Читать книгу Die Stadt unter dem Land - Ralph G. Kretschmann - Страница 11

6.

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Es tat ihr gut, zu arbeiten. Die Tablette hatte geholfen, und die Kopfschmerzen hatten sich verflüchtigt, aber das flaue Gefühl im Magen und der schale Geschmack im Mund ließen sich einfach nicht mit einer Tablette verscheuchen. Sie wusste, dass sie etwas essen sollte, aber allein der Gedanke an Nahrungsaufnahme verursachte ein dezentes Übelkeitsgefühl, das sie nicht steigern wollte, indem sie wirklich etwas aß. Und selbst ihr starkes Mundwasser hatte den Geschmack auf ihrer Zunge nicht bewältigen können.

Jasmin hatte das gescannte Abbild des Papiers auf dem Bildschirm und überlegte, wie sie vorgehen sollte. Sie speicherte eine Arbeitskopie und legte los. Das Blatt hatte nicht ganz die Größe eines DIN A4-Blattes, war von gelblicher Grundfarbe, auf dem eine blassblaue Schrift zu erkennen war. Sie erhöhte den Kontrast und drehte an den Farbreglern. Die Schrift trat nun deutlicher hervor, aber noch immer ließen sich nur vereinzelte Wörter oder Silben erkennen.

Jasmin öffnete ihren Browser und loggte sich im Universitätsserver ein. Wie sie vermutet hatte, funktionierte ihr Account noch. Es würde seine Zeit dauern, bis die Uni ihren Zugang löschen lassen würde. Sie kannte die Mühlsteine der Universitätsbürokratie, die langsamer kaum mahlen könnten.

Jetzt hatte sie Zugriff auf Programme, die ihr kleiner Laptop nicht einmal hätte abspeichern können. Jasmin lud ihre Arbeitskopie hoch und begann, spezielle Filter über das Dokument laufen zu lassen. Langsam, aber sicher wurde mehr und mehr von der Schrift deutlich. Sie lud das Resultat vom Uni-Server herunter und wiederholte das Prozedere mit der Rückseite des Papiers. Es dauerte einige Minuten, dann hatte sie auch diese Seite bearbeitet und lud sie ebenfalls auf ihren Rechner. Danach löschte sie Arbeitsspeicher und Cache des Universitätsservers und loggte sich aus.

Jasmin trennte ihren Laptop vom WLAN und lehnte sich zurück. Ein Wirbel knackte in die Stille hinein. Sie fühlte sich besser und beschloss, einen Tee zu machen, bevor sie das Ergebnis ihres elektronischen Ausflugs genauer unter die Lupe nahm.

Einen Tee zu machen bedeutete für Jazz das Ritual, einen Beutel Hagebuttentee in eine Tasse mit heißem Wasser zu hängen, zwei Löffel Zucker hinein zu rühren und bis einhundert zu zählen. Das fruchtige Aroma half gegen den Geschmack im Hals …

Das Papier war Teil eines Briefes, wie Jasmin schnell feststellte. Die eine Seite begann mitten im Satz, der aber nicht zum letzten Wort der anderen Seite passte. Damit war klar, welches die erste und welches die zweite Seite war. Jasmin nahm einen Schreibblock und ihren alten Schulfüller zur Hand und begann vom Schirm abzuschreiben, was sie entziffern konnte.

Während sie schrieb und versuchte, Lücken logisch zu füllen, dämmerte ihr, dass es sich um einen Brief handelte, den Wigbold, dessen Büchersammlung das Blatt Papier ja entstammte, an einen Menschen mit dem Namen Grobherz geschrieben hatte. Ein seltsamer Name, der Jasmin bekannt vorkam, den sie aber nicht einordnen konnte.

Dieser Grobherz schien laut Inhalt der Sohn eines Mannes mit gleichem Nachnamen gewesen zu sein. Der Vater war enthauptet worden, und Wigbold drückte dem Hinterbliebenen sein Mitgefühl aus. Auf der zweiten Seite wurde es interessanter. Wigbold schrieb von einem anderen Mann, dessen Name Jasmin gut kannte und von dem schon jeder in Hamburg gehört hatte.

Störtebeker.

Ihr Herz schlug schlagartig höher. Wenn nur die Hälfte von dem, was sie da lesen konnte, der Wahrheit entsprach, dann handelte es sich bei diesem unscheinbaren Stück Papier um das wertvollste Stück aus dem sogenannten Schatz des Magister Wigbold.

Leider fehlten auf der zweiten Seite viele Worte, aber Jasmin konnte sich zusammenreimen, was die Essenz des Briefes war. Sie lud die bearbeiteten Bilder auf den Stick zurück und löschte alle Dateien von ihrem Rechner, aus sämtlichen Zwischenspeichern und aus dem Papierkorb. Vielleicht war sie paranoid, aber eigentlich durfte sie dieses Blatt, dieses zeithistorische Dokument, gar nicht besitzen. Eigentlich sollte es in den Archiven der Universität aufbewahrt werden. Also war es besser, wenn nichts, was mit diesem Artefakt zu tun hatte, mit ihr in Verbindung gebracht werden konnte.

Es war erst siebzehn Uhr, aber Jasmin fühlte sich trotz der Aufregung, die sie empfand, müde und zerschlagen. Sie überzeugte ihren Magen davon, dass ein Joghurt kein Mordanschlag war, und legte sich schlafen. Nichts half besser gegen einen ausgewachsenen Kater als ein wenig Schlaf …

Jasmin fiel ins Koma, schlief tief und fest. Aber wer früh ins Bett ging, wachte auch früh wieder auf. Der Wecker zeigte Viertel vor vier, als sie die Augen wieder aufschlug. Draußen herrschte noch tiefe Nacht, und die sonst so lebendigen Straßen Hamburgs lagen still und fast menschenleer.

Sie versuchte, noch weiter zu schlafen, aber ihr Kopf machte ihr einen gehörigen Strich durch die Rechnung. Kaum hatte sich ihr Bewusstsein an die Oberfläche gekämpft und die Steuerung übernommen, fielen ihr ihre Erkenntnisse vom vorangegangenen Tag ein. Von da an hatte sie Probleme, ihre sich überschlagende Fantasie zurückzuhalten.

Um vier Uhr gab Jasmin auf und schwang sich aus den Federn.

Sie brühte sich einen Kaffee, verlängerte ihn mit Milch und gab drei Löffel Zucker in den Oversize-Becher. Eine Zigarette. Dumme Angewohnheit. Werner Graf hat einen schlechten Einfluss auf mich, dachte sie und kam sich vor, als habe sie ihn beleidigt. Was sollte das denn nun? Graf war mit Sicherheit kein schlechter Einfluss. Jazz schüttelte den Kopf. Reset, andere Gedanken. Störtebeker. Ein Blick auf die Uhr. Noch war es zu früh, Werner anzurufen. Ab acht Uhr konnte sie davon ausgehen, dass der alte Mann aufgestanden war. Aber noch nicht jetzt. Halb fünf in der Früh.

Jasmin legte eine CD in den Player und machte sich über den Abwasch her. Wenn sie schon so früh wach war, konnte sie die Zeit auch nutzen. The Clash. London calling. Viel zu leise, diesen Song sollte man immer in voller Lautstärke hören. Nicht um fünf Uhr morgens, mitten in Hamburg, umgeben von Dutzenden von schlafenden Menschen. Der Shitstorm wäre vorprogrammiert.

Ein zweiter Kaffee mit Milch, eine weitere Zigarette. Der Tabak war zu trocken und brannte auf der Zunge.

Halb sechs. Sie zog sich an, packte ihren Laptop ein und beschloss, Graf nicht anzurufen. Sie würde bei ihm zum Frühstück einfallen. Unterwegs ein paar Croissants und Quarkbällchen besorgen und mit fröhlichem Gesicht vor Grafs Tür auftauchen. Sie würde so losgehen, dass sie gegen acht Uhr in der Hein-Hoyer-Straße eintraf.

Sie hielt es einfach nicht mehr aus herumzusitzen. Die Luft war frisch, und Jasmin zog den Totenkopfschal eng um den Hals. Nur keine Kälte an die Haut lassen. Die Hände tief in ihre Taschen gestopft, marschierte sie die Straßen hinunter. Ein heller Streifen am Himmel versprach den Morgen. Noch brannten die Laternen. Die ersten Angestellten stolperten zwischen den Pfützen des Vortags herum und suchten ihren Weg zur Arbeit.

Der Bäcker hatte schon auf. Jasmin kaufte zwei Croissants, zwölf Quarkbällchen und eine Apfelschnecke, die sie sofort aß. Noch einen Coffee to Go. Eine der besseren Neuerungen der letzten Jahre.

Mehr und mehr Menschen bevölkerten die Straßen. Jasmin konnte sich Zeit lassen. Sie schlenderte mehr, als dass sie ging, durch Nebenstraßen und abgelegene Parkstücke. Sie passte ihre Geschwindigkeit so gut ab, dass sie um fünf Minuten vor acht Uhr in der Frühe vor der Tür des Hauseingangs in der Hein-Hoyer-Straße stand, der zum Aufgang zu Werner Grafs Wohnung führte, und den Finger auf den abgenutzten Klingelknopf drückte. Es dauerte einen Moment, bis die Gegensprechanlage knackte.

„Ja?“ Grafs Stimme klang dumpf und belegt.

„Jasmin!“, flötete sie in das Sprechgitter. „Ich hab Frühstück mitgebracht!“

Statt einer Antwort knackte es laut, und unter metallischem Sirren wurde die Tür entriegelt. Jasmin drückte sie mit der Schulter auf und schob sich in den Hauseingang. Oben an der Treppe angekommen, schloss sie die offen stehende Wohnungstür und rief Werners Namen.

„Küche!“, kam es halb erstickt aus dem hinteren Teil, gefolgt von einem heftigen Husten.

Werner Graf saß hustend am Küchentisch. Vor sich hatte er einen Becher Kaffee und einen Aschenbecher stehen. Im Ascher lag eine Shagpfeife, aus der noch ein dünner Rauchfaden aufstieg. Graf räusperte sich und klopfte sich auf die Brust.

„Verschluckt, als die Klingel ging“, erklärte er. „Setzt du Wasser auf? Ich mach den Rest.“

Zwei Tassen frischen Kaffees und Jasmins Gebäck wanderten auf ein kleines Tablett.

„Vorsicht!“, rief Jasmin.

Fast wäre Graf auf eine der goldenen Putten getreten, die zu Dutzenden an den Wänden hingen. Jasmin bückte sich, hob die nur leicht angeschlagene Figur auf und suchte an der Wand die Stelle, wo sie gehangen hatte.

Graf stellte Gebäck und die Tassen auf den Couchtisch und ließ sich in seinen Sessel fallen.

„Nu erzähl schon“, forderte er Jasmin auf. „Was ist so wichtig, dass du mich zu so früher Stunde besuchst?“

Sie zog ihre Tasche zu sich heran und entnahm ihr ein paar eng beschriebene Zettel und den historischen Brief.

„Ich hab‘s lesbar gekriegt“, sagte sie mit ein wenig Stolz in der Stimme. „Und was da steht, ist ein Hammer. Historisch betrachtetet, meine ich. Es geht um … und jetzt halte dich fest …“ Sie legte eine Kunstpause ein, die einen Tick zu lang ausfiel.

„Mädel, nu sag schon!“, seufzte Graf, bevor sie von selbst fortfahren konnte. Sie warf ihm einen kurzen bösen Blick zu.

„Störtebeker!“

Erwartungsvoll sah sie Graf an. Der starrte ungerührt zurück. „Störtebeker. So“, wiederholte er nach einer Weile. „Und?“

„Ja, was und …?“ Jasmin gestikulierte lebhaft mit den Händen. „Es geht um Störtebeker. Den Piraten. Freibeuter. Likedeeler!“

„Der schon wieder“, sagte Graf und rückte in seinem Sessel vor, um den Kaffeebecher besser erreichen zu können. „Was ist denn mit Störtebeker? Wenn du mich in dein Geheimnis einweihen könntest, dann wäre ich ja vielleicht in der Lage, deinen Enthusiasmus zu teilen.“ Er schlürfte an seinem Kaffee und schaute Jasmin erwartungsvoll an.

„Oh … wo fang ich an? Du kennst ja die Geschichte um Störtebeker. Und dass er enthauptet wurde, hier in Hamburg.“

Graf nickte. „Das hatten wir sogar in der Schule. Störtebeker wurde am 20. Oktober 1401 auf dem Grassbrook enthauptet. Mit einem Haufen anderer Freibeuter. Unser Lehrer, Herr Stauer, war Störtebeker-verrückt und hat uns damit fast ein ganzes Jahr lang traktiert.“

„Und wenn ich dir nun sage, dass das vielleicht ganz falsch ist, was er euch beigebracht hat?“ Jasmin lehnte sich weit vor und blickte Graf ernst an. „Wenn ich dir jetzt sage, dass Störtebeker im Jahr 1404 noch gelebt hat?“

Graf zog eine Braue hoch. „Dann bin ich gewillt, eher dir zu glauben als Herrn Stauer. Sieh mal an, der Störtebeker. Und das steht auf dem Wisch da?“

Jasmin lachte. „Nicht direkt. Aber ich habe hier ein Textfragment, das besagt, dass Grobherz mit Störtebeker eine Fahrt antreten wollte, und das zu einem Zeitpunkt, da der schon tot sein sollte. Du erinnerst dich? Grobherz war Störtebekers Steuermann. Und dieser Steuermann hat etwas für seinen Sohn hinterlassen, das der sich holen sollte, wenn der Vater es nicht schafft, zu seiner Familie zurückzukehren.“

Stille.

Graf ließ erst einmal sacken, was er gerade gehört hatte. Dann atmete er tief durch.

„Und? Steht da auch, wo das, was er hinterlassen hat, zu finden ist?“

„Na ja … ein bisschen etwas von einer Wegbeschreibung. Aber unser antiker Zettel ist nur eine Seite von mehreren. Der Brief ging noch weiter. Wir haben nur den Mittelteil.“

„Dann ist es doppelt blöd, dass wir keinen Zugang zu den Büchern aus dem Turm haben. Die werden dich kaum in die Universitätsabteilung reinlassen.“

„Wohl kaum …“, bestätigte Jasmin mit angeekelter Miene.

„Es sei denn, du kriechst zu Kreuze …“

„Das kannst du knicken, aber so was von!“, fuhr Jasmin auf.

Graf hob abwehrend die Hände. „Ich mein ja nur!“

„Mein was anderes! Ich werde diesem Widerling nicht hinten reinkriechen!“

„Ist ja auch richtig so!“ Graf zuckte mit den Schultern. „Und wenn ich mal nachfrage? Ich hab den sogenannten Schatz ja mit gefunden. Maßgeblich beteiligt, hat dieser Kommissar das genannt. Wie hieß der noch gleich?“

„Wilkens“, antwortete Jazz. „Der ist jetzt Hauptkommissar.“

„Sieh an …“, gab Graf abwesend zurück. Vielleicht war das gar kein so dummer Gedanke. Weshalb sollte er nicht mal nachfragen, wie es mit den Büchern aussah, die er selbst mit gefunden hatte?

*

Hauptkommissar Wilkens warf den Pappkarton auf den Boden und beförderte ihn mit einem Tritt unter seinen Schreibtisch. Er hatte den blöden Kasten gestern den ganzen Tag herumgefahren, nachdem er ihn in den Fußraum vor dem Beifahrersitz geworfen und vergessen hatte. Erst heute Morgen war er ihm wieder eingefallen, und er wollte nicht wieder mit dem Pappkarton zur Arbeit fahren.

Also hatte er sich hinunter gequält, war zu seinem Wagen geschlichen, hatte den Karton aus dem Twingo geholt und war die Treppen wieder hoch gekrochen. Er hasste diese Stufen!

Er wartete, bis er wieder zu Atem gekommen war, sprühte sich noch eine zusätzliche Dosis seines Rasierwassers auf Hals und Hände und wechselte seine braune Velourlederjacke, die über dem Bauch spannte, gegen Weste und Anzugjacke. Er stopfte den Gummizug seiner Krawatte unter den Hemdkragen und überprüfte, ob er alles dabei hatte. Dienstausweis, Waffe, Marke, Autoschlüssel.

Der Verkehr war erträglicher, als Wilkens erwartet hatte, was seine Laune ein wenig hob.

Im Büro überfiel ihn sein Kollege gleich mit dem neuesten Fall.

„Zieh gar nicht erst das Sakko aus, Wilkens! Mord an der Uni! Frühstücken kannst du später!“ Ehe Wilkens sich versah, saß er neben dem Kollegen Heidmüller hinten im Wagen und brauste mit aufgedrehtem Martinshorn durch die Stadt, den Rotherbaum hinunter.

„Was ist denn passiert?“, schnaufte Wilkens, dem es neben dem muskulösen, breitschultrigen Kollegen eng wurde. „Soweit ich informiert bin“, erzählte Heidmüller, „wurde eingebrochen, und einer der Professoren hat sich dem Einbrecher in den Weg gestellt. War wohl ‘ne dumme Idee. Der Mann ist tot.“

Auf dem Unigelände herrschte das reine Chaos. In die Scharen von Studierenden und Lehrkräften mischten sich nun auch noch Uniformierte und nicht uniformierte Polizeikräfte. Ein Wachtmeister nahm Heidmüller und Wilkens in Empfang und brachte sie zum Tatort, der sich in einem der älteren Gebäude befand.

„Also, die Herren Kommissare, es sieht wohl so aus, dass eingebrochen worden ist in der Absicht, Bücher aus einer unlängst gef…“

„In der Absicht?“, unterbrach Wilkens den Redefluss des Uniformierten. „Sind die Bücher nun gestohlen worden oder nicht?“

„Öh … ja“, antwortete der Uniformierte konsterniert. „Sind weg.“

„Sie müssen präziser in Ihren Aussagen sein, Kollege! Es geht hier ja nicht um Ladendiebstahl, nicht wahr?“ Wilkens klopfte dem verwirrt aussehenden Beamten jovial auf die Schulter. „Aber das wird schon noch.“

Heidmüller versuchte, die Fassung zu bewahren, und setzte ein ernstes Gesicht auf. „Hier ist immerhin ein Mensch zu Tode gekommen.“

„Ja, sicher, Entschuldigung … ich … ich …“ Der Uniformierte sah von einem der beiden Kriminalhauptkommissare zum anderen. „Nun erzählen Sie schon … was ist passiert?“

Der Beamte in Uniform ging voraus und öffnete die Türen. Wilkens gefiel das. Daran könnte er sich gewöhnen.

„Der Einbrecher hat den Alarm ausgeschaltet und sich der Bücher bemächtigt. Dabei scheint er sehr wählerisch gewesen zu sein, denn es sind nicht alle mitgenommen worden. Der Dieb muss wohl ein paarmal gelaufen sein. Oder er hatte Komplizen. Da hat ihn dann wohl dieser Lehrer erwischt, der noch gearbeitet hat. Im Keller sind Labore, wo er Bücher untersucht hat. Der Dieb hat ihm den Schädel … äh … abgetrennt, so wie das aussieht.“ Der Polizist hielt Wilkens und Heidmüller die Tür auf.

„Den Gang runter, dann links, da ist es … der Tatort. Ich muss noch … Meldung machen.“ Der Uniformierte grüßte kurz.

„Danke, Kollege, das finden wir sicher auch allein.“ Heidmüller grüßte zurück, Wilkens grinste nur breit. Als der Uniformierte außer Hörweite war, stieß Heidmüller Wilkens mit dem Ellenbogen an.

„Mensch, Wilkens, ich wusste gar nicht, dass du Humor hast!“

Wilkens sah seinen Kollegen kurz an, ohne das Gesicht zu verziehen. Dann setzte er die freundlichste Miene auf, deren er angesichts der Alimentenforderungen seiner Ex noch fähig war.

„Habe ich auch nicht“, sagte er freundlich, drehte sich abrupt um und stapfte den Gang hinunter.

Heidmüller schüttelte den Kopf. War das nun Ernst gewesen oder nur ein Spaß? Er wurde aus diesem eigenbrötlerischen, verschlossenen Kerl nicht schlau, und das ging ihm gehörig an die Nerven. Er wollte immer verstehen. Heidmüllers Traum war es, ein Forensiker zu werden. War es gewesen. Sein empfindlicher Magen hatte nicht mitgespielt, und für ein Psychologiestudium hatte er sich einfach nicht entscheiden können. Aber er versuchte stets, seine Leute zu durchschauen. Es war gut, wenn er die Kollegen einschätzen konnte, fand er. Aber Wilkens entzog sich. Er kam nicht zum Bowling mit, trank kein Feierabendbier mit Kollegen und ging sogar zum Schießtraining allein. Ein zurückgezogener Mensch, dieser Wilkens. Und solche Typen waren Heidmüller suspekt!

Er beeilte sich, hinter Wilkens her zu kommen, der mit seinen kurzen, dicken Beinen schon am Ende des Gangs angekommen war.

Der Tatort sah aus, als habe ein Trupp Bundeswehrsoldaten ihre Übung im Zimmer abgehalten. Umgestürzte Möbel, Aktendeckel und loses Papier in Mengen, die den Boden bedeckten. Zerschlagenes Glas und Bücher, die offenbar schon sehr alt sein mussten, unachtsam hingeworfen.

Ein paar Zivilisten drängten sich hinter einen schweren Labortisch und starrten nach unten. „Ich wette, dass da unsere Leiche liegt.“ Wilkens schob die Leute zur Seite und drängelte sich nach vorn.

„Passen Sie auf, Sie Idiot!“, fauchte ihn eine weibliche Stimme von unten an. „Sie treten gleich auf seinen Kopf!“

Wilkens sah nach unten und wollte unwirsch antworten, da sah er die unglaublichsten Augen, die man sich nur vorstellen konnte. Und den Schädel. Ein fast abgetrennter menschlicher Kopf. Er zeigte überrascht wirkende Züge, ein eingefrorenes Staunen in den toten Augen. Schütteres, graues Haar, blasser Teint. Ein Stubenhocker, befand Wilkens.

„‘tschuldigung … aber man sagte mir, es eile …“, stotterte er und konnte den Blick kaum abwenden von diesen unglaublichen Augen, die ihn böse anfunkelten.

„Ah, so!“, sagten die blauen Augen. „Und Sie sind …?“

„Kriminalhauptkommissar Wilkens“, antwortete Wilkens wie aus der Pistole geschossen und riss seinen Ausweis aus der Tasche. „Und der da hinter mir ist mein Kollege Heidmüller.“

„Heidmüller!“, sagte Heidmüller mit seinem tiefen Bariton. „Sie sind die neue Pathologin, richtig? Doktor Schuller?“

„Gerda Schuller, genau die bin ich, Herr Hauptkommissar.“ Die blauen Augen lächelten jetzt fast schon.

„Heidmüller reicht“, sagte der Kommissar, der auf Titel ebenso wenig Wert legte wie Wilkens. „Das ist ja ‘ne ganz schöne Schweinerei.“ Er deutete auf die blutbespritzte Umgebung.

„Nicht unbedingt. Diese Schweinerei, wie sie es nennen, hätte noch um einiges schlimmer ausfallen können. Ein Mensch enthält fast sechs Liter Blut. Das ist ein halber Eimer voll. Das hier sind höchsten dreihundert bis fünfhundert Milliliter. Der Leichnam ist nach hinten umgefallen und über den dort stehenden Hocker gerollt, bevor er auf den Boden schlug. Deshalb diese ganzen Spritzer bis zur Decke hoch.“ Sie deutete nach oben, wo die rotbraunen Sprenkel eine blutige Zeichnung hinterlassen hatten.

„Und wie … ich meine, wie wurde der Kopf so fast vom Körper … getrennt?“, fragte Heidmüller und versuchte, seinen Magen unter Kontrolle zu halten. Er machte eine Rückwärtsbewegung, die nicht aufhören wollte, und rang nach Luft.

„Das ist eine seltsame Sache“, fuhr die junge Pathologin fort. „Ich habe mir den Schnitt angesehen … die Haut wurde so sauber durchtrennt, dass ich keine Schnittmarken erkennen kann. Das Gewebe am Hals wurde kaum gequetscht. Das muss eine verflucht scharfe Klinge gewesen sein. Es war scheinbar nur ein einziger Hieb …“

Heidmüller schaffte es, unbemerkt ins Freie zu kommen. Ein Rotdorngebüsch bot ihm Schutz, und er übergab sich. Dieser verdammte Magen …!

Er atmete tief durch, setzte ein Lächeln auf und ging zurück.

„War schnell pinkeln!“, behauptete er gegenüber dem Beamten am Eingang.

„Und da sind Sie sicher?“ Wilkens stand vornübergebeugt über dem Körper es Opfers und musterte den durchschnittenen Hals. „Ein Schnitt und … zack?“

„Ein Schnitt, ein Hieb mit großer Kraft und eine große Kenntnis der menschlichen Anatomie. Der Winkel, in dem diese Klinge den Hals traf, war optimal gewählt. Er … oder sie, wer auch immer diese Klinge geführt hat, hat den Hals von vorn getroffen. Die beiden Männer scheinen gekämpft zu haben …“ Die blauen Augen seufzten. „Ich kann nicht mehr dazu sagen. Ein Hieb. Kopf ab. Punkt. Alles andere sind Vermutungen.“ Sie legte ihre Instrumente zurück in ihren kleinen Arztkoffer. „Und für Vermutungen werde ich nicht bezahlt. Meine Herren, alles Weitere, wenn ich unseren Freund auf dem Tisch hatte.“ Die blauen Augen lächelten kurz und stöckelten auf halbhohen Schuhen davon.

„Der mickrige Kerl soll mit einem Schwert schwingenden Killer gekämpft haben? Klar, dann bin ich Dr. Frankenstein!“, knurrte Wilkens unwillig.

„Dieser mickrige Mann hatte einen hohen Dan in Aikido.“ Die kratzige Stimme gehörte zu einem dunklen Mann, der Wilkens die Hand entgegenstreckte.

„Dr. Seeler. Nicht mit Uwe bekannt oder verschwägert. Ich bin für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig.“

„Ach?“ Heidmüller runzelte die Stirn. „Ich dachte, das ist der Bereich von Frau Dr. Tietze!“

„Ist er auch!“, bestätigte der freundlich lächelnde Mensch. „Ich bin ihr persönlicher Referent. Frau Dr. Tietze ist leider in anderer Sache außer Haus. Aber ich kann sie sicher genauso gut unterstützen.“

„Na, dann unterstützen Sie mal! Mein Kollege hat da so einige Fragen an Sie.“ Mit lockerer Handbewegung schob Wilkens den persönlichen Referenten zu Heidmüller hinüber. Aikido hatte dieser Gnom also gekonnt? Wilkens hatte schon von dieser Kampfkunst gehört. Wenig Action, aber hohe Wirkung. Schwierig zu erlernen. Hätte er diesem Gelehrten gar nicht zugetraut.

„Hat dieser Lehrer … Professor … Lindner, hat der oft nachts noch hier gearbeitet?“ Heidmüller hatte sein Diktiergerät eingeschaltet und hielt es dem persönlichen Referenten unter die Nase. Irritiert schob Dr. Seeler das Gerät ein Stück zurück.

„Nun, äh, eigentlich nicht. Er war nicht als besonders ehrgeizig bekannt. Aber dieser besondere Fund, der hat ihn wohl, wie soll ich sagen …?“

„Aus den Startlöchern geholt?“, half Heidmüller.

Dr. Seeler lachte trocken. „Schöner Vergleich. Ja, das hat ihn aus den Startlöchern geholt. Aber nicht zu seinem Besten …“

Zwei kräftige Männer trugen den Behälter mit den sterblichen Überresten von Dr. Lindner an ihnen vorbei, um ihn in die Pathologie zu bringen.

„Hatte Lindner Feinde?“, stellte Heidmüller seine nächste Frage. „Oder gab es Post, vielleicht Anrufe?“

Seeler runzelte die Stirn und sah den Kriminalen an, als sei der von einem anderen Planeten.

„Was? Nein. Keine Anrufe oder Briefe, von denen ich wüsste. Und Feinde? Na ja, Lindner hat sich nicht eben beliebt gemacht. War wohl ein wenig herrisch, nachdem er diesen Posten erhalten hatte. Drei Leute haben schon hingeschmissen, seit er angefangen hat.“

„Die sind seinetwegen gefeuert worden?“, hakte Heidmüller nach.

Seeler schüttelte den Kopf. „Nein, die haben gekündigt. Erst gestern hat eine Jasmin Dreyer ihm ihren Job vor die Füße geworfen. Wissen sie, die junge Dame hat diesen Schatz der Wissenschaft mit entdeckt, und er hat sie behandelt, als sei sie eine dumme, kleine …“

„Jasmin Dreyer?“ Wilkens hatte nur mit halbem Ohr zugehört. „Die Jasmin Dreyer, die die Bibliothek des Magister Wigald gefunden hat?“

„Wigbold, nicht Wigald. Aber ja, genau die. Hat Streit mit ihm gehabt und fristlos gekündigt. Schade, wenn Sie mich fragen …“

„Tu ich aber nicht!“, fauchte Wilkens und verteilte Speicheltröpfchen. „Ich kenne die Dame, danke. Um die werde ich mich selbst kümmern. Heidmüller, ich seh‘ Sie im Präsidium.“

Wilkens machte auf dem Absatz kehrt und stampfte aus dem Raum.

„Ihr Kollege hat nicht eben die besten Manieren, oder?“ Dr. Seeler wischte sich angeekelt Wilkens‘ Speichel von der Brille und versuchte, nicht daran zu denken, dass er dieselben Tröpfchen auf dem Gesicht hatte. Er würde gleich nach diesem Gespräch das nächstgelegene Waschbecken aufsuchen …

„Nee, der ist nur ein bisschen ruppig. Aber ein guter Kriminalbeamter. War an der Aufklärung des Wiland-Bücher-Falls beteiligt und hat dabei ganz schön was einstecken müssen“, verteidigte Heidmüller den Kollegen, obwohl er eigentlich der gleichen Meinung war wie Dr. Seeler.

„Wigbold. Der Mann, dessen Bücher geraubt wurden, hieß Wigbold. Nicht Wigald und nicht Wiland.“

„Stimmt!“, bestätigte Heidmüller jovial. „Wiland war dieser Schmied … Ich krieg die Namen immer durcheinander.“

Die Stadt unter dem Land

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