Lennartz öffnete die Haustür, ging dem aussteigenden Polizisten mit ungutem Gefühl darüber entgegen, dass sich in den nächsten Tagen eine angespannt traurige Stimmung über seinen Hof legen würde.

Zögerlich, immer wieder seinen nächsten Schritt abschätzend, kam der Polizist Bauer Lennartz entgegen:

„Ganz schön rutschig hier draußen. Hatten Sie uns vorhin angerufen?“

„Lassen Sie sich Zeit, denn ich kann’s sowieso noch gar nicht richtig fassen, was diese Nacht im Haus vorgefallen ist. Unsere Hofhilfe entdeckte unsere Magd gegen acht Uhr heute Morgen. Sie wurde in ihrem Zimmer ermordet, bei uns oben im Haus.“

„Ganz schön kalt hier draußen. Dass wir so weit draußen einen Fall annehmen, bin ich ehrlich nicht gewohnt. Hinterstes Poppenbüttel, wo man so was am wenigsten vermutet. Ich musste erst mal tüchtig suchen, um hierher zu finden.“

„Nun sind Sie ja hier, und es wartet Arbeit auf Sie.“

„Ihre Magd also hat’s erwischt?“

„Ja, vorhin hatte sie unsere Hofhilfe in ihrer Blutlache hinterm Bett aufgefunden.“

„Das sagten Sie schon. Wer macht denn so was, und so weit draußen?“

„Keine Ahnung, finden Sie‘s heraus.“

„Ich komme erst einmal, um mir ansehen und aufnehmen, was vorgefallen ist. Werde mal einen Blick auf den Tatort werfen und dann gleich den Leichenwagen anfordern. Wo geht’s denn zum Tatort, Herr Lennartz?“

„Ja, kommen Sie. Erst mal ins Haus, bitte. Wir sind noch alle so geschockt von dem, was letzte Nacht passiert ist, wie Sie sich vorstellen können.“

Der Polizist folgte Bauer Lennartz ins Haus hinein und durch den Flur die Holztreppe hinauf in den ersten Stock.

„Die Tote war Ihre Magd und wohnte in Ihrem Haus, auf demselben Stock, wie Sie, nicht? Ist so was überhaupt üblich?“

„Davon, was üblich ist und was nicht, habe ich nicht die geringste Ahnung. Sie, ähm, also Grit, arbeitete ja in Haus und Hof und rackerte schon mehrere Jahre bei uns. Ich mag nicht darüber nachdenken, welche Fehlstände in den nächsten Tagen und Wochen auf meinem Hof auftreten werden. Grits Ausfall reißt jedenfalls eine schwer zu stopfende Lücke auf dem Hof.“

„Sie und ihre Frau schlafen doch auch in einem dieser Zimmer, oder?“ Der Polizist deutete mit gezücktem Kugelschreiber nach rechts.

„Ja, Frederike, meine Frau, hat sich wohl verzogen. Fertig mit den Nerven, wie ich und wohl auch unsere junge Hofhilfe Ute, die Grit gegen acht heute Morgen fand. Wir stehen übrigens schon vor Grits Zimmer. Ich hab’ die Tür vorhin wieder geschlossen.“

„Dann will ich mal.“

Der Polizist öffnete vorsichtig die Zimmertür, gerade soweit, um durch den Türspalt hindurch zu passen. Die Zimmertür lehnte er hinter sich an, um sie nach kurzem wieder aufzustoßen und herauszutreten.

„Sie haben recht, sieht nach ‘ner Gewalttat aus. Nach allem, was ich auf die Schnelle feststellen konnte, sind der Frau zwei tödliche Verletzungen zugefügt worden.“

„Zwei, der Kopfschuss, nicht wahr? Aber dass da noch eine ist ..., scheint mir entgangen zu sein.“

„Neben dem Kehlschnitt, der bereits tödlich gewesen sein musste, wurde die Tote noch in den Kopf geschossen. Wahrscheinlich ein aufgesetzter Schuss!? Anzunehmen ist auch, dass die verwendete Schusswaffe einen Schalldämpfer hatte, weswegen Sie letzte Nacht wohl nichts von der Tat gehört hatten. Vielleicht hat aber Ihre Gattin etwas gehört?“

„Oh, da müssen Sie meine Frau fragen. Ich jedenfalls habe die Nacht, wie ein Murmeltier durchgeschlafen. Folglich kann ich keine Ahnung haben, zu welchem Zeitpunkt der Mord geschah.“

„Ablauf und den Tatzeitpunkt ermittelt ein Inspektor aus Hamburg. Ich bin nur ein zufällig diensthabender Streifenpolizist, der ausgerechnet samstagvormittags seinen Dienst schob, um das Grundlegende aufzunehmen.“

„Die Leiche liegt schon viel zu lange hier. Wird sie denn nicht abgeholt werden?“

„Bei Mord wird eine Frauenleiche von der Gerichtsmedizin obduziert werden. Ich werde mich gleich mal über Polizeifunk mit der Zentrale beraten, was die sagt.“

„Was wir hier genügend haben, ist, an so einem Tag wie diesem, Zeit. Wir, drei zurzeit auf dem Hof, sind wie gelähmt. Also tun Sie, was Sie tun müssen.“

„Natürlich, ich werde den Tatort erst mal abbinden, dass ja keiner mehr ins Zimmer hineinkann, bis die Leiche nachher abgeholt wird.“

„Keine Sorge, der Korridor oben ist für uns bis auf Weiteres Tabu.“

Der Polizist drehte sich zur Treppe, schnellte die Stufen hinunter und hinterließ dem ihm nachblickenden Bauern:

„Ich hole dann mal kurz das Absperrband aus dem Wagen.“

„Ist doch nicht nötig. Schlüssel und …“

„Ja, muss auch mit der Zentrale telefonieren, die Kavallerie verständigen und den Leichenwagen ordern.“

Trübsinnig einen Blick zur verschlossenen Zimmertür werfend, folgte Bauer Lennartz dem Polizisten Stufe für Stufe abwärts, öffnete die Haustür und entließ den Polizisten auf den Hof. Dann ging der Bauer ins Wohnzimmer, wo er fast erschrak. Seine Frau saß noch im Bademantel stumm im Sessel, würdigte ihren Mann keines Blicks, fragte nicht mal was, höhlte nur mit starren, auf einen Punkt gerichteten Augen die Wand aus. Der Bauer wandte sich dem Fenster zu, beobachtete durch den leichten Nebel den durchs Handmikrofon sprechenden Polizisten in seinem Wagen. Als sich die Wagentür wieder öffnete, ging Bauer Lennartz zurück in den Flur, um den Polizisten an der geöffneten Haustür zu empfangen.

„Anders als ich vermutet hatte. Die Leiche soll zur Obduktion in die Pathologie nach St. Georg. Kann dauern, bis der Leichentransporter hier draußen ankommt, einige Stunden wird‘s wohl noch brauchen. Ich mach‘ noch das Band vor die Tür zum Tatort, danach verschwinde ich wieder. Meine Aufgabe ist erfüllt, alles Weitere ermittelt der Inspektor der Mordkommission, der sicher bald auch hier auftauchen wird.“

Am frühen Nachmittag fuhr ein Lieferwagen auf den Hof. Bauer Lennartz kam gerade mit einem schon Rost ansetzenden Werkzeugkasten aus der Scheune. Sich erinnernd, dass Arbeit freimache und von Sorgen entbände, hatte er sich vorgenommen, seine Wartezeit auf Ereignisse, die sich so jäh angekündigt hatten, mit Reparatur des kaputten Gänsestalls abzufedern.

Mehrere Männer in Laborkitteln und mit langen Ledertaschen stiegen aus dem geparkten Lieferwagen aus. Lennartz schritt ihnen entgegen, wohl wissend, wer soeben angekommen war.

Ein älterer Mann mit Halbglatze und im beigen Overall kam dem Bauer entgegen, fragte, ohne sich zuvor vorzustellen:

„Heute Morgen soll sich bei Ihnen im Haus ein Kapitalverbrechen ereignet haben? Hat einiges gedauert, bis wir informiert wurden.“

„Gut, dass Sie kommen. Gleich hier oben im Haus! Ich schließ‘ Ihnen auf. Unsere Magd, letzte Nacht.“

„Wem das Licht ausgeknipst wurde, interessiert uns nicht, nur der Tatort! Wir untersuchen, und versuchen, uns ein wahrheitsgetreues Bild von dem zu machen, was letzte Nacht geschah. Wie sie umkam und das ganze warum, weshalb, und so, interessieren den Inspektor und seine Leute, uns dagegen nicht.“

„Ah ja, da ...“

„Noch was?“

„Ja, heute Morgen bemerkte ich mehrere Fußspuren im Schnee hinter unserem Haus, die von letzter Nacht stammen müssen. Die Kellertür wurde zudem aufgebrochen. Kleine Sohlengrößen, vermutlich stammen sie von Frauen. Beide müssen letzte Nacht irgendwann ins Haus eingebrochen sein.“

„Da Laus mich doch ’n Affe! Steuert man nichts ahnend durch die Hamburger Einöde, und dann tummeln sich da die schlimmsten Untaten. Ist ja der reinste Luftkurort hier, wo Sie leben.“

„Ach, seit das Desaster heute Morgen entdeckt wurde, nicht mehr. Folgen Sie mir erst mal! Im ersten Stock ist’s passiert. Das Zimmer der Toten ist gleich oben an der Haustreppe, sie wurde wohl im Schlaf überrascht und ermordet.“

Einen seiner Kollegen wies der Mann im weißen Overall schon im Gehen an:

„Werner, sieh‘ dir mal an, was der Herr Bauer gerade berichtete. Hinterm Haus diese Schneespuren und die aufgebrochene Kellertür. Mach am besten ein paar Fotos von den Spuren im Schnee ehe der Schnee schmelzen.“

„Ich hab’ die Kellertür vorhin geschlossen und was von innen davorgestellt. Am besten sieht sich Ihr Kollege die aufgebrochene Kellertür von innen auch mal an. Der Kellereingang ist im Haus hinter der Treppe zu den Schlafräumen. Wenn Sie reinkommen, laufen Sie direkt auf die Tür zum Keller zu.“

Ohne weitere Absprache verschwand der Angewiesene hinter der Hauswand.

Lennartz führte drei Männer in Overalls hoch zum Tatortzimmer und beobachte durch die offene Zimmertür, wie die Ermittler ihre Arbeit aufnahmen. Der Bariton eines für ihn nicht sichtbaren Ermittlers ließ den zu neugierigen Bauern zusammenzucken:

„Sie können ruhig etwas anderes tun, Herr Bauer. Das hier wird dauern!“

Lennartz fühlte sich ertappt. Ging gedankenschwer, langsam die Treppe runter, öffnete die Haustür, um begonnenem Tagewerk weiter nachzugehen. Kaum, dass er den Hofboden betrat, fuhr ein weiterer, diesmal schwarzer Lieferwagen durch das Hoftor. Der Fahrer parkte neben dem zuvor auf den Hof gefahrenen Lieferwagen. Lennartz ging zurück und öffnete wieder die Haustür.

Auf beiden Seiten des Lieferwagens sprangen Autotüren auf und zwei Männer unterschiedlichen Alters in schwarzen Anzügen, krawattiert, kamen auf den Bauern, noch auf der Haustreppe stehend, zu.

„Wir sollen hier eine Leiche abholen, wurde uns gesagt“, sagte der Vordere, während der andere, sich auf dem Hof umblickend, fallen ließ: „Keinen Kadaver, eine Leiche.“

„Ihren Witz können Sie sich sparen! Lennartz, übrigens, mein Name. Die Ermordete liegt im oberen Stockwerk. Kommen Sie, ich zeig’s Ihnen.“

„Wie ich sehe, ist die Vorhut schon eingetrudelt. So soll es auch sein. Die Liegelage, wie die Leiche aufgefunden wurde, ist eingezeichnet, der Tatort abfotografiert! Die Leiche kann nun abtransportiert werden, wofür wir da sind! Fahrt in die Frische, fast wie ein Betriebsausflug.“

„Hans?“

„Ja, richtig! Ans Werk! Führen wir dem Allmächtigen zu, was sein’s sein soll.“

„Sie sollen doch nur abholen und mitnehmen, nicht schäkern. Folgen Sie mir bitte ins Haus!“

„Moment, wir holen noch den Sarg aus dem Wagen, dann können Sie uns zeigen, wo wir heben und legen sollen.“

Nach knapp zwanzig Minuten fuhr der Leichenwagen mit Grits Leiche im Sarg wieder vom Hof. Bauer Lennartz stand ihm nachsehend vor seinem Haus. Frederike kam kurz vor der Abfahrt aus der Haustür heraus, schmiegte sich an ihren Mann. Ärgerlich schüttelte er sie ab, erklärte trotzig, dass er weiterarbeiten müsse. Schicksal bedeute noch lange keinen Arbeitsaufschub.

Auf dem Hof vergingen die nächsten Stunden nur langsam. Erkennungsdienst war länger im Haus. Die beiden Frauen blieben im Wohnzimmer wie blockiert, waren stundenlang weder zu sehen noch zu hören. An diesem schwarzen Tag hing es an ihm, dem Haus- und Hofherrn, sich zusammenzureißen, Stehvermögen und Kraft für das Notwendigste, das an so einem Tag zu erledigen war, zu zeigen und für sich selbst zu finden. Die paar Schweine im Stall erwarteten schon längst Futter, wie die Stute im Pferdestall, die Kühe und der Ochse ebenso. Zunächst galt es aber, den defekten Gänsestall zu reparieren. Sonst würde am nächsten Morgen noch eine Gans fehlen, und der Fuchs bekäme seine verlässliche Nahrungsquelle, was niemals passieren durfte! Was letzte Nacht nur ein paar Zimmer vom Doppelbett entfernt Unglaubliches geschah, hätte niemals passieren sollen! Einfach zu fürchterlich das Ganze! Grit wurde auf die bestialischste Weise, die man sich nur vorstellen konnte, in ihrem Bett im Schlaf ermordet, und gerade wurde ihre Leiche vom Hof gefahren. Umgebracht auf seinem Hof, wie sich das anhört.

Durch eine der vielen Ritzen der Innenwand des Gänsestalls sah Lennartz nach etwa einer Stunde, wie ein Mann im weißen Overall einem zweiten, noch unbekannten größeren Mann im Wintermantel die morgendlichen Fußspuren im Schnee sowie die unterschiedlichen Gangwege zeigte. Minuten später waren die beiden Männer wieder verschwunden und Lennartz setze seine Stallreparatur fort.

Als er dabei war, das Gitter auszutauschen, hörte Bauer Lennartz plötzlich eine ihm unbekannte Stimme hinter sich sagen: „Hier stecken Sie also. Ist gar nicht so leicht, jemand Ansprechbaren auf Ihrem Hof zu finden.“

Lennartz, in der Hocke, drehte sich erschrocken um und starrte einem großen Mann im dunklen Wintermantel an. Der Bauer erhob sich ziemlich flink, eine Zange fallen lassend und reichte dem fremden Mann seine Hand, denn er ahnte schon, um wen es sich handelte: den angekündigten Inspektor der Hamburger Mordkommission.

„Und Sie sind“, spürte der Bauer fragend die Inspektorenhand in seiner.

„Greifenfall. Inspektor Greifenfall, Mordkommission Hamburg.“

„Mordkommission, ach, natürlich! Ist meine Frau denn nicht im Haus?“

„Keine Ahnung, ich brauchte ja auch nicht klingeln, denn die Haustür war angelehnt. Übrigens, sonst nicht zu empfehlen. Unsere Leute haben ja oben noch zu tun. Das Poltern bei Ihnen oben ist ja nicht zu überhören! Also bin ich die Treppe rauf, hab’ mir den Tatort schon mal angesehen. Auch ich würde mich fragen, ‚wer macht denn so was‘, aber einer der Kollegen nahm mich beiseite und erzählte mir von dem Einbruch letzte Nacht. Drei Fußspuren im Schnee, das allein ist schon so seltsam wie verdächtig.“

„Drei, du meine Güte, wo kommt die dritte denn noch her? Die beiden hinterm Haus hatte ich heute Morgen entdeckt, als ich noch nicht wusste, was los ist.“

„Zwei, vermutlich Frauen, nach der Größe der Fußspuren zu urteilen ...“

„Ja, sie lassen wohl keinen anderen Schluss zu.“

„Also die beiden Frauen, eine war die Täterin, die andere tatverdächtig, dann wird‘s düster, schlichen aus unterschiedlichen Richtungen nachts zum Kellereingang, um ins Haus einzubrechen. Die beiden hatten aller Wahrscheinlichkeit nach unterschiedliche Ambitionen. Was genau da geschah, wird noch untersucht werden müssen. Da es zwei Richtungen sind, aus denen sie kamen, liegt es nahe, dass die beiden hintertrieben agierenden Damen kontroverse Absichten verfolgten. Weshalb sie wohl nicht zur gleichen Zeit in Ihr Haus eindrangen. Ich glaube, so kann man sich das vorstellen, was letzte Nacht passierte.“

„Wenn Sie’s sagen, erst diese merkwürdigen Fußspuren hinterm Haus und kurze Zeit später Grits Leiche. Sagen kann ich Ihnen schon mal im Voraus, was Sie auf dem Hof auch anfassen werden, Grit hat’s berührt. Und jetzt klebt Blut dran, ihr Blut! Ich weiß noch gar nicht, wie wir uns heute Abend wieder zur Ruhe betten sollen. Ein paar Meter von mir, von uns, in unserem Haus wurde ein lieber Mensch ermordet! Grit konnte doch niemand was zuleide tun, ich kapier‘ das nicht.“

„Oh, ich kann auch am Montag wiederkommen, Herr Lennartz. Trauer geht vor! Wenn Sie jemanden wünschen, der Sie und Ihre Frau psychologisch beraten soll, wird sich das sicher finden lassen.“

„Nein, nein, schon gut, Inspektor Greifenfall. Muss ja trotzdem weiter gehen auf dem Hof! Wenn ich nur überfliege, was hier alles auf mich wartet, oje, oje.“

„Unsereiner kann nie ausfallen, wissen Sie. So ein Hof steht nie still! Und wenn der Bauer einmal ausfällt, wächst einem schneller alles über den Kopf, als es mir lieb sein kann.“

„Ich weiß, Inspektorenfragen sind lästig. Wie ein unbändiger Wasserfall im Sturm, oder so ähnlich!? Vorerst habe ich auch nur ein paar Fragen zur Toten: Wer war sie, und was genau hat sie auf dem Hof gemacht? Wie lange war die Tote bei Ihnen schon tätig? Ich muss mir erst mal ein Bild von dem hier machen. ‚Mord auf einem Bauernhof bei Poppenbüttel‘, klingt nach Gähnappell in der Titelei einer Regionalzeitung.“

„Unterschätzen Sie das hier bloß nicht, Herr Inspektor. Wir, die wir auf dem Hof leben, sind jedenfalls unschuldig, das sag ich Ihnen gleich.“

„Oh nein, die Tat muss mit diesen Schneespuren zusammenhängen, das ist schon jetzt offensichtlich. Zunächst muss ich aber erst wissen, wer die Ermordete überhaupt war, das verstehen Sie doch?“

„Natürlich!“

„Waren Ihnen in letzter Zeit Ereignisse in Verbindung mit der Ermordeten aufgefallen, die Ihnen verdächtig erschienen und Ihnen im Gedächtnis geblieben sind?“

„Verdächtig, mir? Nein! Grit war über Jahre unsere treue, verlässliche Magd. Die ersten drei Jahre war sie Hofhilfe, dann Magd, müssen Sie wissen. Alles, was wir ihr auftrugen, erledigte sie, ohne zu murren.“

„Wie lange lebte die Tote denn auf Ihrem Hof?“

„Schätze vier Jahre und ein paar Monate.“

„Wie, nur vier Jahre, relativ kurz, finden Sie nicht?“

„Grit hatte sich in diesen Jahren halt hochgerackert von einer Erntehelferin zur Magd. Wir verweigerten uns ihr nicht, da sie viel mehr konnte, als sie vorgab.“

„‘... als sie vorgab‘, das interessiert mich. Sie hatte also ein Leben vor ihrer Magdexistenz! Wissen Sie, welches?“

„Nein, hm, ich konnte Grit, äh, die Tote, wann und wo, beim Säen, beim Ernten, im Stall oder sonst wo nach ihrer Vergangenheit fragen, sie wich mir immer wieder aus. Einmal aber sagte sie mir, sie hätte mit ihrer Vergangenheit abgeschlossen. Ihre Vergangenheit sei so schräg verlaufen, dass Worte darüber zu vergeuden, sich nicht lohne. Damit war das Thema abgeschlossen, und Grit ließ mich wie angewurzelt stehen.“

„Muss ja amüsant gewesen sein mit ihr.“

„Manchmal zu amüsant. Die tägliche Hofarbeit ist zu allen Jahreszeiten Knochen brechend schwierig, nervend, zeitraubend, aber erforderlich.“

„Und wer könnte anderes im Sinn mit ihr gehabt haben?“

„Da fragen Sie mich was. Ich jedenfalls weiß es nicht.“

„Wenn Sie noch mal zurückdenken, woran erinnert Sie Ihre verstorbene Magd am ehesten.“

„Grit war nicht ‚unsere Magd‘! Sie konnte hier tun und lassen, was sie wollte. Sie hätte auch anderes nicht zugelassen!“

„Also eine recht resolute Frau, die Ihnen auf der Nase herumtanzte, verstehe ich das richtig?“

„So wiederum auch nicht, da wäre ich schon gegen gewesen. Ihre Pflichten in Haus und Hof waren je nach Saison, komme, was wolle, stets zuerst zu erledigen. Auf sie war zu allen Jahreszeiten Verlass - bis eben heute Morgen.“

„Deutsche Tugend, und weiter.“

„Nicht nur.“

„Fällt Ihnen ein Beispiel, eine besondere Begegnung mit ihr ein, Herr Lennartz?“

„Ich hatte mich schon öfters gefragt, was für eine Frau Grit sei. So direkt erinnere ich mich, dass vor vielleicht drei Jahren im Sommer Fremde am Feldrand auftauchten.“

„So was kommt bei Ihnen hier draußen vermutlich öfters vor?“

„Im Sommer häufiger, ja, nur diesmal waren es jüngere Ausländer, die sich wohl verlaufen hatten. Meine Frau und ich staunten nicht schlecht, als Grit vom Trecker heruntersprang und zu diesen Fremden hinrannte. Sie müssen sich vorstellen, ziemliche Hitze und sie in Arbeitskleidung. Wir warteten auf sie beim Trecker, aber Grit rannte einfach weg und ließ uns dumm aussehen. Was an für sich unbegreiflich war, denn als der Vorfall passierte, war sie noch keine Magd, half ja nur und hatte Pflichten, aber niemals das Recht, einfach so vom Feld zu verschwinden und uns stehenzulassen.“

Der Bauer schlug verärgert mit der Faust an die Stallwand, worauf Gänse im Hintergrund losgackerten.

„Regen Sie sich doch nicht noch auf, Herr Lennartz. Was passierte denn damals konkret?“

„Anstatt ans Feld zu fahren, unterhielt sie sich in sichtbarer Entfernung mit den Fremden. Mir platzte damals fast der Kragen! Ziemlich wütend stampfte ich ihr entgegen, von der wartenden Arbeit weg. Die gemischte Gruppe, die einen Kreis um Grit herum gebildet hatte, löste sich sofort auf, als ich kam, wohl, weil sie bemerkt hatten, dass ich nicht sehr erfreut war. Gerade noch hörte ich, wie die Gruppe sich von Grit verabschiedete und Grit erwiderte auch noch etwas. Stellen Sie sich mal vor, von dem, was ich hörte, verstand ich kein einziges Wort.“

„Wie denn das?“

„Grit hatte wohl die ganze Zeit mit diesen Touristen Englisch gesprochen.“

„Wenn Sie doch kein Wort verstanden hatten?“

„Englisch erkennt wohl jeder, schon wegen der britischen Alliierten hier oben. Ich hab’ Grit auch gleich zur Rede gestellt, sie ausgeschimpft, was sie sich vorstelle, von der Arbeit einfach so zu verschwinden und uns stehen zu lassen. Sie grinste nur, hinterließ, bevor sie zurückrannte, dass sie ziemlich junge Briten nach dem Alster-Wanderweg gefragt hätten. Sie hätte es genossen, nach Jahren wieder auf Englisch ein paar Worte wechseln zu können.“

„Woher sie so gut Englisch sprach, wissen Sie selbst heute nicht?“

„Nein, vielleicht weiß Frederike, meine Gattin, mehr. Sie hat Grit ja all die Jahre fast mehr mit ihr als mit mir gesprochen.“

„Ich stehe ja erst am Anfang meiner Ermittlung. Erntehelferin, die sich auf Englisch unterhielt? Mein neuer Fall wirft schon jetzt andere Schatten, als ich auf der Hinfahrt vermutete. Dann werde ich mich mal ins Haus begeben, um mich mit Ihrer Gattin zu unterhalten.“

„Gahn se bidde in de döns. Ick kume liek. Mien Keerl kume jüst de liek.“

Gehen Sie bitte ins Haus. Ich und mein Mann kommen gleich nach

„Wie bitte?“

„Ach, Plattdeutsch! Das war das Einzige, was Grit aus dem Häuschen brachte, dass aber so richtig! Sie ertrug es nicht, wenn in ihrer Gegenwart Plattdeutsch gequasselt wurde. Unser Trick, um Persönliches zu bereden, das Grit nicht mitkriegen sollte. Setzen Sie sich in die geheizte Stube, Inspektor, ich komme gleich nach.

„Dann bis gleich. Ich geh mal wieder ins Haus, um nachzusehen, wie weit meine Leute mit dem Tatort sind.“

„Wenn mein Weib nicht gleichkommt, müssen Sie nach ihr rufen. So richtig verkraften, dass ein paar Meter von unserem Schlafzimmer letzte Nacht ein Mord geschah, wird Frederike, glaube ich, lange nicht.“

„Wer kann das schon, ich geh‘ dann mal.“


I Verstrickungen



Die atlantische Magd

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