Читать книгу Die atlantische Magd - Ralf Blittkowsky - Страница 4
Am Ring
ОглавлениеSamstagabends, halb zwölf p.m. in einem Vorort von Scranton, Pennsylvania.
Erwartungsvolles Drängen in eine zum Bersten überfüllten Wrestling-Halle. Nervös, aufgeladene Atmosphäre, viele weiße und einige dunkelhäutige Männer und Frauen verteilen sich über die Ränge. Zahlreiche stimulierende Männerstimmen aus den Sitzreihen rund um den grell beleuchteten Ring, dagegen diszipliniertes Warten auf den Tribünenrängen. Gespräche, Zuprosten, Zwistigkeiten unter Platznachbarn, welche spontan abbrachen, kaum, dass der Minutenzeiger die zwölf übertickte. Angespannt harrte jeder und jede auf die Fanfare, die den Gladiatoreneinzug in den Ring begleiten sollte.
Mehrfach gestoßen windete sich eine etwa dreißigjährige strohblond gelockte Frau zunächst an schmalgesichtigen Smokings, dann an einer grölenden Gruppe älterer Soldaten in Uniform vorbei. Von Mal zu Mal nach ihr grapschende Hände abwehrend, Verbalentgleisungen ungeachtet hinter sich lassend, stürmte die adrett aussehende Frau im schicken Übergangsmantel vorwärts, ihrem reservierten Sitzplatz entgegen.
Die überhastet eilende junge Frau war spät dran. Die Fahrt von Boston, wo sie lebte und arbeitete, bis nach Scranton hatte länger gedauert als einkalkuliert, obwohl sie schon am frühen Nachmittag ihre Wohnung verlassen hatte und in ihren ebenso schicken Rover losgefahren war.
Die junge, stürmische Frau hielt inne, orientierte sich einen bewegten Rang aufwärts. Ihr Sitzplatz lag wohl mittendrin in einer von ihren Sitzen erhobenen, anfeuernden Männermenge. Ausgerechnet! Kaum hatte sie sich an den ersten Männerbäuchen vorbeigedrängt, stoppte die Fanfare und schlagartig wurde es in der Halle still.
Die Hallenatmosphäre – pulsierend, zum Bersten gespannt. Die beiden umjubelten Wrestlingattraktionen konnten jeden Moment Einzug halten. Und sie, die vorwärts hetzende Frau? Sie drehte sich voller Spannung zum Ring. Mit einem Mal war ihr Platzstreben vergessen, so kurz vor dem Beginn. Sie nahm verärgert die sich aneinanderreihenden Schulterwände vor sich wahr, ärgerte sich und sprang hoch und höher, versuchte über Schultern hinweg den Blick zum noch leeren Ring zu ergattern. Ergattern schon, aber nicht zu halten. Oh, diese Weiber vor ihr mit ihren turmhohen Hüten!? Ungeduldig wechselte sie mehrmals ihre Position. Bemühte sich, so viel Ringsicht zu ergattern, wie sie nur konnte, getrieben von nur einem Ziel: Melon Jim, ihren Wrestlingboliden, fighten und siegen sehen.
Sie stieß, schubste und wurde geschubst, von der Seite gestoßen und ergatterte immer wieder nur einen Blickfetzen. Gierend nach Blicken, vorbei an hektisch aufspringenden Köpfen, die ihren Kampfenthusiasmus grölend Richtung Ring skandierten, wo inzwischen beide Wrestler sich szenisch umtanzend zum Fight anheizten. Zwischen zwei Rückenschwenks entdeckte sie plötzlich einen noch freien, ausgemacht guten Stehplatz und strebte ihm zu. Denn inmitten einer Reihe von anfeuernden Hosenträgern schien bessere Ringsicht zu sein. Gerade rechtzeitig zum Beginn schaffte sie es, auszukeuchen und einen Stehplatz mit Ringperspektive zu ergattern.
Ein älterer Mann in dunkelblauem Zweireiher und Schlips stieg durch die Seile in den Ring. Er stellte sich in die Mitte und schwenkte jovial herausfordernd sein verkabeltes Mikrofon, wartete sich umsehend und mehrmals sich räuspernd ab.
Wie alle im Saal verfolgte die auch zuvor aufgefallene Frau gespannt, wie Rüschenhemd sein Mikrofon zum Mund führte, hörte, wie sein sonorer Bass aus den Hallenlautsprechern Abendankündigungen herausströmte. Zwei Wrestler tanzten aus gegenüberliegenden Ringecken mit Box-, Schlag- und Ausweichbewegungen zur Ringmitte hin. Übliche Beschimpfungen unter Wrestlern im Ring gingen in Begrüßungsapplaus und Zwischenrufen unter.
Ann Lindemann, so hieß die Frau, erschrak plötzlich, als kräftige Hände sie an ihrer Schulter packten und sie dreist weiterschoben. Fast wäre sie dabei gestürzt. Gerade noch schaffte sie es sich, auf einen vorderen Männerrücken zu stützen, worauf ein verschwitztes Männergesicht sich verärgert zu ihr umblickte. Kaum, dass er erkannte, dass die Störerin eine attraktive Frau war, prostete er ihr mit der Bierflasche zu.
Der Moderator in der Ringmitte kreischte amplitudisch hochvibrierend: „Melon Jim – The Challenger from Pennsylvania!“ Rund um den Ring tanzten inzwischen leicht bekleidete Damen in hohen, weißen Cowboystiefeln und hellblauen Fransenblusen. Auf breiten, bunten Schildern stand jeweils der Namen eines angekündigten Wrestlers, unterlegt von dazu eingespielter Country & Western-Musik: Melon Jim gegen Coup Bill.
Ann Lindemann reckte sich wieder mal in Schulterhöhe des ihr die Ringsicht verstellenden Smokings und rief lautstark anfeuernd: „Melon, Melon!“ Gefangen im Anfeuerungsjubel ‚gib’s ihm, pass auf seine Linke auf‘ klapste ihr von hinten jemand auf die Schulter. Irritiert, mit feurigen Augen drehte sie sich um. Ein Bariton mit Schnauzbart, oder umgekehrt, hatte sich vorgenommen, sie zu beschwichtigen: „Ist doch nur Spaß! Prickelnde Unterhaltung! Erst kriegt‘s der eine, dann der andere! Auf die Linke aufzupassen, bringt gar nichts, Lady!“ Daneben drehte sich ein jüngerer Mann südlichen Teints um, ergänzte ziemlich barsch: „Keine Ahnung, wie! Hören Sie auf, so zu schreien, Miss. Der alte Kerl hat doch sowieso keine Chance!“, und ein Dritter erteilte ihr sich umdrehend folgende Abfuhr: „Maul halten, Lady, Sie erobern gerade die falsche Reihe! Eine Faust von Coup Bill, und Sie können ihren Helden von der Matte aufwischen. Wird eh‘ Zeit, dass ihr Methusalem seine Leviten lesen lernt. Was suchen Sie also noch in unserer Höhenlage? Schweigen Sie besser. Gegen sein Epitaph wehren Sie sich vergebens.“
Schockiert wandte sich Ann Lindemann um, starrte grimmig zu einem Hallenscheinwerfer, dessen Licht bedenklich wackelte, dann aber weiterleuchtete.
Die Ringglocke ertönte, der Fight begann. Fäuste prallten gegeneinander, erste Greifmanöver und Schwingungen Richtung Body. Schmerzerfülltes Brüllen im Ring, stampfend sich abschätzende Wrestlerfleischmassen täuschten einander, wo der initiale Griff anzusetzen sei. Dann, Trennung, Atemholen aus Gift und Galle spuckender Distanz.
Plötzlich, kaum eine Minute bis zur ersten Ringpause: Melon Jim lag im Würgegriff schon auf der Matte, drehte sich um die eigene Achse. Coup Bill drückte Melon Jim mit flacher Hand nieder, mit der anderen setzte er mehrmals an, des Gegners Oberschenkel von unten zu umfassen, was ihm auch nach mehreren Ansätzen gelang. Mit enormer Kraft zog Coup Bill Melon Jim an den beiden Unterschenkeln hoch, regelrecht in den Handstand, dass der Wrestlerkopf knapp über dem Ringboden bedrohlich baumelte. Sobald Coup Bill Melon Jim kerzengrade aufgerichtet hatte, ließ er seinen Gegner gestisch lächelnd wieder los und zu Boden krachen. Kaum lag Melon Jim ausgesteckt auf dem Ringboden, packte Coup Bill beide Beine, zog seinen so überwältigten Gegner triumphierend im Kreis herum. Appellierende Anfeuerungsrufe aus dem Publikum, aber auch betretenes Schweigen. Melon Jim am Boden, aber nicht ganz. Aus niedergerungener Zwangslage heraus schaffte Melon Jim, ein Bein frei zu winden, und mehrmals energisch in Richtung Coup Bill’s Bauch zu treten. Doch auch das nutzte nichts. Coup Bill fasste ein Bein und drückte es kraftvoll nach hinten, dass Melon Jim im Bemühen, aufzustehen, an Höhe zu gewinnen, auf den Rücken zurückfiel und reglos liegen blieb.
Kaum hatte er es geschafft, sich zu erheben, versetzte Coup Bill ihm einige harte Faustschläge gegen die Brust. Melon Jim fiel erneut zurück und blieb ausgestreckt am Boden liegen.
Dem Sieg, so früh, ganz nah. Der vom Ringrichter demonstrativ angezählte Countout zählte die Anti-Melon-Jim-Fraktion in der turbulent erregten Halle ab drei laut mit. Coup Bill, schon in Siegerpose, entfernte sich und boxte unter wild entbrandendem Jubel in die nach allen Ringseiten durchschwirrte stickige Hallenluft.
Trotz ihres nicht gerade günstigen Blickwinkels hielt es sie nicht mehr länger, Melon Jim angeschlagen und angezählt sich am Boden wälzen zu sehen. Schiedsrichter Finch zählte aufwärts, am erhobenen Arm hoch fingernd. Der Gongschlegel schien bereits schlagbereit angesetzt zu sein.
Bei Zahl 6 durchdrang eine Frauenstimme mutig laut schon hektisch aufwühlenden Ringtumult: „Melon, you do succeed! I am on your side. Please, don’t disappoint myself!“
Melon, du hast Erfolg! Ich bin an deiner Seite. Bitte enttäusche mich nicht.
Irritiertes Raunen quirlte durch alle Publikumsreihen. Glühend gespannte Augenpaare verfolgten ringsum, was in den angezählten letzten Sekunden im Ring vor sich ging. Der Ringmoderator setzte schon sein Mikrofon zur Verkündigung des ersten Siegers dieses Abends an. Vollkommen unerwartet, zum Staunen aller richtete sich Melon Jim bei acht auf, hievte sich gelenkig in den herausfordernden Wrestlerschritt, spottete, grinste frech, boxte ein paar Mal in die Ringluft. Coup Bill kam zögerlich von den Seilen zurück, signalisierte mit Handzeichen seinem zur Kampffortsetzung bereiten Gegner so was wie ‚du willst mich bezwingen? Versuch es, wenn du noch nicht genug hast.‘ Ein paarmal in die Luft boxend nahm der Herausgeforderte die Herausforderung an. Ging in Angriffshaltung gebückt auf Melon Jim zu, aber kassierte, sobald Coup Bill in die Ringmitte sich vorgetanzt hatte, einen treffsicher platzierten Tritt in die Magengrube, woraufhin er kopfüber krachend zu Boden ging. Coup Bill wälzte sich zwar vor Schmerzen, stand aber wieder auf und blinzelte arglistig Melon Jim zu.
Wieder erstauntes Raunen in der Halle! Der Wrestlingkampf sollte also weitergehen, war noch nicht ausgestanden. Der tönende Gong beendet die erste Runde.
Melon Jim wrestelte in den nächsten beiden Runden mit leichten Vorteilen für sich. In der vierten Runde presste ein Beugegriff Melon Jims Coup Billys Oberschenkel ziemlich brutal zusammen. Coup Bill humpelte, und ein weißes Handtuch flatterte zugunsten Melon Jims in den Ring.
Pause bis zum nächsten Fight!
Kaum war die Pause angekündigt, zwängte sich Ann Lindemann verschwitzt, freudig erregt in Richtung Ausgang. Ihr Ziel hieß Melon Jims Backroom. Nicht nur, um dem Wrestler zum Sieg zu gratulieren, sondern auch, um ihrem muskulösen Favoriten mit Grips hinter der Stirn Nahe sein zu können. Ein freundlich lächelnder Security-Hüne wird mich schon zu den Backrooms durchwinken.
Vorbei am Wartegedränge vernahm die voraneilende Frau plötzlich ihren Namen aus der passierten Menge. ‚Miss Lindemann‘ wurde ihr vonseiten an einer Tribünenwand lehnender Männer nachgerufen: „Miss Lindemann, was machen Sie denn hier? Ausgerechnet Sie inmitten dieses auf Krawall gepolten Schuppens?“ Verdutzt hielt sie inne, ging neugierig ein paar Schritte rückwärts, um zu erfassen, ob die Männerstimme demjenigen gehörte, den sie spontan assoziiert hatte. Mit erstaunter Miene, die vermitteln sollte, dass Zeit knapp sei, drehte sie sich dem Sprecher zu, schaute stumm aufwärts. Ein schlanker, schon älterer Mann in hellblauem Hemd und altmodischen Hosenträgern, einen Pappbecher in der Hand schwenkend hatte seine Kundin von vor einem Jahr entdeckt.
„Noch nicht unter Fittichen, Miss Lindemann? Ach, wäre ich nur jünger ... Was machen Sie denn hier im hintersten Scranton, und dazu noch spätabends in solch einer verloderten Wrestlinghalle? So was ist doch kein Platz für Sie, oder hab’ ich da was verpasst?“
„Immer noch ganz der Alte, was? Sie sitzen doch sonst in Big Apple hinterm Schreibtisch wie festgeleimt?“
„Festgeleimt? Ja, sicher, warte, dass wer eintritt und sich einen fahrbaren Untersatz leistet. Sonst, nur gestern und heute nicht! Ihre Bissigkeit scheinen Sie ja in dem einen Jahr nicht verloren zu haben, wie? Fährt er wenigstens gut, Miss Lindemann?“
„Auch noch samstagabends dieselben Fragen? Muss man so was in Ihrer Branche eigentlich auswendig lernen?“
„Oh, nein, Miss Lindemann! Dass Sie sich für ausgeschlagene Zähne und Platzwunden interessieren, hatten Sie mir gar nicht erzählt.“
„Ich Ihnen nicht erzählt? Ach, Mister …?“
„Cummings! Wohl unser Schicksal. Unsereinen behält man nicht. Kein Jahr, und schon wird das Blatt mit unserer Telefonnummer aus dem Notizbuch herausgerissen.“
„Oh, so würde ich das nicht sehen. Wenn der Rover schrottreif gefahren sein wird, erinnere ich mich wieder Ihrer, versprochen! Nur, die Zeit, wie fast überall im Leben, drängt.“
„Das waren Sie doch vorhin, nicht? Ganz anders, als ich Sie mir vorgestellt hätte. Ist doch nicht schlimm, wenn mal einer zu Boden geht! Kratzer, blauer Fleck, und weg!“
„So, wie haben Sie sich mich denn vorgestellt?“
„Sie, und dieser muskelbepackte Wrestler? Sie sind doch nicht mit dem Rover die ganze Strecke von Boston bis Scranton runtergefahren?“
„Ach, Mr. Cummings, das passt jetzt gar nicht. Ich muss dringend nach Melon Jim sehen. Wir können ja wieder telefonieren, wenn ich einen Neuen brauche. Vorerst aber bestimmt nicht! Fährt übrigens prima – mein Rover.“
„Natürlich, Miss Lindemann, Marotte von uns, überall und zu jeder Zeit zu akquirieren. Ja, was wollte ich sagen, der Wrestler mit der zerquetschten Melone, Wahnsinn? Sehen Sie nur nach ihm, ha, ha, und grüßen Sie ihn von mir. Wir fänden bestimmt etwas Passendes in seiner Größe! Visitenkarte?“
Als der Automobilverkäufer kurz hinter sich griff, seiner früheren Kundin mit seinem Pappbecher zuprosten wollte, war sie schon in der vorbeiziehenden Menge verschwunden.
„Wer war denn das, Ken?“, fragte, Richtung Ring guckend, ein glatt rasierter Schlipsträger über die Schulter. „Sieht ja hübsch aus, die Miss! Ist die vielleicht noch zu haben?“
„Wer, die Lindemann? Hast wohl nicht zugehört, was? Zum Abschminken, und für uns Schönen zu clever. Für die musst du einen Kurs extra mit Prädikat ablegen! Möchte nur wissen, was so eine in einer Wrestlinghalle unter lauter Schwachköppen und Angebern wie uns beiden zu suchen hat? Im wirklichen Leben verkehrt die mit der Hautevolee.“
„Wall Street?“
„Falsch? Die bei Minusgraden noch Mäuse machen!“
„Militär?“
„Nicht ganz! Nicht Leichen! Mäuse – das aber milliardenfach.“
„Rüstung. Deine kesse Lady ist doch nicht etwa ein Weißkittel, die Puffpaffs und Haumichdraufs zusammenschraubt?“
„Nein, könnte zur bekannten Nylonfraktion gehören, wenn sie nicht anders drauf wäre, als alle, die dir mal begegneten. Dass sie den ganzen Tag nur Kaffee macht und sich einen englischen Sportwagen der Extraklasse leisten kann, brachte ich schon damals in keinen überzeugenden Zusammenhang. Junge Misses, wie sie, ledig, attraktiv, zu viel Selbstbewusstsein und jede Menge Stolz begegnen einem nur, wenn man die erlesensten, superfeinen Karossen verhökert. Ausgelesener Geschmack und äußerst temperamentvoll! Musst mal hören, wenn sie spricht. Du glaubst, sie hätte manche Worte für dich erfunden, so beschlagen kann sie sein.“
„Hm, das kann auch an deiner miserablen Schulbildung liegen.“
„Steuer, Farbe, Lack - alles musste bei der bis aufs i-Tüpfelchen stimmen. Kannst du es ihr nicht besorgen, hast du bei ihr unweigerlich verschissen. Musste mehrmals Abbitte leisten, damit sie mir wieder ihre Aufmerksamkeit schenkte.“
„Ach, hör auf! Aufmerksamkeit? Sitzt an der Quelle, und trotzdem fehlt dir das gewisse Gespür, dir so eine kesse Lady gefügig zu machen, Unfug, sag‘ ich.“
„Wenn ich‘s dir doch sage. Eh du dich versiehst, winkt sie dir zum Abschied an der Officetür. Bis du sie wieder auf der Matte hast, hast du dir die Finger wund gewählt.“
„Was für ‘nen Rover hast du ihr denn verhökert?“
„Was schon? Wer Rover bei uns bestellt, will Außergewöhnliches. Das weißt du, das weiß ich!“
„Angeber! Eine spätpubertäre Miss! Konntest du nicht vom Fließband ihr was aufschwatzen, jedenfalls was Amerikanisches? Ausländische Wirtschaftserzeugnisse auf unseren Straßen brummen zu sehen, ist so demütigend.“
„Nein, Miss Lindemann wollte einen britischen Rover! Nicht irgendeinen, sondern einen ganz Bestimmten, welcher ihr, wie vorgestellt, aus England auch fahrbereit nach Monaten geliefert wurde!“
„Bin ich froh mit meinen Ford-Kunden! Von denen braucht keiner sich was vorzustellen, denn die kommen und gehen wieder genügsam. Fährt doch alles sowieso geschniegelt und gestriegelt vom Fließband.“
„Äußerst seltene Kundenkategorie, fast schon erlesen. Erst recht bei ihrem Alter! Mit Marke und Liste voller sich vorgestellter Details kam sie zu mir ins Büro. Ein Sportwagen sollte es sein. Nur wer kauft sich einen Sportwagen im Winter? Und dass, wenn es draußen schneit, friert, als wollte der Weihnachtsmann Eskimo werden? Einen Rover Jet 1 mit Gasturbinenantrieb! Sie hätte das Ding im Herbsturlaub am Sunset-Boulevard in Los Angeles vorbeifahren sehen, und sich spontan in ihn, wohlgemerkt, in einen Sportwagen, verliebt.“
„Ungewöhnlich bei jungen Misses, dass sie sich Autoschnauzen krallen.“
„Das hat sie wirklich mir erklärt! Neu, nach ihrer Façon – sie könne es sich leisten.“
„Hat sie eben Glück, dass sie nicht in Detroit arbeitet. Dann wäre sie meine Kundin geworden, und ich wäre viel schneller mit ihr fertig gewesen! So ein Ford ist jede Meile wert!“
„Da irrst du dich aber gewaltig, mein Freund. Was die will, setzt sie auch durch, egal wie groß der Widerstand ist. Als sie zuerst in unseren Laden kam, vor meinen Schreibtisch trat und sich vorstellte, dachte ich an Irrweg und Gebrauchtwagenhändler. Eher an was Kleines, leicht zu Steuerndem, ohne Schrammen Einzuparkendes, und so. Als sie mir dann ihren Karossenwunsch in allen Details auseinanderdividierte, war ich so was von den Socken! Was meinst du, wie oft ich bei Rover im englischen Coventry transatlantisch anrufen musste, nur um das eine oder andere Detail mit denen abzustimmen? Allein das Dunkelgrün des Lacks. Wie viele Ferntelefonate es brauchte, bis der anspruchsvollen Dame der Farbton passte? ‚Britisch Racing Green‘, wer weiß denn so was auf Anhieb?“
„Ich, aber wer kann sich das noch leisten – Farbton von Autolack? Sie ist doch gerade mal dreißig und so viel Kröten verdient so eine doch auch noch nicht?“
„Halt, die Lindemann schon! Hast ja gehört, wenn sie will, kreischt sie über alle Köpfe hinweg einen angezählten Wrestlergreis wieder auf die Beine. Als ich über eine ihrer unverzichtbaren Besonderheiten den Kopf schüttelte, drehte sie sich postwendend um, verschwand kurzerhand durch die Ladentür in der vorbeiziehenden Fußgängermenge. Abends, kurz vor Ladenschluss klingelte das Telefon und ihre ausgelassen, heiter klingende Stimme war am Apparat. Sie entschuldigte sich, könne es nicht mehr erwarten, den Rover selber zu lenken, sei eben temperamentvoll, manchmal allerdings auch launisch! Zwei Charakteristika, die für ihren Job zwingend notwendig seien, um ‚nicht unterzugehen‘, wie sie sich damals ausdrückte. Durch die Blume erzählte sie mir dann genauer – wohl aus ... ach, was weiß ich, was für eine Art Job das in der Rüstungsbranche sei. Sie war vor ein paar Monaten zur Sekretariatsleiterin eines angesehenen Rüstungsunternehmens in Boston aufgestiegen, stell dir das mal vor. Von wegen spätpubertär.“
„Sekretariatsleiterin, Mann. So jung, an so was kommen doch sonst nur die mit den orthopädischen Strümpfen. “
„Irrtum, wie du siehst, geht’s auch anders. Wir hatten uns schon verabschiedet, als sie mich fragte, ob ich mich nicht über ihren Namen gewundert hätte.“
„Über ihren Namen gewundert?“
„Ja, sie schreibe sich Lindemann mit Doppel-n, erzählte sie mir ohne Umschweife. Sie hätte sich dagegen entschieden, ihren Nachnamen zu amerikanisieren. Überall würde sie sonst gefragt werden, ob sie Deutsche sei, nur nicht von mir. Weswegen, stellte sie mich gleich zur Rede.“
Einigermaßen verstört fragte ich sie daraufhin, ob sie denn Deutsche sei. Eine Kraut-Lady, und mir den Kopf verdrehen? Nur, weil sich mich darauf aufmerksam machte, natürlich. Über ihren unamerikanischen Nachnamen stutzte ich zwar etwas bei der Vertragsaufsetzung, aber als dann die erste Anzahlung überwiesen wurde, war das Thema restlos gegessen.“
„Deine Miss Lindemann ist wahlberechtigte amerikanische Staatsbürgerin und Tochter deutscher Emigranteneltern, in den USA geboren und aufgewachsen, stimmt‘s?“
„Richtig getippt! Wenn ich mich richtig erinnere, geboren als Tochter deutscher Einwanderer oben in Wisconsin, lebt und verdient in Boston.“
„So was soll vorkommen. Deine finanzkräftige, aber etwas rätselhafte Kundin ist bestimmt nicht die Einzige, die im Land unbegrenzter Möglichkeiten an der deutschen Schreibweise ihres Nachnamens hängen bleibt. Möchte nicht wissen, wie viel Schmidt, Schmitz, Schmied und Schimmelpfennig zwischen New Hampshire und Kalifornien in den Adressbüchern stehen. Wieso hatte sie dich überhaupt danach gefragt? Sie hat doch schon ihren Spitzenjob.“
„Weiß nicht, sie hatte es erwähnt, als hadere sie noch mit ihrer Anerkennung.“
„Anerkennung, was ist denn das für eine? Legt sich automobilen Luxus zu, mit dem sie auf jedem Boulevard, auf jedem Highway ins Auge sticht, aber sorgt sich um ihren deutsch klingenden Nachnamen? Du hattest doch bestimmt abgewiegelt und ihr zu verstehen gegeben, dass sie in den USA heißen könne, wie sie wolle, wenn sie nur den Zaster pünktlich hinblättere.“
„Nein, in dem Moment, so kurz vor Ladenschluss und die plötzliche Trübung ihrer Stimme. Sie tat mir leid.“
„Oh, Mitleid, vielleicht auch bei den Platzwunden der nächsten Fights? Ihr ist es egal, an wen du weiterverkloppst. Macht ganz schön was her, wie sie durch die Halle flitzt.“
„Vielleicht hatte sie sich vorher mit ihrem Bruder gestritten, ach, was weiß ich?“
„Mit ihrem Bruder, willst du mir hier und jetzt ihre Familiengeschichte entwickeln? Von einer Kundin aus dem letzten Jahr? Wieso sollte sich denn ausgerechnet ihr Bruder am Nachnamen seiner Schwester stoßen? Der muss ihn als Produkt seines Erzeugers doch erst recht tragen, oder? Lindemann, der Männliche.“
„Nein, Lindemann heißt der Bruder nicht. Lindy – er hat den Nachnamen aus Karrieregründen amerikanisiert.“
„Lindy, glaub‘, dem hab‘ ich schon mal gehört, nur in anderer Beziehung, aber in welcher?“
„Genau, ihr Bruder hatte mir nach Wochen nämlich Dampf gemacht, mich mit Rover direkt in Verbindung zu setzen! Bei Farbunstimmigkeiten der Bezüge, und später, als sich die Lieferung verzögerte.“
„Ihr Bruder rief dich an? Die beiden hatten ihre Familienbande ziemlich weit für ‘nen Autokauf gespannt, findest du nicht? Ich jedenfalls mag so was nicht, wenn sich jemand Drittes ins Geschäft einmischt.“
„Anfangs wusste ich gar nicht, wer da in der Leitung war und worum es sich überhaupt handelte. Bis der Anrufer mir erklärte, er sei Dr. Lindy, der ältere Bruder von Miss Lindemann. Er wollte sich selbst mal melden und sicherstellen, dass der Rover sich nur leicht verzögere, unbedingt aber mit allen gewünschten Detailoptionen seiner Schwester von der Rampe liefe.“
„Hä, das klingt nach Staatsakt für die Kleine.“ Cummings sah nervös zum Ring.
„Gleich geht’s weiter. Komm‘, lass uns diesmal bis ganz nach vorne durchquetschen.“
Vor der Rangtreppe blieb der Freund plötzlich stehen, drehte sich zu Cummings um, blickte ihn entgeistert an und sprach erstaunt vor sich hin:
„Lindy, der Lindy? Ist das nicht der mit der Panzerabwehrwaffe, die dreiviertel der Nazilandser plattmachte?“
„Yeah, genau das ist er! Hat seine Schwester mir bei einem Besuch erzählt, welche Persönlichkeit ihr Bruder nach wie vor ist. Auch in Zeiten niederer Temperaturen eine ziemliche große Nummer als Rüstungsingenieur mit Sitz im gleichen Bostoner Rüstungsunternehmen wie Sie – natürlich höchste Ebene.“
„Moment mal – seine Schwester tanzte aus Boston an, du schiebst deine Stunden aber in Brooklyn?“
„Na und, als ob Entfernungen für moderne Menschen einen Unterschied ausmachen. Sie arbeitet im selben Gebäude wie ihr älterer Bruder, nur ein Stockwerk tiefer! Bibbern zurzeit ja alle vor Kälte im Rüstungssektor, deshalb assistierte der Bruder wohl seiner jüngeren Schwester beim Verhandeln mit unserer schmuddeligen Branche.“
„Na, ich könnte mir auch Schöneres denken. An uns vorbei rennen einige zu ihren Sitzplätzen. Der Gong zur zweiten Runde ertönt gleich, komm, lass uns beeilen.“
„Genug gequatscht! Dass aus der Menge auftauchende Ex-Kundinnen so viel Zeit beanspruchen? Ein zerknirschter Wrestlingfan, dem ich noch einen Deal andrehen könnte, wäre mir heute Nacht lieber. Lindy, nicht zu fassen!“