Читать книгу Die Stadt unter dem Land - Ralph G. Kretschmann - Страница 10
5.
ОглавлениеJasmin Dreyer konnte sich nicht erinnern, wann sie sich das letzte Mal so schlecht gefühlt hatte. Sie erwachte mit einem fauligen Geschmack im Mund und wusste nicht, wo sie war. Als sie sich aufsetzte, dröhnte ihr Kopf, als läuteten die Glocken von Sankt Michaelis Sturm, und ihr war augenblicklich schlecht. Der Geruch von Erbrochenem hing unterschwellig in der stickigen Luft. Der Eimer neben dem Bett verhieß nichts Gutes. Vorsichtig schwang sie die Beine aus dem Bett und schlug die Decke zurück. Erschrocken stellte sie fest, dass sie halbnackt war. Sie trug nur Socken und ihren Slip. Was war geschehen? Dass sie am Grindel in eine Bar gestolpert war, blieb vorerst ihre letzte Erinnerung. Da hatte sie auch schon gut getankt gehabt.
Offenbar war sie noch weiter gezogen und dann im Bett irgendeines Kerls gelandet … oder nicht? Sie konnte sich einfach nicht erinnern, was dann noch so alles passiert war. Und sie konnte ihre Kleidung nicht finden, so sehr sie sich auch umsah. Jasmin sah ein, dass es keinen Sinn hatte, weiter darüber zu grübeln, was eventuell geschehen war, also wickelte sie sich die Bettdecke um die Schultern und erhob sich sehr vorsichtig. Ihr Magen revoltierte, und nur mit Mühe konnte sie verhindern, dass er sich umstülpte.
Sie ging zur Tür und öffnete sie im Schneckentempo. Der Blick in den Flur, der vor ihr lag, verdeutlichte ihr immerhin, wo sie sich befand. Sie kannte diese Wohnung. Es war die von Werner Graf …
War das nun ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? Verdammt, fluchte sie still in sich hinein, was hast du nun schon wieder angestellt? Sie erinnerte sich schwach an den Grund ihres Besäufnisses. Sie hatte diesem dämlichen Doktor Lindner den Job vor die Füße geschmissen. Danach hatte sie angefangen, sich zuzuschütten.
Jasmin drückte die Decke gegen ihren Oberkörper und trat in den Flur. Rechts herum lag das Wohnzimmer.
„Na? Geht‘s wieder?“ Werner Graf saß in seinem Sessel, vor sich einen dampfenden Kaffee, in der Hand eine glimmende Zigarette und aus der Stereoanlage klang leise ein Song, den Jasmin irgendwoher kannte. Pink Floyd? Dark Side of the Moon? Das passte irgendwie. „Willst du einen Kaffee?“
Jasmin nickte, und ihr Kopf beantwortete die Bewegung mit lautem Pochen. „Gern!“ Ihre Stimme klang, als habe sie vierzig Jahre lang den Blues gesungen, kratzig, rau und belegt.
Sie ließ sich zögernd auf die Couch sinken.
Graf erhob sich und grinste breit. „Dann werd‘ ich dir mal einen brauen“, sagte er und ging aus dem Raum. Jazz hörte ihn in der Küche werkeln und versuchte, sich zu erinnern, was in der letzten Nacht passiert war, nachdem ihr der Film gerissen war. Hatte sie sich mit Graf eingelassen? Sie war fast nackt in seinem Bett aufgewacht, und das ließ doch einige Vermutungen zu. Graf war nett, sympathisch sogar, und er sah für einen Kerl in seinem Alter auch wirklich gar nicht so übel aus, aber er war so alt … er könnte ihr Vater sein!
Werner Graf kam mit dem frisch gebrühten Kaffee zurück und stellte ihn vor Jasmin hin. „Mit zwei Löffeln Zucker. So magst du ihn doch, richtig?“
Sie nickte, und ihr Kopf protestierte sofort, ebenso wie ihr Magen. „Danke.“ Sie musste sich zu den ersten Schlucken zwingen, aber der heiße Kaffee tat ihr gut. Graf hatte sich wieder gesetzt und eine neue Zigarette gedreht. Die andere war im Ascher verglüht.
„Hab ich mich sehr daneben benommen?“, fragte sie, nachdem sie die ersten Schlucke getrunken und ihr Magen sich halbwegs beruhigt hatte. Erwartungsvoll sah sie zu Graf hinüber. Dieser lachte leise. Das Make-up um Jasmins Augen war verrieben, und sie sah aus wie ein Häufchen Elend. „Ging so. Aber du hast alles vollgekotzt. War wohl doch ein Glas zu viel, gestern.“
Jasmin lief rot an. „Tut mir echt leid …“, sagte sie kleinlaut und sank in sich zusammen.
„Musst du dich nicht für entschuldigen, mien Deern“, meinte Graf lächelnd. „Glaubst du, das ist mir noch nicht passiert? Was glaubst du, was ich alles angestellt habe, als ich noch jünger war.“
Jasmin lächelte schmal. Es war süß, dass Graf versuchte, ihr sozusagen Absolution zu erteilen, aber das änderte nichts an ihren Kopfschmerzen und dem furchtbaren Gefühl in der Magengegend.
„Und ich finde, du hattest einen guten Grund, dich zu besaufen.“ Graf trank von seinem Kaffee und zündete sich die Selbstgedrehte an.
„Danke.“ Jazz deutete auf die glimmende Zigarette zwischen Grafs Fingern. „Kann ich auch eine haben?“
„Klar!“ Graf schob ihr das Päckchen Tabak und die Blättchen hinüber.
„Ich kann immer noch nicht richtig drehen …“, bemerkte Jasmin schwach und schaute ihn bittend an. Wortlos begann er, eine Zigarette zu rollen, die er Jasmin reichte, und gab ihr Feuer. Jasmin beugte sich vor, um die Spitze der Zigarette über die Flamme des Feuerzeugs zu halten, und zog. Dabei verrutschte ihr die Decke und entblößte ihre Brust. Sofort lief sie rot an und bemühte sich, die Decke wieder hochzuzerren.
„Na, na! Hab ich gestern schon gesehen“, sagte Graf und ärgerte sich sofort über den väterlichen Unterton.
Jasmin runzelte die Stirn. „Wir haben doch nicht etwa …?“
„Haben wir nicht, keine Sorge!“, gab Graf zurück. „Aber ich konnte dich ja schlecht in deiner Kotze liegen lassen. Ich hab` deine Jeans und das Hemd gewaschen. Beide hängen in der Küche auf dem Wäscheständer und müssten eigentlich bald trocken sein. Willst du so lange ein Hemd von mir überziehen?“ Jasmin nickte bleiern. Nur keine heftigen Bewegungen!
Graf ging und holte eines seiner Oberhemden. Er hätte ihr auch ein T-Shirt von sich geben können, aber das würde eng anliegen, und er hatte fürs Erste genug Brust gesehen.
Er gab Jazz das Hemd und ging in die Küche, um einen neuen Kaffee zu brühen. Als er wiederkam, schloss sie eben den letzten Knopf. Oder wenigstens den, den sie als letzten zuknöpfte, denn oben stand das Hemd noch weit offen. Graf verdrehte die Augen und versuchte, die Gedanken zu vertreiben, die der Anblick hervorrief. Er stellte die Tassen mit frischem Kaffee hin und setzte sich.
Jasmin hatte ihre Tasche entdeckt, die noch immer neben der Couch stand, dort, wo sie sie am Vorabend hatte fallen lassen. Sie hob die Tasche auf und begann, darin zu kramen. Hatte sie nicht irgendwo noch eine Ibuprofentablette gehabt?
„Suchst du etwas?“, fragte er.
„Ich glaub, ich hab da noch eine Kopfschmerztablette …“, murmelte die junge Frau, ohne den Blick zu heben.
„So schlimm?“, meinte Graf und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Ich habe Aspirin da. Soll ich dir eine holen?“
„Wenn du mir sagst, wo die sind, dann hole ich mir selbst eine“, schlug Jasmin vor, die nicht wollte, dass Graf schon wieder für sie aufstand.
„Im Bad, im Spiegelschrank, zweite Schublade von oben“, erklärte er.
Jasmin schob sich vom Sofa und verschwand im Flur. Ihre Pobacken blitzten unter dem Oberhemd hervor wie zwei … Verdammt! Er schloss die Augen und seufzte. Das war alles zu viel für einen alten Mann, sagte er sich.
Mit einem Blister Tabletten in der Hand erschien die junge Frau wieder. Sie drückte eine der Tabletten aus der Verpackung und spülte sie mit einem Schluck Kaffee hinunter. „Danke, Werner.“
„Da nicht für!“ Graf wusste genau, wie sie sich fühlte. Jasmin begann damit, die Sachen, die sie aus ihrer Tasche herausgeholt hatte, wieder in sie hineinzustopfen. Da war auch ein vergilbtes Papier, noch fast ganz glatt. Sie starrte drauf und runzelte die Stirn. Das Blatt … wo kam das denn her?
Sie untersuchte es skeptisch, und langsam kam die Erinnerung zurück. Es war zu Boden gefallen, und sie hatte es aufgehoben und auf ihre Mappe gelegt. Als sie überhastet ihren Job diesem Idioten Lindner vor die Füße geschmissen hatte, hatte sie die Mappe mitsamt dem Blatt in ihre Tasche gestopft. Sie musste es zurückbringen …
„Was hast du denn?“, fragte Graf nach einer Weile. Für Minuten saß Jasmin da und blickte auf das augenscheinlich leere Blatt Papier.
„So schweigsam?“
Jasmin hob den Blick und sah Graf an. Sie hatte nicht bemerkt, wie lange sie wortlos dagesessen hatte.
„Oh … ich hab nur … aus Versehen das hier eingesteckt. Ist aus einem der Bücher aus Wigbolds Nachlass. Aus einem, das ich gerade gescannt habe, als mir dieser Kretin auf den Zeiger gegangen ist.“
„Zeig mal“, sagte Graf, beugte sich vor und nahm Jasmin das Blatt aus der Hand. Er musterte das Papier eingehend. Auf dem gelblichen Grund waren blasse bläuliche Zeichen zu erkennen. Dicht an dicht schien es damit beschrieben zu sein.
„Das kommt mir irgendwie bekannt vor“, meinte er irgendwann und reichte Jasmin das Papier zurück. „Ein altes Pergament, geheimnisvolle Zeichen und ein Rätsel. Ist das wieder so etwas?“
„Das wäre schon seltsam“, befand Jasmin. „Aber wer weiß?“ Sie hielt das Blatt hoch, gegen das Licht, so dass es halb transparent wurde. Sie erkannte, dass das Papier von beiden Seiten beschrieben war, aber die verblasste Schrift war zu dünn und undeutlich, als dass sie mehr als einzelne Buchstaben hätte ausmachen können. „Ich müsste es scannen. Vielleicht kann ich dann mehr draus machen.“
„Dann mach es doch!“, sagte Graf und grinste süffisant.
Jasmin sah ihn mit gerunzelter Stirn an. „Hast du dir auch einen Scanner zugelegt?“
Graf nickte. „Jawoll, so ist es. Werner Graf ist auf der Höhe der Zeit, technisch gesehen“, bestätigte Graf. „Ist da drüben …“
„Gut.“ Jasmin legte den Kopf auf die Seite. Langsam ließen die Kopfschmerzen nach. „Aber hast du auch das richtige Programm? Das, mit dem ich arbeite?“
„Öh …?“, machte Graf und seufzte dann. „Ich muss noch so viel lernen.“
Jazz zuckte mit den Schultern. „Da bist du nicht der Einzige.“ Sie schob das Blatt über den Tisch zu Graf hinüber. „Scann es, ich mache den Rest zu Hause.“ Sie kramte kurz in ihrer Tasche und reichte Graf einen kleinen schwarzen USB-Stick. „Speichere es hier drauf, dann kann ich den Scan mitnehmen.“
Während Graf im Arbeitszimmer verschwand, ging Jasmin in die Küche. Wie Graf gesagt hatte, hingen ihre Jeans und ihr Shirt über dem Wäscheständer. Das Shirt war schon völlig trocken, die Jeans nicht so ganz, aber Jasmin zog sie trotzdem über. Die restliche Feuchtigkeit würde schon verdunsten, wenn sie die Hose trug.
Graf kam recht schnell zurück und gab Jasmin Stick und Papier zurück. „So, ist gespeichert. Ich muss noch in die Stadt … kommst du mit oder willst du dich noch erholen?“
„Geht schon wieder. Ich begleite dich bis zur U-Bahn.“
Sie reichte Graf das Hemd, das er ihr geliehen hatte. „Und danke noch mal für deine Hilfe …“
Graf lächelte. „Gern geschehen.“
*
Der Blick auf die Elbe war von Nebel und feinem Sprühregen verhangen, als Brodersen aufstand. Wenn das Wetter keine Kapriolen drehte, war der Ausblick überwältigend. Das musste er auch sein, bei dem Preis, den sein Appartement gekostet hatte. Er hatte fast eine halbe Million für die sechs Zimmer mit Bad und Balkon zahlen müssen. Und dabei hielt sich der Luxus der Wohnung selbst durchaus im Rahmen. Seinen Kollegen hatte er erzählt, er habe geerbt. Dem Finanzamt gegenüber hatte er Erspartes und geschenktes Geld von Verwandten geltend gemacht. Als Sicherheitsbeauftragter verdiente er nicht schlecht, aber nicht gut genug, um sich mit kaum vierzig Jahren solch eine teure Wohnung kaufen zu können.
Brodersen verdiente sich etwas dazu, um sich diesen Luxus und andere Dinge leisten zu können. Dabei half ihm, dass er absolut skrupellos war. Diebstahl, Einbruch, Raub und, wenn gefordert, Schlimmeres waren für ihn ein Nervenkitzel, für den er auch noch bezahlt wurde – und das nicht schlecht! Die Wohnung mit Blick auf die Elbe in Neumühlen und der Ferrari in der Garage waren dafür der schlagende Beweis.
Als Sicherheitsbeauftragter kannte Brodersen jede Sicherungsmethode, jedes Schloss und jede Alarmanlage, als hätte er sie selbst entworfen. Er war bei der Bundeswehr in einer Spezialeinheit gewesen, hatte so gut wie jede Kampfausbildung erfolgreich absolviert und dabei geholfen, so manchen Ganoven hinter Schloss und Riegel zu bringen. Bei der Polizei war er bei undurchsichtigen Einbrüchen ein gern zu Hilfe gerufener Experte und genoss den Ruf eines integren Bürgers.
Was konnte besser sein, wenn man in Wirklichkeit auf der anderen Seite des Gesetzes stand?
Brodersen genoss den frischen Espresso aus seiner sündhaft teuren De'Longhi-Kaffeemaschine. Früh am Morgen gab es für ihn nichts Besseres. In einer Stunde musste er in der Firma sein. Zeit genug, um in Ruhe wach zu werden und seine Mails zu checken. Unter den üblichen E-Mails befand sich eine, die sein Herz höher schlagen ließ.
„25.000“, stand da, und dahinter eine Zahlenreihe. Der Code sagte ihm, dass an einer bestimmten Stelle ein neuer Auftrag auf ihn wartete, für den er fünfundzwanzigtausend Euro kassieren würde. Die Zahlen sagten ihm auch, dass es sich dabei um einen Einbruch handelte. Wo er einbrechen sollte und was er stehlen sollte, das würde er an der bezeichneten geheimen Stelle erfahren, wo üblicherweise ein Umschlag auf ihn wartete, der weitere Informationen enthielt. So etwas nannte man wohl einen „toten Briefkasten“, obwohl es sich nicht um einen Briefkasten handelte, sondern um eine Toilette in der Innenstadt.
Brodersen fuhr den Rechner runter und kleidete sich an. Den Ferrari ließ er in der Garage. Zur Arbeit fuhr er mit dem HVV. Es war immer wieder erfrischend, bis zu den Landungsbrücken mit der Elbfähre zu fahren und von dort mit der U3 bis zum Rödingsmarkt. Das war schneller und einfacher, ganz besonders wenn man bedachte, wie schwierig es war, in der Innenstadt einen passenden Parkplatz für seinen italienischen Sportwagen zu finden.
Brodersen fuhr heute ein paar Haltestellen weiter. Am Rathausmarkt stieg er aus und ging durch die Unterführung zur Europapassage hinüber. Dort suchte er in der untersten Etage die Toilette auf. Er wartete, bis eine bestimmte Kabine frei war, schloss sich dort ein und öffnete den Toilettenpapierhalter. Ein leichter Druck an einer bestimmten Stelle, dann öffnete sich das vermeintlich eingemauerte Fach. Dahinter befand sich ein schmales Versteck und in diesem ein Zettel. Brodersen nahm ihn an sich, steckte ihn ungelesen ein und verließ die Kabine und die Toilette. Die Nachricht konnte er später noch lesen.
Jetzt wurde er in der Firma erwartet. Ein Kunde hatte sich angemeldet, der ein Schließsystem mit Alarmanlage für seine Villa in Pinneberg kaufen wollte. Ein lukrativer Auftrag, bei dem der Firmenchef seinen Sicherheitsexperten unbedingt dabei haben wollte. Und Brodersen interessierte sich brennend für diesen Kunden.
Der andere Auftrag war Fünfundzwanzigtausend wert, mehr musste er vorerst gar nicht wissen. Er erledigte immer eins nach dem anderen. Damit war er stets gut gefahren, und so würde er es auch weiterhin halten.