Читать книгу Die Stadt unter dem Land - Ralph G. Kretschmann - Страница 18
13.
ОглавлениеWieder eine Nacht, die mit einem Alptraum endete. Onno Becker hatte sein Frühstück aus Kopfschmerztablette und Kaffee hinter sich und versuchte, die Erinnerungsfetzen zu sortieren, die vom Traum übrig waren.
Er war auf einem Schiff gewesen, vielleicht glich es auch mehr einem Boot. Männer hatten gerudert. Windstille und das leise Plätschern der Wellen waren überlagert worden von dem Geräusch der eintauchenden Ruder.
Dann waren sie am Strand angekommen. Bootsrümpfe schleiften über den nassen Sand. Keiner der Männer machte Geräusche. Eine Möwe kreischte, und dann brach die Hölle los. Feuer und blitzender Stahl um ihn herum. Schreie von angsterfüllten Frauen und wütenden Männern. Rotes Blut rann über seine Finger, warm, klebrig …
Das letzte Bild war das von brennenden Schiffen in einem kleinen Hafen, auf dessen Häuserfronten die zuckenden Flammen groteske Bilder malten.
Onno hatte sein Shirt wechseln müssen, so nass geschwitzt war es gewesen. Das Haar klebte ihm an der Stirn, und er überlegte für einen kurzen Moment ernsthaft, ob er sich einen „Mecki“ rasieren lassen sollte, doch über den Geruch des frischen Kaffees vergaß er den Gedanken.
Er fragte sich, was diese Träume zu bedeuten hatten. Sie schienen in irgendeiner Weise zusammenzugehören, aber es war, als seien sie wie Filmschnipsel in falscher Reihenfolge zusammengeschnitten worden. Onno erinnerte sich noch an Geschichten, die sein Vater erzählt hatte. Er hatte Tante Antje berichtet, die ein Spökenkieker gewesen sein soll. Onno hatte nie richtig zugehört. Das rächte sich nun, da er niemanden mehr hatte, den er fragen könnte. Vater und Mutter waren tot.
Die Grübelei brachte ihn nicht weiter, und der Kühlschrank musste dringend aufgefüllt werden. Onno zog seine Jacke über und machte sich auf den Weg ins Dorf. Den örtlichen Supermarkt mied er, soweit es ging. Fleisch und Wurst gab’s beim Schlachter, Brot in der Bäckerei, wobei es schon bezeichnend war, dass beide einem Harmsen gehörten und beide Stein und Bein schworen, nicht miteinander verwandt zu sein.
Einige Dinge bekam man aber in der Gegend nirgendwo anders als im Supermarkt, es sei denn, man nahm eine längere Fahrt in Kauf. Onno Becker war so gar nicht nach einer Fahrt nach Oldenburg oder Wilhelmshaven, nur um nicht in den Supermarkt gehen zu müssen.
Früher hatte es im Ort noch einen Schreibwarenladen gegeben, aber der hatte schließen müssen, als Computer die Herrschaft übernommen hatten.
Im Supermarkt wiederum arbeitete die Tochter der alten Dame, die nur wenige Jahre nach der Schließung ihres Schreibwarenladens gestorben war. Mareike Jensen hieß diese und war mehr als attraktiv. Sie war auch mehr als eine Dorfschönheit. Onno war schon seit Schultagen in sie verliebt, aber er hatte es ihr nie gestanden. Mareike war eine geborene Sievers und hatte Jan-Peter Jensen geheiratet. Jan-Peter war damals Onnos bester Freund. Gewesen. Denn er hatte sich an Mareike rangemacht, obwohl er gewusst hatte, was Onno für sie empfand.
Seitdem war Rieke, wie er Mareike stets nannte, für ihn tabu.
Ganz besonders, seit Jan-Peter auf See geblieben war.
Onno sammelte mit missmutigem Gesicht die Sachen ein, die er benötigte, und schob den Einkaufswagen zur Kasse, in der Hoffnung, es möge eine andere als Rieke an der Kasse sitzen. Er hatte Pech. Rieke saß an der einzigen offenen Kasse des Supermarkts und strahlte ihn aus ihren großen, braunen Augen freundlich an.
„Moin, Herr Becker, du siehst aber blass aus! Schlecht geschlafen?“
Onno nickte und brummelte etwas von Vollmond und Werwölfen, während er seine Einkäufe auf das Laufband legte. Rieke scannte die Waren und plapperte über den neuesten Dorfklatsch. Onno hörte nicht zu. Wie in Trance legte er die Sachen zurück in den Einkaufswagen, wo auch seine Beutel lagen.
„Einundzwanzigzweiundvierzig.“ Riekes Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Verwirrt sah er sie an.
„Was?“
„Einundzwanzigzweiundvierzig“, wiederholte Rieke und hielt Onno den Kaufbeleg hin. „Ich kann ja nichts dafür, dass die Preise steigen, nöh?“
„Ich hab Albträume“, sagte Onno, zog seine Börse und zählte das Geld ab.
„Äh, nee, Albträume? So richtig fiese mit schweißgebadet aufwachen und zittern?“ Rieke schüttelte sich und nahm Onno das Geld aus der Hand. Der nickte und steckte seine Börse wieder ein.
„So richtig fiese. Und verstörende.“
Frau Buhrmeester trat an das Laufband und begann, ihre Einkäufe darauf zu legen. Frau Buhrmeester war die Neugier in Person. Und sie war eine ebensolche Tratschtante. Rieke senkte ihre Stimme.
„Das musst du mir genauer erzählen. Ich komm vorbei. Heute um acht nach Feierabend?“
Onno nickte erneut, sah Rieke an, als habe sie ihm ein unsittliches Angebot gemacht, und schob seinen Wagen in Richtung Ausgang.
Er hatte immer nach einem Grund gesucht, Rieke einmal zu sich einzuladen. Er hatte immer Gründe gefunden, es nicht zu tun. Und nun hatte sie sich selbst eingeladen …
Er war den ganzen Nachmittag über nervös und grübelte, was er anbieten sollte, was schicklich war und was nicht. Er putzte Bad und Küche, die zwar nicht schmutzig, aber auch nicht grade blitzsauber waren. Der Wohnzimmertisch aus Eiche hatte Ringe und Flecken von Gläsern, die dort abgestellt worden waren und ihre Spuren hinterlassen hatten. Onno brauchte eine Weile, bis er das Polierwachs gefunden hatte, und polierte, bis keine Ringe mehr zu erkennen waren. Sogar einige Kratzer verschwanden dabei wie von Geisterhand.
Er rauchte eine Zigarette, und ihm fiel ein, dass auch die Aschenbecher noch nicht sauber waren. Also begann er, mit einer Plastiktüte bewaffnet, alle Aschenbecher im Haus zu leeren. Als er die Tüte in den Müll warf, hielt er inne. Was tat er denn da?
Als ob ihn das attraktiver für eine Frau wie Rieke machen würde!
Onno ging in den Garten hinaus. Es war trocken, und ein Hauch von Blütenduft lag in der Luft. Wolken zogen über den blaugrauen Himmel Ostfrieslands. Er liebte diesen Himmel. Mochten andere nach Italien oder Spanien fahren, nach England oder Frankreich … hier war es am schönsten! Langsam legte sich seine Unruhe.
Rieke würde um acht Uhr abends kommen. Warum sich also verrückt machen?
Aber das sagte sich so leicht. Onno ging ins Haus zurück. Mit den Händen tief in den Hosentaschen tigerte er rastlos durch die Räume. Vor dem Schwert, das er aus Hamburg mitgebracht hatte, blieb er stehen.
„Du sollst mir Glück bringen, weißt du, keine Albträume!“, sagte er leise, als ob ihn der Stahl der Waffe hören könnte.
Die Türklingel riss ihn aus seinen Träumen …
„Guten Abend … Sorry, hat einen Ticken länger gedauert!“ Rieke stürmte herein und ging direkt durch in die Küche. Sie kannte das Haus so gut wie er. Sie beide hatten einen großen Teil ihrer Jugend hier verbracht, zwischen den Birnbäumen von Oma Becker und den Kuchen von Onnos Mutter. Onnos Vater war zur See gefahren. Bis er eines Tages nicht mehr zurückgekehrt war …
Rieke nahm auf einem der Küchenstühle Platz.
„Endlich Feierabend!“ Sie rückte den Stuhl zurecht, stützte die Arme auf die Tischplatte. „Hast du was zu trinken?“
„Ich hab was zu essen …“, begann Onno, aber Rieke schnitt ihm das Wort ab.
„Nee, du, danke, lass mal! Nach diesem Tag brauche ich erst einmal was Hartes … Hast du einen Schnaps und ein Glas Limo oder Wasser für mich?“
Onno holte tief Luft. Das war ein etwas anderer Auftritt, als er sich gedacht hatte.
„Zitronenlimo oder Orange? Ich hab auch Cola … und Bier. Und was für einen Schnaps? Korn, Doppelkorn, Wodka, Kümmel oder lieber einen Ouzo?“
Ein breites Grinsen machte sich auf Riekes Gesicht breit. „Ouzo? Also, wenn du Ouzo hast … und dazu ruhig ein Bier. Ich hab morgen frei. Wochenende!“
Onno holte zwei Schnapsgläser und zwei Biergläser aus der Glasvitrine und stellte sie auf den Tisch.
„Becks, Jever oder Ducksteiner?“
„Duck! Ganz klar! Herr Becker, du hast Geschmack!“, flötete Rieke. Onno holte das Gewünschte und schenkte die Gläser voll.
„Prost!“, sagte er und kippte den griechischen Anisbrand.
„Hau weg, die Scheiße!“ Rieke stürzte den Schnaps hinunter und schob Onno den Stamper sofort wieder hin.
„Noch einen. Bitte.“
Onno schenkte ein, und sie tranken, er sein Bier, sie den zweiten Schnaps. Rieke wischte sich wenig damenhaft über die Lippen, seufzte tief und sah Onno lächelnd an.
„Ein Scheißtag heute im Laden. Nur Ärger. Mit den Kollegen, mit den Lieferanten, mit dem Chef. Und für nichts davon konnte ich was.“
Sie griff jetzt auch zu ihrem Bier. Onno beugte sich vor.
„Erzähl …“
Rieke berichtete lang und breit über missgünstige Kolleginnen, deren Stutenbissigkeit ihr das Leben schwer machte, weil ihr dauernd unterstellt wurde, sie hätte was mit diesem oder jenem. Dann war da der Chef, der alte Schürzenjäger, der sich keine schmutzige Redewendung entgehen ließ, und schlussendlich die normale Unfähigkeit, mit der ein jeder zu kämpfen hatte.
„Aber ich rede und rede und bin doch eigentlich gekommen, um dir zuzuhören, und nicht, um dir ein Ohr abzukauen!“ Rieke lachte verlegen, und Onno wurde warm. „Kann ich noch eins …?“ Sie wedelte mit der leeren Flasche.
Onno holte zwei neue Flaschen und schenkte auch Ouzo nach. Zwischendurch verschwand die Flasche immer wieder im Eisfach. Die Arbeit machte er sich gern. Eiskalt schmeckte der Schnaps einfach besser. Und ging leichter runter.
Rieke schien damit auch kein Problem zu haben. Die Ouzos und die Biere leerten sich. Onno berichtete von den Albträumen, die ihn in letzter Zeit verfolgten, von der Realitätsnähe dieser Träume und wie beängstigend sie waren. Auch wenn nichts Schlimmes geschah, hing ein Hauch von Tod und Verderben, von drohender Gefahr in der Luft.
Rieke hörte ihm zu, ohne ihn zu unterbrechen. Als er mit seinen Schilderungen offenbar fertig war, stand sie auf, holte die Flasche mit dem Ouzo und schenkte ein. Sie stellte die Flasche auf den Tisch, zwischen sich und Onno Becker, und setzte sich wieder.
„Ich sag dir jetzt mal was, Herr Becker! Ich habe eine Großcousine, die hat das zweite Gesicht. Sag jetzt nichts, ich hab‘s auch nicht glauben wollen, aber sie hat‘s! Ich war selbst … hab selbst …“ Sie räusperte sich. „Tut nichts zur Sache, erzähle ich ein andermal! Also, worum es geht, ist, dass sie das zweite Gesicht hat. Und sie hat mir mal geschildert, wie ihre Visionen oder wie man das nennen soll, so normalerweise ablaufen, wenn man da denn überhaupt von normal reden kann. Und das hat sich genauso angehört, wie das, was du mir da gerade erzählt hast.“
„Deine Großcousine hat auch Träume von Segelschiffen und Seeräubern, die so echt wirken, dass man denkt, gleich trennt einem einer den Kopp ab?“ Onno sah Rieke ungläubig an.
„Natürlich nicht! Aber diese Intensität, dass das alles so real wirkt, als sei man gerade mit dabei, das hat sie berichtet. Und dass sie sich dabei immer so komisch fühlt. Wie hat sie das noch ausgedrückt? Als ob man sich an etwas erinnert, was man lange vergessen glaubte. So oder so ähnlich.“
Onno nickte und hob sein Glas. „Ja, das kann ich unterschreiben. So könnte man das wohl sagen. Wie eine verschwommene Erinnerung, die einem wieder bewusst wird. Du meinst also, ich hab Visionen? Erzähl das bloß nicht in Marienhafe rum! Die halten mich sowieso für einen komischen Kauz, ich weiß das.“
„Ja, das tun sie“, bestätigte Rieke fröhlich und trank den Ouzo, den Onno aufmerksam nachgeschenkt hatte. „Und mich halten sie für eine männermordende Hippieschlampe. Und beides stimmt nicht. Na ja, wenigstens ermorde ich keine Männer!“ Sie lachte hell.
Sie griff in die Tasche ihrer Jeans und holte ein zerknautschtes Päckchen Feinschnitttabak hervor. Darin befand sich allerdings kein Tabak. Rieke baute ihr eigenes Gras an und rollte mit geübten Fingern einen kleinen Joint, während sie weiter über ihr Image im Dorf herzog.
„Willst du?“ Sie hielt Onno den fertigen Reefer hin, der ihn zögerlich nahm. „Du darfst ihn anrauchen“, meinte Rieke jovial.
Onno hatte nicht viel Erfahrung mit Gras, und die paar Male, die er an einem Joint gezogen hatte, waren nicht beeindruckend gewesen. Was sollte schon passieren mit Riekes selbst gezogenem Marihuana?
Drei Lungenzüge später war er eines Besseren belehrt. Was bei allen Heiligen hatte Mareike da gezüchtet?
Onno fühlte einen schier unbezwingbaren Lachreiz die Kontrolle übernehmen. Egal, was Rieke sagte, er fand es zum Brüllen. Sie rauchten, tranken und lachten, bis Rieke unerwartet zum Thema zurückkam.
„Ich könnte dich hypnotisieren …“
Schlagartig fühlte Onno sich wieder nüchtern.
„Ich bin ausgebildete Therapeutin und Homöopathin. Ich hab das gelernt. Vielleicht kann ich dir helfen.“ Sie streckte ihre Hand aus, ergriff Onnos, die auf dem Tisch lag, und drückte seine Finger. „Wenn du mir vertraust.“
Onno Becker sah seiner Jugendliebe in die Augen.
„Ich halte nicht viel von so was wie Hypnose, weißt du“, sagte er bedächtig. „Aber ich halte ‘ne Menge von dir, Rieke Siev… Jensen.“ Er löste seinen Blick von dem ihren und griff verlegen nach der Ouzoflasche.
„Dann heißt das Ja?“, hakte Rieke nach.
Onno schenkte ihrer beider Gläser voll bis kurz vor dem Überlaufen. Er schob der jungen Frau ein Glas hin und hob das andere.
„Ich vertraue dir. Aber erst drehst du noch einen von diesem Teufelszeug, das du da in deinem Garten angebaut hast, und wir machen die Flasche leer.“
„Was? Jetzt sofort?“ Rieke nahm ihr Glas in die Hand.
„Wenn nicht jetzt, wann dann?“, sagte Onno betont fröhlich, prostete ihr zu und kippte den Schnaps hinunter. Er hieb das Schnapsglas mit Vehemenz auf die Tischplatte, mit der Öffnung nach unten, schob seinen Stuhl nach hinten und erhob sich.
Rieke leerte ihr Glas ebenfalls und tat es ihm gleich.
„Wo willst du mich hypnotisieren? Wohnzimmer?“ Becker deutete auf die Tür, die in den Wohnraum führte.
Rieke zuckte mit den Schultern. „Mir recht. Spielt eigentlich keine große Rolle, wo wir das machen. Hauptsache, du fühlst dich wohl.“
„Dann Wohnzimmer!“
Rieke dirigierte Onno auf die Couch und zog für sich selbst einen der schweren Ledersessel heran. Sie setzte sich am Kopfende der Couch zu Onno. Becker lag da und beobachtete die junge Frau. Er mochte sie. Sehr. Kein Wunder, bei der Figur! Und bei dem Gesicht! Und bei dem Charakter. Onno gestand sich ein, dass er wohl voreingenommen war. Er hatte Mareike schon immer gemocht, schon in der Schule, als sie noch keine Brüste und er noch keine Brille hatte.
„Mach die Augen zu.“ Riekes Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.
Gehorsam schloss er seine Augen. Dunkelheit. Er spürte die Wirkung des Alkohols und auch die des Grases. War das gut, wenn man sich hypnotisieren lassen wollte? Oder vielleicht sogar kontraproduktiv? Er wollte Rieke fragen, aber sie kam ihm zuvor.
„Sei entspannt … ganz locker. Hör nur auf meine Stimme. Ich werde dich führen … Du bist müde. Deine Glieder sind schwer und wie Blei. Du bist völlig entspannt, ganz locker, und du hörst nur mich … meine Stimme …“
Onno fragte sich, was das bringen sollte. Ihre Stimme, okay, und müde war er ohnehin. Und halb betrunken und ein Viertel bekifft. Ihre Stimme … Riekes Stimme … so süß, so unglaublich klangvoll, liebenswert, vertraut …
Mareike lehnte sich zurück.
Das war ja nicht schwer gewesen. Onno war schneller in Trance gefallen, als sie gehofft hatte. Sie legte ihm eine Hand auf die Stirn und sprach leise, aber eindringlich zu dem liegenden Freund.
In Onnos Kopf tauchten die Bilder der letzten Nächte auf, aber sie waren frei von Angst, von Furcht. Die See …. Wellen spülten über ein Deck aus Eichenbohlen. Andere Männer, die sich mit der Takelage beschäftigten. Brecher über die Bordwand. Sturm. Ein Gefecht. Säbel und Schwerter schnitten durch die Luft und prallten mit hellem metallischem Klang aufeinander. Schüsse fielen. Männer schrien durcheinander. Manche gaben Befehle, andere brüllten ihre Schmerzen einfach in den Sturm hinein.
Und da war einer, der seinen Namen rief. Er hörte ihn, aber es war nicht sein Name, und doch wusste er, dass er gemeint war. Der Sturm heulte, der Gefechtslärm dröhnte in seinen Ohren. Er konnte den Namen nicht verstehen. Er musste näher zu dem Mann hingehen, der ihn rief, wenn er ihn verstehen wollte …
*
Manche Menschen sind unvorsichtig im Umgang mit dem Internet. Dass das auch einem Polizisten passieren konnte, freute Chukov ungemein. Es erleichterte ihm seine Aufgabe doch sehr. Dieser dämliche Bulle hatte allen Ernstes einen Link auf seinem Rechner, der ihn mit dem Computer im Präsidium verband! Mehr benötigte Chukov nicht. Das war wie eine offene Tür, fast schon eine Einladung!
Gut, ganz so einfach war es doch nicht. Die Tür war verschlossen und mit einem siebenstelligen Passwort gesichert. Siebenstellig! Schon nahezu eine Beleidigung. Er hatte da einen niedlichen, kleinen Algorithmus, der das ganz schnell erledigte. Aber dazu musste er sicher sein, dass der Computer auf der anderen Seite lief oder sich remote anschalten ließ. Und es war besser, wenn kein Mensch an dem Rechner arbeitete, wenn er sich daran zu schaffen machte. Chukov würde es in der kommenden Nacht versuchen. Tagsüber würde er den Bullen observieren. Wenn dieser sich dann in den Feierabend begab, würde er sich in seine kleine Einsatzzentrale begeben und dem Algorithmus erlauben, sich mit dem Passwort zu beschäftigen.
An dem heutigen Abend hatte Chukov schon eine Verabredung. Er selbst sah das als Geschäftstermin. Ein kleiner Zusatzauftrag, hatte es in der WhatsApp-Nachricht geheißen.
Das Chinarestaurant, das er als Treffpunkt genannt bekommen hatte, machte einen eher schmuddeligen Eindruck, als er aus dem Taxi stieg. Kleine graue Kacheln bedeckten die untere Fassade. Es sah aus, als habe jemand den Charme eines Fünfziger-Jahre-Badezimmers nach außen gestülpt.
Umso einladender wirkte das Lokal von innen. Ein klassisches Chinarestaurant, wie man es sich vorstellt. Mit goldenen Drachen, Trennwänden mit geschnitzten Tieren und Tuschezeichnungen des gelben Flusses an allen Wänden. Ein köstlicher Duft hing in der Luft und machte Appetit.
Chukovs Kontakt saß an dem hintersten Tisch, der abgeschirmt lag.
Die Frau war umwerfend. Eine klassische Schönheit, befand Chukov. Andere würden ihre Brüste als zu üppig und ihre Hüften als zu ausladend befinden, für Chukov war sie die Verkörperung der russischen Sicht auf die Schönheit. Ein schmales, edel wirkendes Gesicht mit hohen Wangenknochen und einem kleinen Mund mit vollen Lippen lächelte ihn an. Ihre Sprache war weich, und dem Tonfall nach kam sie aus dem Süden. Aber Chukov war Profi und hatte seine Mimik unter Kontrolle.
Mit gewohnt finsterem Gesichtsausdruck schob er sich auf die Bank der Frau gegenüber.
„Sie sind pünktlich. Ich schätze das.“ Ihre Stimme war so weich, wie Chukov noch keine gehört hatte. Diese Frau hätte allein mit ihrer Stimme viel Geld verdienen können, selbst wenn sie hässlich wie die Nacht gewesen wäre.
Sie schob ihm einen Umschlag aus braunem Papier zu, den Chukov unauffällig einsteckte.
„Ihr Honorar im Voraus. Mein Auftraggeber hat mich gebeten, Ihnen klarzumachen, dass diese Sache keinen Aufschub duldet.“
Das war doch immer so, dachte der Russe. Niemand hat heute noch Zeit für irgendwas. Damals, in der Sowjetunion, war das noch anders gewesen. Sie hatten alle Zeit der Welt gehabt und zum Teil Pläne verfolgt, deren Verwirklichung sich über Jahre hingezogen hatte.
„Ich habe Ihnen eben eine Mail geschickt. Im Anhang finden Sie weitere Instruktionen, wie Sie vorgehen sollten.“
Chukov knurrte abfällig. „Verzeihung, ich arbeite immer so, wie ich denke, dass es am besten ist. Niemand schreibt mir vor, wie und wann ich agiere.“
„Sie missverstehen mich. Es geht um Ablieferung und Zeiträume, nicht um ihr Vorgehen, was die Beschaffung angeht.“
Die Kellnerin kam und brachte die Karten. Chukov wählte die knusprig gebratene Ente mit acht Kostbarkeiten, dazu heißen Reiswein. Die Frau bestellte sich doppelt gebratenes Rindfleisch mit Bambus, und sie schloss sich dem Russen an und bestellte ebenfalls Reiswein. Sie schwiegen, bis ihre Gerichte gebracht wurden, und tranken den heißen Reiswein, den sie vorher servieren ließen.
Das Essen war hervorragend. Traditionelle Szechuanküche, ganz ohne Glutamat. Chukov konnte sich nicht erinnern, jemals so gut chinesisch gegessen zu haben.
„Es ist für meinen Auftraggeber wichtig, dass Sie diese Sache bis Anfang der kommenden Woche erledigt haben. Er erwartet am Montag Ihren Bericht. Am besten wäre es, wenn Sie das Gewünschte übergeben würden. Dann wird Ihnen eine Prämie von hunderttausend Euro gezahlt. Zusätzlich zum vereinbarten Honorar. Ich denke, das ist ein nicht unbeträchtlicher Anreiz, oder?“
Sie konnte perfekt mit den Stäbchen umgehen, die die Asiaten als Besteck nutzten. Chukov selbst hatte lange üben müssen, und so richtig wohl fühlte er sich mit diesen Stäbchen nicht. Messer, Gabel und Löffel waren ihm da doch lieber. Aber der Geschmack des Essens war ein wahrer Genuss!
„Finden Sie mich attraktiv?“ Die Frage kam unvermittelt, und Chukov hätte sich fast verschluckt.
„Sie sind sehr attraktiv, aber das wissen Sie, das muss ich Ihnen nicht sagen“, antwortete er und fragte sich, was diese Frage bezwecken sollte.
Sie griff nach ihrer Handtasche, suchte ein Etui heraus, entnahm diesem eine Visitenkarte und der Tasche einen sehr teuren und sehr stilvollen Füllfederhalter und schrieb etwas auf die Rückseite der Karte.
„Ich werde nicht vor ein Uhr zu Bett gehen“, sagte sie, schob Chukov die Karte hin und erhob sich. Sie ging grußlos und ließ einen beeindruckten Chukov zurück. Der Russe hatte schon viele verschiedene Frauen in seinem Leben kennengelernt, aber eine wie diese war ihm noch nie untergekommen. Sie reizte ihn. Er warf einen Blick auf die Karte, die sie ihm zugeschoben hatte.
Auf der Vorderseite befanden sich nur ein Name und eine Telefonnummer. Helena Lockmann. Auf der Rückseite stand in geschwungener Handschrift „Atlantic“.
Chukov winkte der Kellnerin, die ihm mitteilte, dass die Rechnung schon bezahlt sei. Der Russe legte trotzdem ein Trinkgeld von zwanzig Euro neben den Teller, bevor er ging. Das Essen war schließlich hervorragend gewesen.
Chukov rief sich ein Taxi, auf das er draußen wartete. Er überquerte die Straße und betrachtete die Schaufenster des Geschäfts auf der anderen Straßenseite. Weinquelle Lühmann war die Adresse, wenn es um edle Spirituosen ging. Chukov nahm sich vor, hier bei Gelegenheit die eine oder andere Spezialität zu erwerben.
Das Taxi kam und brachte ihn zurück zu seiner kleinen Einsatzzentrale. Chukov duschte, wechselte seine Kleidung und legte einen neuen Duft auf, der dem Anlass angemessen war. Er bevorzugte im Grunde immer russische Produkte. Bei seinem Duft griff er auf britisches Understatement zurück. Molton Brown, Black Pepper.
Er ging in sein Wohnzimmer und holte ein gefaltetes Papier hervor. Kokain. Das Briefchen enthielt genug für mehrere Lines. Chukov legte sich eine gute Line und zog sie durch einen zusammengerollten Fünfzig-Euro-Schein in die Nase. Ein doppelter Wodka vervollkommnete die Erfrischung.
Chukov rief zum zweiten Mal an diesem Abend ein Taxi. Sein Ziel war das Hotel Atlantic an der Alster. Er musste keine Adresse nennen. Jeder Taxifahrer wusste, was und wo das Atlantic war.
Kurz nach Mitternacht stieg Chukov vor dem Luxushotel aus.
Am Empfang fragte er nach der Zimmernummer von Frau Helena Lockmann. Der Portier lächelte bei der Nennung des Namens der aufregenden Frau. „Man hat uns informiert, dass Sie kommen würden, Herr Chukov. Ein Page wird Sie zur Suite von Frau Lockmann bringen.“
Der Hotelangestellte winkte einen der uniformierten Pagen heran und nannte ihm eine Zimmernummer. Der Page ging voran, Chukov folgte. Der Fahrstuhl brachte sie in den vierten Stock, und vor einer Tür mit verzierten Griffen blieb der Page stehen.
„Sie werden erwartet …“ Der Page klingelte, und die Tür öffnete sich. Chukov steckte dem Pagen einen Zehner zu und betrat die abgedunkelte Suite.
Der Raum war luxuriös ausgestattet, wie man es von einem Hotel wie dem Atlantic erwarten konnte. Das elektrische Licht war ausgeschaltet. Nur ein paar flackernde Kerzen warfen ein schummeriges Licht auf die Szenerie.
„Treten Sie ein, Chukov. Darf ich Sie Vladimir nennen?“
„Wenn Sie vom Sie zum Du wechseln, könnte ich mich damit abfinden“, erwiderte der Russe und schmunzelte.
„Und Sie dürfen mich Helena nennen. Aber ich würde es bevorzugen, wenn wir trotzdem beim Sie bleiben könnten. Auch wenn ich Sie gleich vögeln werde.“ Die atemberaubende Frau saß auf einem ledernen Sofa und trug ein Nichts aus zarter schwarzer Seide. Auf der Marmorplatte des Tisches vor ihr stand ein Sektkühler mit einer Flasche Armand de Brignac, daneben zwei Sektkelche.
Der Hausdiener schloss die Tür. Erst jetzt bemerkte Chukov die leise Musik. Chopin. Er trat an den Tisch heran, schenkte aus der schon offenen Flasche zwei Gläser ein und reichte eines an die Frau, die sich Helena Lockmann nannte.
Sie nahm das Glas entgegen und stieß mit dem Russen an. Der Champagner prickelte im Mund. Es war angeblich einer der besten der Welt, das wusste Chukov, aber er konnte diesem größenwahnsinnigen Sprudelwein nichts abgewinnen. Er bevorzugte Wodka.
Helena Lockmann streckte sich und holte eine silberne Dose unter dem Tisch hervor. Sie öffnete die Dose und entnahm ihr einen perfekt gerollten Joint. Nicht so einen kleinen aus einem Zigarettenpapierblättchen, sondern einen gut fünfzehn Zentimeter langen trichterförmigen Joint wie aus dem Bilderbuch.
„Haben Sie Feuer?“ Sie führte den Joint an ihre Lippen und beugte sich dem Russen entgegen. Natürlich hatte er. Das Dupont-Feuerzeug klackte, und eine bläuliche Flamme erschien. Sie rauchte mit geschlossenen Augen den Joint an. Es war schon fast zu theatralisch.
„Man darf hier drinnen rauchen?“, fragte Chukov verwundert. Helena zuckte mit den Schultern.
„Sehe ich aus, als ob mich Verbote von etwas abhalten können?“, hauchte sie, reichte Chukov den Joint und atmete ihm dabei den Rauch ins Gesicht. Chukov rauchte, obwohl Gras nicht unbedingt seine Lieblingsdroge war.
„Nein. Sie wirken auf mich wie eine Frau, die sich nimmt, was sie will.“ Er reichte die Tüte zurück. Ein wirklich gutes Marihuana stellte er fest. Süß, herzhaft, mit einem schnellen, warmen High.
Sie redeten nicht viel. Plattitüden. Ein paar Floskeln. Als der Joint geraucht war, zündete Helena zwei Zigaretten an. Erstaunt stellte Chukov fest, dass es eine russische Marke war, die er ebenfalls kaufte.
„Oh, ich vergaß …“ Die bildschöne Frau lehnte sich vor, und das Nichts aus Seide verrutschte und entblößte ihre Brust. „Im Eisfach liegt eine Flasche Wodka. Beluga Gold Line. Ich glaube, den mögen Sie. Und bringen Sie zwei Gläser mit.“
Chukovs Respekt vor dieser Frau wuchs. Und seine Vorsicht in gleichem Maße.
Vor solch einer Frau musste man sich in Acht nehmen.
Sie tranken Wodka, und nach ein paar Gläsern öffnete Helena dem Russen die Krawatte und begann, ihn zu entkleiden. Chukovs durchtrainierter Körper war vielleicht nicht der eines Adonis oder Superman, aber seine Muskelstränge waren hart und fest. Sie zog ihm Jackett und Hemd aus, und er saß mit freiem Oberkörper da, trank Wodka, rauchte russische Zigaretten und hielt seinen Blick auf eine der schönsten Frauen der Stadt gerichtet, wenn nicht eine der schönsten des ganzen Landes oder Kontinents.
„Zu Wodka gehört für mich auch immer etwas Weißes.“ Helena Lockmann griff erneut unter den Tisch und holte wieder eine kleine silberne Dose hervor, kleiner als die erste und mit anderem Dekor.
„Wären Sie so freundlich …?“ Sie gab der Dose einen Stoß, und sie rutschte zu Chukov hinüber. Der Russe öffnete die Dose vorsichtig. Zwei Fächer befanden sich unter dem Deckel. In dem einen lag ein kleiner Spiegel und darauf eine Rasierklinge. In dem anderen glitzerte ein rosafarbenes Pulver.
Chukov zauberte zwei perfekte Lines auf den Spiegel. Eine halbe Stunde später lagen sie auf dem pompösen Bett und taten, weswegen die Frau, die sich Helena Lockmann nannte, den Russen einbestellt hatte.
Die Morgensonne kroch am Horizont hoch, als Chukov das Hotel verließ und in sein Taxi stieg.
Helena Lockmann ging noch nicht zu Bett. Sie hatte noch zu arbeiten. Der Russe war gut im Bett gewesen, besser, als sie befürchtet hatte, und er hatte wie erwartet seine Ruhepausen gebraucht. Zeit genug für sie, sich in sein Mobiltelefon zu hacken. Diese Dinger waren schon lange keine reinen Telefone mehr … sie waren die Zugänge zu so vielen Leben!
Und das Leben des Vladimir Chukov lag nun ausgebreitet vor ihr. Viele Informationen, die sie ordnen, sortieren und interpretieren musste. Aber nicht heute. Heute musste sie die Daten nur speichern. Danach legte sie sich zur Ruhe.
Dieser verfluchte Russe war wirklich nicht schlecht gewesen, und sie war rechtschaffen müde …
*
Im einen Moment schwebte man noch in den Gefilden seiner Fantasie, im nächsten riss einen ein kaltes, unbedacht gesprochenes Wort zurück in die graue Realität. Kommissar Heidmüller wischte sich über die müden Augen.
„War‘s das nun, oder kommt noch mehr?“
Renate Seiler lehnte sich zurück und kämpfte mit ihrem Rocksaum, der ständig versuchte, an ihren Beinen hochzurutschen. „Nein. Ich denke, das war‘s. Da ist nichts mehr drin …“
Der im Boden eingelassene Safe hatte einen unglaublichen Inhalt preisgegeben. Neben ihr und dem Kollegen stapelten sich Bücher, Kassetten, Aktenordner und eine unglaubliche Menge an CDs und DVDs, deren Beschriftungen vermuten ließen, dass sie nicht mit Filmen bespielt worden waren.
Es würde Tage, wenn nicht Wochen brauchen, um das Material auch nur zu sichten, geschweige denn es zu interpretieren.
Der seltsam geformte Schlüssel, den Heidmüller unter den Sachen des Toten gefunden hatte, hatte sich tatsächlich als Safeschlüssel entpuppt. Ein Zahlenschloss wäre ein größeres Problem gewesen, aber der Schlüssel hatte gepasst und den Safe ohne Schwierigkeiten geöffnet. Heidmüller war irgendwie zufrieden mit sich, auch wenn die junge Kollegin den Safe gefunden hatte. Er gönnte ihr diesen kleinen Erfolg. Und er war mehr als gespannt, was der Tresor für Geheimnisse barg. Dieser tote Kerl war ein ganz besonderer Fall, das hatte er gleich gemerkt. Da steckte noch mehr dahinter.
„Requirierungen 2000 bis 2011.“ Renate Seiler hielt Heidmüller einen Ordner hin. „Ich hab gerade reingeschaut. Da geht es um Kunstraub, wenn ich‘s recht verstehe. Und um Bücher. Ich glaube, dieser Brodersen war ein ganz gemeiner Dieb!“
Heidmüller musste schmunzeln. Ein ganz gemeiner Dieb …
Er dachte da anders. Das war ein ganz außerordentlicher Dieb, wenn man ihn fragte. Ein Kerl, der sich nie auch nur verdächtig gemacht hatte, geschweige, dass man ihn im Visier gehabt hätte. Wenn die Daten stimmten, die er nur grob überflogen hatte, dann war dieser Mensch einer der erfolgreichsten Kunstdiebe aller Zeiten. Gewesen.
Brodersen war tot. Mausetot. Toter ging es nicht.
Heidmüller wusste, dass Menschen wir dieser Brodersen nur selten eines natürlichen Todes starben. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, war es vielleicht angeraten, dass die Spurensicherung das Unfallfahrzeug noch einmal untersuchte. Es konnte ja sein, dass sich jemand an dem Wagen zu schaffen gemacht hatte.
Heidmüller legte eine Hand auf den Stapel, der sich neben ihm auftürmte. Neben der Seiler befand sich ein gleich hoher Stapel von Unterlagen. „Dann wollen wir das mal ins Präsidium bringen. Wird ‘ne lange Nacht, fürchte ich.“
„So ist der Job eben“, antwortete Renate Seiler fröhlich und erhob sich. „Das wusste ich, als ich Polizistin geworden bin.“
Heidmüller lachte trocken. „Sagen Sie das mal meiner Frau! Ich weiß schon, was ich mir morgen früh anhören muss, wenn ich nach Hause komme.“
Sie mussten zweimal gehen, um alle Fundstücke hinunter zu schaffen. In der Küche der Wohnung des Toten hatte Renate Seiler Plastiktüten gefunden, in die sie die Sachen stopften, die sie im Kofferraum ihres Dienstwagens verstauten.
Es hatte zu regnen begonnen. Heidmüller schimpfte über dumme Verkehrsteilnehmer und beschwerte sich zugleich über das fehlende Verständnis seiner Frau für die Zwänge seines Berufs.
Der Regen ging so schnell, wie er gekommen war. Ein frischer Geruch lag in der Luft, als sie am Präsidium ankamen. Zu so später Stunde waren nicht mehr viele Fahrzeuge auf dem Parkplatz, und sie konnten den Wagen nahe des Eingangs abstellen.
„Wilkens? Sie hier?“ Heidmüller war ehrlich erstaunt, als er den Kollegen zu so später Stunde in seinem Büro antraf. Wilkens war bekannt dafür, dass er Überstunden tunlichst vermied.
„Bin sozusagen gerade im Aufbruch!“ Wilkens lehnte sich in seinem ächzenden Sessel zurück und reckte die Arme hoch. Seine Gelenke knackten vernehmlich. „Mir tut der Arsch weh, und ich hab schon eckige Augen.“
„Schade“, flötete Renate Seiler und stieß die Tür zu Heidmüllers Büro auf, um die Tüten mit den Beweisen abzustellen. „Wir hatten gehofft, Sie würden uns helfen, dieses Zeug zu sichten.“ Sie stellte die Tüten ab.
Ich hoffe das aber nicht, dachte Heidmüller.
„Was für Zeug?“, wollte Wilkens wissen.
Bitte nicht!, schoss es Heidmüller durch den Kopf.
„Beweise aus der Wohnung des Unfalltoten, der das Buch in der Geheimtasche bei sich hatte.“ Renate Seiler bückte sich und hob eine der DVDs auf, die aus der einen Tüte ragte.
„Sichten, archivieren und Schlüsse ziehen.“
Wilkens gähnte.
„Bin ich viel zu müde für.“ Er stemmte sich hoch. „Ich würde doch nur Fehler machen. Ich sagte doch … viereckige Augen. Nach zwölf Stunden vor dem Rechner auch kein Wunder.“
Schwein gehabt!
Heidmüller entspannte innerlich. „Schon gut, Wilkens, ab ins Bett mit Ihnen. Wir sehen uns morgen.“
Wilkens kratzte sich das unrasierte Kinn und gähnte erneut. Er klemmte sich seine Tasche unter den Arm und löschte das Licht. Heidmüller stellte die Tragetaschen, die er die ganze Zeit über gehalten hatte, zu denen, die die Seiler hoch getragen hatte.
„Gute Nacht!“
„Danke!“, grunzte Wilkens zurück. „Ihnen auch, wenn Sie Feierabend machen.“
Er winkte lässig Renate Seiler zu und verschwand in Richtung Aufzüge. Erst, als er das Gebäude verlassen hatte, atmete Wilkens auf. Das war knapp gewesen! Er hatte gerade noch rechtzeitig die Papiere in seiner Tasche verschwinden lassen können, bevor Heidmüller in der Tür gestanden hatte und vielleicht etwas gesehen hätte. Er wollte nicht, dass das, was auf dem Papier stand, irgendjemand sah. Wenn er sich nicht irrte, war das, was er da entdeckt hatte, ein Plan. Ein alter Plan auf einem uralten Stück Papier. Und ein Haufen Text, den kein Schwein verstehen konnte. Mittelalterliches Kauderwelsch.
Wilkens hatte behauptet, müde zu sein. Das Gegenteil war der Fall. Er war aufgeregt wie schon lange nicht mehr. Hier war vielleicht doch noch seine Chance auf viel Geld!
Zu Hause warf er die Tasche auf den Tisch, ging in die Küche und holte sich zuallererst ein Bier. Er nahm eine zweite Flasche mit und setzte sich in den abgenutzten Ledersessel, der an dem Tisch stand, auf den er die Tasche geworfen hatte. Dann holte er seinen Planer und das Papier hervor und legte beides vor sich hin.
Eine Weile saß Wilkens nur stumm da, trank und starrte auf das, was er in seinen Planer geschrieben und gezeichnet hatte. Es war eindeutig eine Art Plan, aber irgendwie unvollständig.
Er musste dieses Blatt mit dem anderen vergleichen. Und er brauchte jemanden, der mit dem Geschreibsel etwas anzufangen wusste. Allein würde er hier nicht weiterkommen. Ob es ihm passte oder nicht, er war auf Hilfe angewiesen.
Er öffnete die zweite Flasche mit einem lauten Plopp und stemmte sich aus dem zu tiefen Sessel hoch. Der Computer brauchte eine Weile, bis er hochgefahren war. Das Teil hatte schon einige Jahre auf dem Buckel und lief noch mit Windows XP, tat aber treu seinen Dienst. Wilkens griff in die Westentasche und fingerte einen kleinen USB-Stick heraus, den er umständlich in den passenden Port bugsierte.
Er zog sich seinen Stuhl heran und setzte sich vor den Bildschirm. Der Scan, den er aufrief, zeigte das, was der Scanner auf dem Papier sichtbar gemacht hatte. Wilkens hatte in mühsamer Handarbeit alles herausgearbeitet. Es war eine Quälerei gewesen. Es gab bei der Polizei Spezialisten für dergleichen. Er war keiner davon. Er konnte auch keinen von denen fragen, die es konnten. Die hätten daraus einen amtlichen Vorgang gemacht.
Er klickte auch das Bild an, das er von der Festplatte der Dreyerschen hatte. Sie passten zueinander. Irgendwie. Aber irgendwie auch nicht. Sie waren auf der einen Seite mit der gleichen unlesbaren Schrift beschrieben, und die Zeichen, die durchschimmerten, sahen auch ähnlich aus. Aber sie passten an keiner Ecke zusammen, egal, wie Wilkens das Bild auch drehte und wendete. Da fehlte offenbar noch etwas.
Er saß vor dem Bildschirm, schob die Maus hin und her, versuchte, noch mehr Details erscheinen zu lassen, und trank sein zweites Bier. Zum dritten Bier genehmigte er sich einen warmen Doppelkorn aus der Bar in der Anrichte.
Gegen ein Uhr gab er auf und fuhr den Rechner wieder runter. Es war zwecklos, er sah nur noch bunte Rechtecke. Wilkens rauchte eine letzte Zigarette, trank einen letzten Doppelkorn und legte sich schlafen.
*
Vladimir Chukov schaltete auf automatische Aufnahme und klappte seinen Laptop zu. Es hatte sich gelohnt, die Kameras zu installieren.
Der Russe nahm einen der zahlreichen metallenen Koffer, die sauber aufgereiht an einer Wand standen, und prüfte den Inhalt. Er schloss ihn wieder und trug ihn in das Schlafzimmer. Er wechselte seinen eleganten Anzug gegen schwarze Jeans und eine schwarze Lederjacke, schwarze Handschuhe und ebenso schwarze Stiefel. Eine schwarze Skimaske wanderte in den Metallkoffer.
Chukov brauchte keine halbe Stunde, dann parkte er seinen Wagen gegenüber der Wohnung, in der der Bulle im Bett lag und schnarchte. Er schaltete den Motor aus und suchte die Fenster, hinter denen Wilkens‘ Wohnung lag. Dahinter war kein Licht zu erkennen. Chukov nahm sein Smartphone aus der Ladebuchse im Auto und aktivierte die Überwachungs-App, die ihn mit den Kameras in den Zimmern verband. Die Räume waren finster wie eine Neumondnacht. Chukov schaltete in den Restlichtmodus um. Ein grünlich gefärbtes Bild erschien und zeigte den schlafenden Bullen in seinem Bett.
Mehr musste der Russe nicht wissen. In seinem schwarzen Aufzug fiel er nicht auf. Die wenigen Menschen, die sich noch auf der Straße herumtrieben, waren nicht weniger dunkel gekleidet als er.
Er war mit seinen Nachschlüsseln ebenso schnell im Treppenaufgang verschwunden, wie wenn er den normalen Schlüssel benutzt hätte. Er war schon einmal hier gewesen und hatte sich die Nachschlüssel mit einem speziellen Gerät angefertigt, dass er noch aus der Sowjetzeit besaß. Man führte einen Stift in das Schloss und drückte einen Kopf. Wenn man das Ding aus dem Schloss zog, hatte es die Stellung der Schließzylinder abgetastet, und man hatte eine erstklassige Vorlage für einen Nachschlüssel.
So leise, als sei er eine Katze, bewegte Chukov sich die Stufen hinauf zu Wilkens‘ Wohnung. Ein letzter Blick auf die Überwachungs-App zeigte ihm, dass der Bulle noch immer tief schlief. Fast geräuschlos öffnete der Russe die Wohnungstür und trat ein. Er wusste, wo die Dinge lagen, hinter denen er her war. Er griff sich das Buch, das Papier, den USB-Stick mit den Daten des Kommissars und auch dessen Notizbuch. Chukov hatte gesehen, dass der Bulle darin verzeichnet hatte, was er an neuen Informationen besaß. Warum sollte er sich diese Informationen entgehen lassen?
„Was zum Henker?“
Wilkens Stimme war kratzig. Seine Blase hatte ihn geweckt. Er war aus dem Schlafzimmer gekommen und hatte im Wohnzimmer Licht gemacht. Und da stand dieser Riesenbrocken in schwarzen Klamotten. Mehr bekam Wilkens nicht mit. Etwas kollidierte mit seinem Schädel und ließ das Licht ausgehen.
Chukov drehte sich, um den Schwung seines Tritts abzufangen, und ging in Angriffsposition. Als er sah, dass sein Gegner bewusstlos war, entspannte er sich. Auf den Punkt getroffen!
Das war anders geplant gewesen. Er hatte die Sachen nehmen und einfach gehen wollen. Er hatte sich das dumme Gesicht des Kerls vorgestellt, wenn er am Morgen aufwachte und sich fragte, wo zur Hölle seine Sachen geblieben waren.
Jetzt musste er einen Einbruch vortäuschen. Und er musste die Kameras entfernen. Die Polizei würde diese Wohnung auf den Kopf stellen und die Kameras finden. Man konnte sie nicht zu ihm zurückverfolgen, aber er ging kein Risiko ein.
In der Küche fand er einen Leinenbeutel, in den er alles steckte, was auch nur halbwegs wertvoll war, so, wie es ein Einbrecher machen würde. Er leerte auch die Taschen des Kommissars und nahm ihm die billige Uhr ab. Als Letztes noch das Geld aus der Börse des Kriminalen. Darauf hätte ein Dieb es besonders abgesehen. In der Küche fand er auch einen Schraubendreher, der stabil genug war, um ihn als Hebel einzusetzen.
Chukov sah sich ein letztes Mal um und verließ die Wohnung wieder. Er zog die Tür ins Schloss und brach sie dann mit dem Schraubendreher wieder auf. Das Holz des Rahmens gab leicht nach, als ob es schon einmal zerbrochen gewesen war. Chukov ließ die Tür halb offen stehen und machte sich aus dem Staub.
An einer der tausend Brücken von Hamburg hielt der Russe an und versenkte den Beutel mit dem Diebesgut. Nur das Bargeld behielt er. Geld stinkt nicht … Es war nicht viel, nur ein wenig mehr als zweihundert Euro, aber davon konnte er schön essen gehen. Schmunzelnd stieg Chukov, bar des Diebesguts, wieder in seinen Wagen und fuhr zurück zu seiner kleinen Einsatzzentrale. Er hatte noch zu tun in der heutigen Nacht. Auf ihn wartete der Computer des Kommissars im Präsidium.
Es war kurz vor der Dämmerung, als er seinen Rechner ausschaltete. Er konnte zufrieden sein. Auf dem Rechner des Bullen war alles gewesen, was er brauchte. Der andere Dieb, der ihm in der Uni in die Quere gekommen war, lebte nicht mehr. Verkehrsunfall. Glück musste der Mensch haben! Die hunderttausend hatte er leicht verdient.
Aber das, was er außerdem entdeckt hatte, war vielleicht von noch größerem Interesse. Die Unterlagen des Bullen. Er hatte nicht nur dieses Büchlein, sondern auch ein Einzelblatt, und darauf schien der Bulle etwas entdeckt zu haben. Eine Art von rudimentärem Plan. Chukovs innerer Alarm läutete. Er läutete sehr laut! Dazu kam das Bild einer gleichartigen Seite, die der Bulle anderswo her hatte. Chukov hatte auf den Bildern der Überwachungskameras gesehen, dass der Bulle etwas hatte, und es kam dem Russen nicht so vor, als sei das alles polizeiliche Ermittlungsarbeit. Der Bulle kochte da wohl sein eigenes Süppchen. Das hatte er ihm nun gründlich versalzen. Chukov grinste gemein.
Da war ein Geheimnis, das eine lukrative Einkommensquelle verhieß! Er würde sich diese Chance nicht entgehen lassen.