Читать книгу Die Stadt unter dem Land - Ralph G. Kretschmann - Страница 17
12.
ОглавлениеGraf hatte unruhig geschlafen. Er war es nicht gewohnt, dass jemand in seinem Bett neben ihm lag, schon gar nicht, dass es sich bei der betreffenden Person um eine nackte junge Dame handelte. Die halbe Nacht lang hatte er versucht, möglichst jeden Körperkontakt zu vermeiden. Jasmin hatte ihn so lange drangsaliert, bis er eingewilligt hatte, dass sie in seinem Bett neben ihm schlafen konnte. Sie wollte nicht allein sein nach den Ereignissen der letzten Tage. Mord, Diebstahl, Einbruch … etwas viel auf einmal. Er hatte schlussendlich nachgegeben.
Sie war so betrunken gewesen, dass sie sofort eingeschlafen war. Er selbst hatte nicht in den Schlaf finden können … sein Kopf hatte keine Ruhe gegeben. Vielleicht wegen des ungewohnten Konsums von Marihuana, vielleicht auch wegen des warmen, äußerst attraktiven weiblichen Körpers, der neben ihm unter der Decke lag.
Graf schob sich so leise und vorsichtig aus dem Bett, wie es ihm nur möglich war, und vermied es, einen Blick auf die Schlafende neben sich zu werfen. Er schloss die Tür und ging in die Küche, um sich seinen Frühstückskaffee zu brühen.
Mit der ersten Zigarette und dem dampfenden Kaffee saß er in der Küche am Tisch und grübelte über den vergangenen Abend nach.
Es war verdammt lang her, dass er eine Frau in seinem Bett gehabt hatte, und noch länger, dass er eine gut aussehende Frau im Bett gehabt hatte und nichts passiert war. Was damals eher daran gelegen hatte, dass er zu betrunken gewesen war, um auch nur irgendetwas zu machen …
Er konnte nicht abstreiten, dass Jasmin ihn anzog. Wie auch nicht? Sie war eine verflucht attraktive junge Dame. Aber er war ein alter Knacker, und sie könnte seine Tochter sein. Der Altersunterschied war einfach zu groß, sagte er sich immer wieder. Das Problem war, dass er sich selbst nicht glaubte.
Die Zigarette schmeckte fade, und Graf fühlte sich nicht wirklich frisch. Eine Dusche würde ihn vielleicht wieder munter machen. Aber er hätte danach gern frische Wäsche angezogen, die lag im Schrank, und der stand im Schlafzimmer. Er wollte jedoch nicht ins Schlafzimmer gehen, um sich frische Sachen zu holen. Da lag Jasmin und schlief noch immer tief und fest.
Im Wohnzimmer lief noch immer der Computer, den sie in der vergangenen Nacht nicht ausgeschaltet hatten. Der Bildschirm zeigte die bearbeitete Version des eingescannten Papiers. Graf setzte sich mit dem Rest seines Frühstückkaffees und der zweiten Zigarette vor den Rechner und betrachtete das Bild, das einen Ausschnitt des Papiers zeigte, mit dem gekennzeichneten Liniensalat.
Das Gewirr von Strichen und Zeichen wirkte jetzt am Morgen noch befremdlicher als in der Nacht. Es wirkte, als habe jemand eine Landkarte gezeichnet und dann einen Teil der Zeichnung wieder wegradiert. Graf fragte sich, ob man diese Restzeichnung nicht mit Landkarten der norddeutschen Küste vergleichen könnte. Dass es sich um keine andere Gegend handeln konnte, setzte er einfach mal voraus, denn der, der diese Karte gezeichnet hatte, musste mit fast völliger Sicherheit der sein, der auch den Brief verfasst hatte.
Graf lehnte sich zurück. Musste das wirklich so gewesen sein? Er nahm es an, aber nichts sprach dagegen, dass der Kartenzeichner und der Briefschreiber zwei verschiedene Personen gewesen waren. Was, wenn der Kartenzeichner ein anderer gewesen war?
Immerhin war die Karte mit unsichtbarer Tinte gezeichnet worden. Es konnte also gut sein, dass jemand die Kartenstücke gezeichnet hatte, um den Lageplan von was-auch-immer zu verstecken, und ein anderer, der dies nicht wusste, hatte auf den scheinbar unbeschriebenen Blättern dann später diesen Brief geschrieben, in der Annahme, es handele sich um unbeschriebenes Papier. Graf wusste von Jasmin, dass Papier damals etwas Kostbares und Teures gewesen war. Man hatte also ein scheinbar leeres Blatt nicht einfach in den Müll geworfen wie heutzutage.
Graf seufzte. Diese Rätsel hatten ihren Reiz, aber man konnte daran auch gut seine Gehirnwindungen verbiegen. Also genau das Richtige für einen Mann, der nichts Besseres zu tun hatte, um sich zu beschäftigen. Graf musste sich eingestehen, dass er von dem Programm nicht viel Ahnung hatte, das Jasmin benutzte. Aber er war ein guter Beobachter und lernte schnell. Er hatte sich einige der Tastenkombinationen gemerkt, die Jasmin beim Bearbeiten der Bilder nutzte.
Graf drückte vorsichtig eine Dreierkombination von Tasten und rief dann den Browser auf. Vor ein paar Wochen hatte er noch nicht einmal gewusst, was das war, ein Browser, und nun ging er damit schon um, als sei das das Normalste der Welt. Das war es für mehrere Millionen Menschen ja auch, aber Graf kam sich vor wie Alice, die das Wunderland entdeckte.
Er rief Google Maps auf, gab dort „Emden“ ein und drückte dieselbe Tastenkombination noch einmal. Wie von Zauberhand erschien eine Landkarte von Ostfriesland, über der die Striche und Zeichen lagen, die Jasmin von dem Papier gescannt hatte. Graf hatte zwei Menüs auf dem Bildschirm. Das eine steuerte den Maßstab der Landkarten in Google Maps, das andere den der darüber liegenden Projektion.
Graf regelte den Kartenmaßstab hoch und den der Projektion hinunter und begann, nach Ähnlichkeiten zu suchen. Er wusste, dass er die Nadel im Heuhaufen suchte, aber es war ihm egal. Er hatte alle Zeit dieser Welt.
Er ließ seinen Gedanken freien Lauf, rauchte eine Zigarette nach der anderen und nippte zwischendurch an seinem kalt gewordenen Kaffee, während die Bilder unter dem Cursor dahinglitten. Wie groß hatten die damals solche Karten gezeichnet? Schließlich hat es zu der Zeit keine DIN-Normen gegeben. Es musste eine praktische Größe sein. Groß genug, um Details abzubilden. Graf wusste aber nach all den Stunden, in denen er mit Jasmin alte Bücher gewälzt hatte und sich ihre Kommentare dazu angehört hatte, dass man dazumal nicht viel Wert auf Realität gelegt hatte. Karten waren eher eine Art von Rätsel nach bestimmten Regeln, die allgemein bekannt waren und so jedem erlaubten, sie zu lesen, der diese Regeln kannte. Graf kannte sie nicht.
Störtebeker, Wigbold, Grobherz. Hamburg, Keno ten Broke, Nordsee, Ostfriesland vor allem, und da immer wieder derselbe Name, dasselbe Dorf. Graf schwirrte der Kopf. Marienhafe. Er tippte den Ortsnamen in die Suchfunktionszeile von Maps, und die Karte öffnete sich fast sofort.
Ein überschaubares Nest, mitten in Ostfriesland. Graf zoomte die Karte heran und verkleinerte zugleich die Größe der darüberliegenden Projektion aus Strichen und Zeichen.
Marienhafe bot auf der Karte von oben den Anblick, den man gewohnt war, wenn man ländliche Gegenden betrachtete. Ein erkennbarer alter Ortskern mit Siedlungshäusern aus moderneren Zeiten darum herum. Und zusammengewachsen mit anderen Ortschaften, die sich als eckig gefliestes Band am Verlauf der Straßen aufreihten.
Links und rechts neben dem Ort, der schon lange nicht mehr am Meer lag, erstreckten sich weite Wiesen und Felder. Und da waren ein paar Kurven, die Graf bekannt vorkamen. Er veränderte die Größe der aktuellen Karte mit der darüber liegenden Projektion, bis die Striche, die er im Auge hatte, mit den Umrissen vom Kirchhof übereinstimmten. Es gab minimale Abweichungen, aber Graf war sich sicher.
Er lehnte sich zurück und betrachtete den Bildschirm mit zusammengekniffenen Augen. Was er da sah, war das Marienhafe von heute. Wie hatte dieses Kaff damals ausgesehen, als Störtebeker und Konsorten über das ostfriesische Land gewandert waren? Er gab den Suchbegriff „Marienhafe, ostfriesische Küste, Mittelalter“ in die Suchmaschine ein und drückte Enter.
Die ersten Einträge waren irrelevant. Aber unten auf der Seite führte ihn ein Link zu einer alten Karte. Ostfriesland nach der Grooten Mandränke. Damals war das Unglück eher über die nordfriesischen Inseln gekommen. Die Insel mit dem eigenwilligen Namen Strand hatte es zerrissen, und Rungholt war untergegangen. Ostfriesland war dagegen glimpflich davongekommen. Graf konnte die damalige Küstenlinie deutlich ausmachen. Damals hatte Marienhafe einen Zugang zum Meer gehabt. Einen eigenen Hafen. Heute waren es einige Kilometer bis zum Strand, wenn man von Marienhafe aus losging.
Graf kopierte das Bild der Karte und legte es mit der magischen Tastenkombination über den Plan vom heutigen Marienhafe. Damals hatte die Gegend völlig anders ausgesehen.
Graf holte den Plan aus Strichen und Zeichen in den Vordergrund und passte den Plan den Gegebenheiten an. Und die Kurven, Striche und Zeichen stimmten mit den Straßenzügen und dem Umriss des alten Kirchhofs von Marienhafe überein und begannen, Sinn zu ergeben.
Oder eben auch nicht. Die Striche folgten den Kurven des alten Stadtplans, aber sie waren nur ein Teil des ganzen Plans. Ohne die anderen Teile ergaben auch die passenden keinen wirklichen Sinn.
Graf verbrannte sich fast die Finger, so weit war seine Zigarette heruntergebrannt. Er ließ die Kippe in den Ascher fallen. Wie lange starrte er schon auf den Bildschirm? Er schaltete den Bildschirm aus, ließ aber den Rechner laufen. Wenn Jasmin aus ihrem Koma erwachte, wollte er ihr zeigen, was er herausgefunden hatte.
Er ging in die Küche und brühte sich einen neuen Kaffee.
*
Wilkens war sauer. Heidmüller hatte ihm das Zepter aus der Hand genommen. Er war wütend und warf das Büchlein entsprechend heftig auf den Tisch. Durch den Schwung schlitterte das Buch quer über den Schreibtisch und darüber hinaus. Wilkens ließ es auf dem Boden liegen, wo es gelandet war.
Er ließ sich schwer in seinen Schreibtischsessel sinken und seufzte tief. Warum konnte nicht einmal etwas so laufen, wie er es sich wünschte? Er sollte sich um diese Schwarte kümmern. Verdammte Scheiße, das war einfach alles zum Kotzen! Wilkens zog die untere Schublade seines Tisches auf, griff sich die Flasche mit Weinbrand und schraubte sie auf. Er kippte gut ein Viertel in sich hinein, als tränke er Wasser, verschloss die Flasche und ließ sie wieder in der Lade verschwinden, aus der er sie geholt hatte. Der Alkohol machte seine Laune nicht besser. Wilkens wäre am liebsten einfach nach Haus gegangen und ins Bett gefallen. Aber das konnte er nicht bringen. Einmal, weil er ein Polizist war und von ihm erwartet wurde, dass er seine Pflicht tat, zum anderen, weil er sich die letzte Chance nicht durch die Lappen gehen lassen wollte.
Wilkens atmete tief durch. Dann würde er eben in den sauren Apfel beißen …
Er quälte sich aus seinem Sessel hoch und sammelte das Buch vom Boden auf. Ein paar Seiten wiesen Knicke auf, und so mancher Zettel war aus dem Buch gefallen, als Wilkens es geworfen hatte.
Wilkens legte die Zettel auf den Stapel Papier, der seinen Tisch zierte, und das Buch neben die Tastatur des Computers. Er hasste diesen Teil der Polizeiarbeit, den er stets einen der untergeordneten Chargen abarbeiten ließ, wenn das nur irgendwie zu machen war. Aber die hatte Heidmüller bereits in Beschlag.
Wilkens bequemte sich endlich, die vorgeschriebenen Handschuhe anzulegen. Er hatte stets welche in der obersten Schublade, wie er es sollte, aber hasste es, sie zu benutzen. Man bekam darin immer so schwitzige Finger.
Wilkens begann, sich das Buch genauer anzusehen. Der Umschlag und die Seiten des Buchs waren mit Blut verunreinigt. Auf die Buchseiten selbst war nicht viel geraten. Marginal hatten die Blätter es an den Rändern aufgesogen. Wilkens konnte kein Wort von dem lesen, was in dem Buch geschrieben stand, aber das hatte er ohnehin erwartet.
Er blätterte das Büchlein von vorn bis hinten durch, damit er sagen konnte, es getan zu haben. Gebracht hatte das nichts. Wilkens verpackte das Buch wieder in der Plastiktasche und nahm sich die Fotos vor, die dem Bericht der Forensikerin beilagen. Toll. Aufnahmen von Blutflecken auf einem Buchdeckel.
Wilkens legte die Fotos in den Scanner, der neben dem Bildschirm auf seinem Tisch stand. Die Bilder würden sich gut machen, wenn er sie in seinen Bericht einfügte. Die Maschine summte, ein heller Lichtschein wanderte unter dem geschlossenen Deckel des Scanners hoch und runter, dann erschien das gescannte Bild auf Wilkens’ Bildschirm.
Wilkens drückte die Tasten, die das Bild speichern würden, und gab einen Dateinamen ein. Und speichern.
Da waren ja noch die Blätter, die aus dem Büchlein gefallen waren. Wilkens seufzte gelangweilt. Sollte er sich wirklich die Mühe machen und diese Zettellage auch noch scannen? Wilkens griff sich die vergilbten Blätter und musterte das zuoberst liegende. Geschreibsel, völlig unleserlich, wenn auch von einer gewissen Eleganz. Er legte das Blatt beiseite und betrachtete das nächste. Ein kalter Schauer lief ihm den Rücken hinunter. Was er da vor sich hatte, sah fast genauso aus wie das Bild, das die Dreyersche auf ihrer Festplatte gespeichert hatte!
Das war kein Zufall! Wilkens warf noch einen kurzen Blick auf die restlichen Zettel, die aber so uninteressant waren wie der erste. Dann legte er das besondere Blatt auf den Scanner und ließ das Gerät beide Seiten abtasten. Und speichern!
Wilkens starrte auf den Schirm. Er konnte Buchstaben erkennen. Er zog seinen Terminplaner zu sich heran und begann abzuzeichnen, was er sah.
*
Die Wohnung war ungepflegt. Es stank wie in einer schlecht gelüfteten Kneipe in Nowosibirsk, nach Zigaretten und schalem Bier mit einem Hauch alten Abfalls, der vor Tagen hätte hinuntergetragen werden müssen.
Chukov öffnete eines der Fenster über dem Schreibtisch und ließ frische, kühle Stadtluft herein. Er startete den Rechner und trat einen Schritt zurück. Diese Wohnung entsprach so gar nicht dem, was er sich unter dem Lebensumfeld eines Kriminalbeamten vorgestellt hatte. Sie entsprach eher dem gelebten Klischee des versoffenen Privatdetektivs als der Wohnung eines Vertreters des Rechtssystems.
Der Rechner fuhr hoch, ohne nach einem Passwort zu fragen. Chukov hatte nicht gedacht, dass es ihm so einfach gemacht würde. Er war darauf vorbereitet, erst ein Passwort oder irgendeine Sperre überwinden zu müssen, aber so war es natürlich viel einfacher …
Chukov steckte die externe Festplatte ein, die er mitgebracht hatte, und begann damit, eine Kopie der gesamten Daten anzufertigen, die auf dem Rechner waren. Er würde sich in Ruhe ansehen, was da drauf war, wenn er wieder in seinem kleinen Hauptquartier ankam.
Während die Festplatte die Dateien von dem Rechner des Polizisten saugte, begann der Russe damit, kleine Spionagekameras in der Wohnung zu verteilen. Jeder Raum wurde bestückt, selbst Bad und Toilette. In Wohn- und Schlafraum kamen zwei, in die Küche sogar drei Kameras. Diese Geräte waren so winzig, dass man sie kaum finden konnte, selbst wenn man von ihnen wusste und auch, wo sie versteckt waren. Der Nachteil war, dass die winzigen Sender der winzigen Kameras eine schlechte Reichweite hatten.
Aus diesem Grund stieg Chukov bis zum Dachboden hoch. Der mobile Router war unwesentlich größer als eine Zigarettenschachtel und verschwand in einem Spalt zwischen zwei Dachbalken. Chukov teste mit seinem Smartphone, ob das Gerät die Signale der Kameras empfangen konnten. Sie funktionierten tadellos und ließen sich problemlos steuern. Zufrieden schaltete Chukov das Smartphone wieder aus. Jetzt hatte er Freizeit bis zu seiner nächsten Verabredung. Noch wenigstens fünf Stunden, die er angenehm zu verbringen gedachte.
Er verließ die Wohnung und achtete sorgsam darauf, von niemandem gesehen zu werden. Ein paar Straßen weiter fand er einen Taxistand und stieg in den Fond des ersten Wagens. „Zum Geizhaus … Sie wissen, wo das ist?“
Der Fahrer grinste, nickte, schaltete seinen Taxameter ein und startete den Wagen. Natürlich wusste er, wo dieser Fahrgast hinwollte.
*
Hauptkommissar Heidmüller fläzte sich wohlig in dem bequemen Ledersessel, der am Fenster stand, und genoss den unglaublichen Blick über die Elbe. Dieser Kerl, dieser Brodersen, hatte gewusst, wie man lebt. Heidmüller hatte Küche und Bar inspiziert. Alles nur vom Feinsten! Champagner, edle Weine, Kaviar in Dosen. Selbst die Konserven und das Gefrorene im Tiefkühlschrank waren so edel, dass sie das Einkommen eines Hauptkommissars überfordert hätten.
Die Spurensicherung hatte alle Spuren gesichert, die sie hatte finden können, und war abgezogen. Im Hausflur wuselten die letzten Uniformierten herum, und die Neue klapperte die umliegenden Wohnungen ab, um Zeugen zu finden.
Heidmüller spielte derweil mit dem Gedanken, sich an einem der edlen Whiskys zu vergreifen, die nun herrenlos ihr Dasein in der Hausbar fristeten. Der brave Beamte in ihm protestierte überzeugend genug.
Dieser Brodersen, der Unfalltote mit dem geklauten Buch, war augenscheinlich ein braver Bürger in der oberen Einkommensklasse gewesen. Nicht unglaubwürdig bei seinem Beruf. Bei seiner Firma hatte Heidmüller sich schon telefonisch avisiert und mitgeteilt, dass ihr Angestellter wohl nie wieder zu spät zur Arbeit kommen würde. Aber ein persönlicher Besuch, das war eher ein Termin für morgen.
Heidmüller hatte sich gründlich in der teuer möblierten Wohnung umgesehen. Solche Appartements besaßen meist einen Safe. Er hatte hinter jeden Bilderrahmen gesehen und an allen möglichen Verzierungen gezogen und gedrückt, aber kein geheimes Fach hatte sich geöffnet. Der Kommissar drehte den Schlüsselbund des Toten zwischen den Fingern. Daran hingen die üblichen Schlüssel, wie man sie erwartete. Und zwei, die anders waren. Der eine war ein flacher Schlüssel, eigentlich nur eine Platte in T-Form, mit seltsamen Erhebungen auf beiden Seiten. Der andere ein dünner Bartschlüssel, der kompliziert gefräst worden war. Ein Safeschlüssel? Heidmüller seufzte und machte sich wieder ans Suchen.
„Zwölf Parteien, wovon ich fünf erreicht habe und befragen konnte. Die anderen sind wohl noch auf der Arbeit.“ Polizeikommissarin Seiler lächelte fröhlich zu Heidmüller herüber.
„Was?“, fragte der entgeistert. Er war mit dem Kopf ganz woanders gewesen und hatte die junge Kollegin nicht eintreten hören.
„Im Haus wohnen dreizehn Parteien. Der hier ist tot. Also noch zwölf. Davon habe ich fünf angetroffen. Sieben muss ich noch mal aufsuchen …“ Sie lächelte noch ein wenig freundlicher. Heidmüller fragte sich, ob diese Person überhaupt nichtlächeln konnte. „Das mache ich nach siebzehn Uhr. Dann sollten alle langsam wieder in ihr Zuhause eintrudeln.“
„Ah ja …“ Heidmüller machte eine einladende Geste und drehte sich wieder zu dem Schrank um, den er untersucht hatte. „Dann können Sie mir helfen, den Tresor zu suchen.“
„Einen Tresor?“ Frau Polizeikommissarin Seilers Lächeln sah nun verwundert aus. Aber sie lächelte.
„Einen Safe, genau!“, bestätigte Heidmüller. „Ich habe alles geprüft, aber da ist nichts. Sie dürfen aber gern selbst nachsehen. Hauptsache, wir finden ihn. Und ich bin mir sicher, dass es einen gibt.“ Er öffnete eine weitere Schranktür und untersuchte Inhalt und Rückwand.
Die Kommissarin stand da, tippte mit dem Zeigefinger gegen die Nasenspitze und musterte den Raum mit gerunzelter Stirn. Wenn sie alle Bilder – und von denen gab es eine Menge in dieser Wohnung – aus der Gleichung strich, alle Schränke und offensichtlichen Verstecke, dann blieben nicht mehr viele Stellen übrig. Entweder war der Safe sehr, sehr gut versteckt, oder er stand so offen und für aller Augen sichtbar da, dass man ihn übersah, einfach nicht wahrnahm. Kommissarin Seiler kniff ein Auge zu und drehte sich auf dem Absatz, bis sie das ganze Zimmer einmal rundum gesehen hatte.
Was sie sah, war eine saubere, modern und teuer eingerichtete Wohnung. Bauhaus. Kühl und distanziert, kubistisch beeinflusst, was sich auch in den Bildern spiegelte, die an den Wänden hingen.
Renate Seiler kannte ihre Stärken und ihre Schwächen. Sie wusste, wie sie auf Menschen wirkte, und sie war sich im Klaren darüber, dass sie permanent unterschätzt wurde. Sie hatte gelernt, das zu ihrem Vorteil zu nutzen. Eine ihrer Stärken war eine scharfsinnige Analyse von Sachverhalten. Der Raum wirkte einheitlich, homogen. Der einzige Bruch, den sie erkennen konnte, war ein antiker Schrank. Die Türen des Schranks standen offen. Kollege Heidmüller hatte dieses Möbel also schon untersucht.
Er schien nichts gefunden zu haben, sonst hätte er sich mit einem „Heureka!“ gemeldet. Renate Seiler hockte sich vor das Möbelstück. Heidmüller hatte den Schrank bewegt und nach vorn gezogen, um dahinter schauen zu können. Auch dort war nichts zu sehen gewesen. Schleifspuren auf dem blanken Boden zeigten, dass der Schrank nicht nur einmal, sondern mehrfach mindestens einen halben Meter weit geschoben worden war.
Die Kommissarin sah sich kurz nach ihrem Kollegen um, der sich mit dem Bücherregal beschäftigte und ihr den Rücken zuwandte.
Renate Seiler zog ihren Rock hoch, damit die blanken Pobacken besseren Halt auf dem glatten Boden fanden. Sie stemmte die Beine gegen den alten spanischen Schrank, die Hände hinter sich aufgestützt, um dagegen drücken zu können.
Der Schrank ließ sich einfacher schieben, als sie gedacht hatte. Sie drückte ihre Knie durch, wodurch der Schrank gut dreißig Zentimeter verrückt wurde. Renate Seiler schob angespornt weiter. Der Schrank glitt fast geräuschlos in Richtung der Couch.
Und da war, was sich Kollege Heidmüller gedacht hatte. In das Parkett des Bodens eingepasst lag eine messingfarbene Platte. Sie schlug die Beine unter und kniete sich vor die Platte. Die Metallplatte bestand aus einem Rahmen von etwa fünfzig Zentimetern Seitenlänge, einer Klappe mit deutlich sichtbaren Scharnieren und einem leicht versenkten Kreis von vielleicht sieben Zentimetern Durchmesser, der dem Rand des Scharniers gegenüberlag.
„Ich glaube, ich habe ihn gefunden, Herr Hauptkommissar!“