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7.

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Brodersen war nicht zur Arbeit gegangen. Er hatte sich krank gemeldet. Zum ersten Mal, seit er in der Firma angefangen hatte. Er war einfach nicht in der Verfassung, sich in der Firma um die lapidaren Dinge zu kümmern, die sein Job mit sich brachte.

Er saß mit einer Flasche Whisky am Fenster seiner Luxuswohnung und starrte ins Leere. Ihm war schlecht, aber das kam nicht vom Alkohol. Seine Hände zitterten noch immer. Nervös zündete er sich eine Zigarette an und rauchte in tiefen, hektischen Zügen, ganz gegen seine Gewohnheit. Er rauchte sonst nie innerhalb der Wohnung, immer nur auf dem Balkon.

Er war gestern in die Universität eingestiegen, um die Bücher zu stehlen. Wie sein Auftrag es verlangt hatte. Er war gut vorbereitet und die Alarmanlage das geringste Problem gewesen. Er hatte nur drei Minuten gebraucht, um sie lahmzulegen. Ein zusammenklappbarer Wagen mit Luftbereifung hatte ihm dabei geholfen, die Bücher in einem Rutsch transportieren zu können.

Er hätte allein sein müssen.

Hätte und müssen, zwei Worte, die Brodersen nicht mochte. Er war nicht allein gewesen. Und dieser kleine, fast glatzköpfige Mann im Apothekerkittel war auf ihn losgegangen. Wie eine Furie hatte er seine Bücher verteidigt. Brodersen war ausgebildet im Nahkampf, trug einen schwarzen Gürtel im Taekwondo und die meisten seiner Kämpfe schnell gewonnen. Nicht bei diesem Männchen! Was Brodersen auch versucht hatte, der Wicht war fort, wenn er zuschlug, und hatte ihn mit Leichtigkeit herumgeschleudert, wenn er angriffen hatte.

Brodersen war zu Boden gegangen, hatte Sterne gesehen. Für einen Augenblick war ihm schwarz vor Augen geworden, und als er seine Sinne wieder beisammengehabt hatte, hatte der kleine Mann tot vor ihm gelegen. Sein Kopf war halb vom Rumpf abgetrennt worden.

Brodersen erinnerte sich, wie er panisch aufgesprungen war. Er war nicht allein gewesen … irgendjemand hatte den Kerl enthauptet. Und er selbst konnte sich nicht erinnern … Er hatte die Bücher geschnappt, die noch fehlten, um seine Liste zu vervollständigen, und sich dann so schnell es ging aus dem Staub gemacht.

Er war ein Profi. Sicher hatte er keine verwertbaren Spuren hinterlassen, anhand derer man ihm den Raub nachweisen konnte. Doch da war auch ein ganz, ganz mieses Gefühl in seinem Magen. Ein Toter! Er hatte schon vorher Tote gesehen und selbst Menschen getötet, aber das war im Krieg gewesen. Das war sein Job gewesen. Jetzt war es sein Job, Dinge zu beschaffen. Nicht Leute umzubringen. Aber es war ja nicht er gewesen, der den kleinen, wehrhaften Kerl abgemurkst hatte … oder doch?

Konnte es sein? In Raserei, sozusagen? Aber nein, womit hätte er das tun sollen? Er hatte sich den Kopf nicht genauer angesehen, aber er hatte doch erkannt, dass der Hals sauber durchgeschnitten worden war. Für so etwas brauchte man ein großes Messer oder ein Schwert. Ein sehr, sehr scharfes Schwert.

Brodersen trank. Und rauchte. Und trank noch mehr. Als die Sonne hinter den Horizont sank, war er so betrunken, dass er kaum noch in sein Bett kam. Er fiel schwer nach vorn in die seidenen Kissen. Fühlte, wie sich das Zimmer um ihn drehte, aber er konnte nicht in den Schlaf finden. Da war dieses Bild, das ihm immer wieder vor Augen stand. Das Bild eines Mannes mit weit aufgerissenen Augen und gebleckten Zähnen.

*

Vor der Uni bemerkte Wilkens, dass es keine gute Idee gewesen war, sich von Heidmüller abzusetzen. Er hatte seinen Wagen nicht dabei. Und die Fahrbereitschaft brauchte das entsprechende Formular, damit sie ihre Touren abrechnen konnten. Das Formular hatte Heidmüller. Wilkens überlegte kurz, ganz kurz, ob er zu Heidmüller gehen und sich ein Formular holen und einen Wagen in der Zentrale anfordern sollte. Er entschied sich dagegen, noch bevor er das Szenario zu Ende gedacht hatte.

Mit unwilligem Gesichtsausdruck stampfte Wilkens die Grindelallee in Richtung Hoheluftchaussee entlang. Das war ein gutes Stück zu gehen, gab ihm aber Zeit, zu überlegen, was er tun sollte. Die Bücher von diesem Magister Dingsbums waren geklaut und ein Professor umgebracht worden. Der Vogel hatte an den Büchern von Dingsbums gearbeitet. Jasmin Dreyer hatte bei ihm gearbeitet. Sie hatte ihm unschön gekündigt. Die Bücher waren gestohlen worden. Dreyer. Diebstahl … Wilkens Kopf rauchte. Da war irgendwo ein Zusammenhang, das konnte er spüren! Diese kleine Punkerbraut mit dem intellektuellen Einschlag hatte irgendetwas mit diesem Raubmord zu tun.

Die Frage war, was er nun unternehmen sollte. Da waren wieder diese Gedanken an den Schatz. An irgendeinen Schatz, den irgendein gottverfluchter Pirat vor beschissen vielen Jahren irgendwo versenkt hatte. An verdammt viel Kohle! Kohle, an die er niemals herankommen würde, wenn er sich wie ein braver Polizist verhielt. Diese kleine Punkerbraut wusste etwas. Ganz klar. Wie konnte er nun aus ihr herausquetschen, was sie wusste?

Wilkens erreichte die U-Bahn-Station Hoheluftchaussee, ohne zu einem Ergebnis gekommen zu sein. Die einzige Möglichkeit, an das Fräulein Dreyer heranzukommen, wäre eine Durchsuchung, hochamtlich natürlich. Immerhin hatte sie Streit mit einem Mann gehabt, kurz bevor dieser das Zeitliche gesegnet hatte. Grund genug für eine Durchsuchung. Nur gab es da ein dickes, fettes Aber. Eine Durchsuchung hatte ihre Nachteile. Wilkens konnte nicht steuern, dass er derjenige sein würde, der den entscheidenden Hinweis fand, wenn es denn einen gab. Und wenn ein anderer als er fand, was da vielleicht zu finden war, dann würde es richtig kompliziert werden.

Wilkens löste eine Fahrkarte. Die Bahn kam, als er, völlig verschwitzt und schwer atmend, oben auf den Bahnsteig trat. Er wischte sich die dicken Tropfen von der Stirn. Dunkle, feuchte Stellen blieben auf dem Ärmel seines grauen Sakkos zurück. Er lockerte seine Krawatte und ließ sich schwer auf einen der freien Einzelsitze fallen.

Vor allem musste Wilkens dafür sorgen, dass sich Kollege Heidmüller nicht zu sehr mit der Dreyer beschäftigte. Heidmüller hatte Ehrgeiz, und Wilkens verabscheute ehrgeizige Menschen. Wenn Wilkens erreichen konnte, dass der eifrige Kollege sich nicht mit Fräulein Dreyer beschäftigte, dann könnte er selbst die junge Dame befragen. Sozusagen „unter Freunden“. Genau! Man kannte sich ja. Wilkens schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. Wie blöd konnte man denn sein? Natürlich! Die Dreyersche wusste ja nicht, wie er über sie dachte. Und es war ja normal, wenn nach einem Mord alle befragt wurden, die das Opfer gekannt hatten.

Fast hätte Wilkens an der Kellinghusenstraße das Umsteigen in die U1 verpasst. Die Bahn wartete auf der anderen Bahnsteigseite, und er hechtete zwischen den sich schon schließenden Türhälften hindurch.

In seinem Büro angekommen, fuhr Wilkens seinen Rechner hoch. Noch war Heidmüller nicht zurück. Er suchte alles zusammen, was er über den Bücher-Wigbold-Fall auf seinem Rechner hatte. Darunter befand sich auch eine Liste der Bücher, die man aus dem Loch geborgen hatte, das dieser Graf und die Dreyersche gefunden hatten. Griechische und römische Autoren, eine kostbare Bibel, Bücher über Bücher. Die meisten Titel sagten Wilkens rein gar nichts. Weshalb hatte jemand diese Bücher entwendet?

Diese Bücher, so kostbar sie sein mochten, waren so gut wie unverkäuflich.

Aber wenn es stimmte, dass ausschließlich Bücher gestohlen wurden, die aus dem Schatz dieses Wigbold stammten, dann steckte etwas dahinter. Man musste kein Sherlock Holmes sein, um das zu erkennen. Die Frage war nur, was das sein konnte, was sich da unter der Oberfläche verbarg. Wilkens lehnte sich zurück. Der Sessel ächzte unter ihm. Was konnte er tun?

„Wilkens? Schon zurück.“ Heidmüller spähte durch die halb offene Tür.

„Hab die Bahn genommen.“

Heidmüller lachte. „Ach? Und der HVV hat sie schneller hergebracht, als es der Fahrdienst getan hätte?“

„Musste mal den Kopf klarkriegen“, knurrte Wilkens und log dabei nicht einmal. „Und was war bei dieser … Enthauptung? Neue Erkenntnisse?“ Wilkens stemmte sich aus dem Sessel hoch. Der Sessel stöhnte erleichtert.

„Bisher nicht. Ich warte aber noch auf den forensischen Bericht und die Liste der Bücher, die geraubt wurden. Die Unileute sagten, sie bräuchten mindestens noch bis morgen, um das Inventar zu sichten. Aber ich habe ein paar Namen bekommen. Leute, die nicht grade Freunde von diesem Doktor Lindner gewesen sind.“ Heidmüller griff in sein Sakko und zog seinen Notizblock heraus. „Sind ein gutes Dutzend Leute.“

„Und ist was Interessantes dabei? Ich meine, haben Sie bei einem ein Gefühl?“, fragte Wilkens in uninteressiertem Tonfall, obwohl er Heidmüller den Wisch am liebsten aus den Pfoten gerissen hätte.

„Na, … nööh. Nicht wirklich“, murmelte der. „Ich meine, dieser Hausmeister, Brakelmann, mit dem hatte der tote Doktor wohl richtig Zoff. Wegen der Heizung. Heizungsluft schadet den Büchern, und die Luftfeuchtigkeit muss entsprechend angepasst werden. Und das hat der Facility Manager wohl ab und an verkackt. Grund genug für Dr. Lindner, ihn in aller Öffentlichkeit als Arschloch zu titulieren. Aber der Mann ist über sechzig. Und hat nicht die beste Konstitution. Kann so einer einen Mann fast enthaupten? Dann wäre da noch diese Assistentin, die gekündigt hat. Frau …“ Heidmüller blätterte zur nächsten Seite um.

„Dreyer“, sagte Wilkens lahm. „Jasmin Dreyer. Die können Sie von der Liste streichen.“

„Weil Sie sie kennen?“

„Weil sie mir meine Pelle gerettet hat. Die ist nicht so eine, die einbricht.“

„Bei aller Liebe und Respekt vor deinem Instinkt, Kollege Wilkens, aber die Frau macht Kampfsport, irgendwas Chinesisches, sagte man mir. Sie hatte mit Sicherheit einen Hals auf diesen arroganten Doktor, den man ihr vor die Nase gesetzt hat, und sie hat ihn vor Zeugen bedroht. Oder beschimpft, da sind sich die Zeugen mal wieder nicht einig. Wenn das keine Motive sind!“

Scheiße, dachte Wilkens. „Blödsinn. Ich kenne die Frau. Das steht bei der nicht auf dem Plan. Die ist so was von integer, das glaubt man kaum, wenn man sie so sieht in ihrer Lederjacke und mit den hochtoupierten Haaren. Glauben Sie mir, Heidmüller.“

„Na, wenn Sie‘s sagen.“ Heidmüller machte kehrt.

Weshalb versuchte Wilkens, ihm diese Idee mit der Dreyer auszureden? Das ging dem Kriminalisten in ihm gewaltig gegen den Strich und bestärkte ihn nur in seinem Vorgehen. In seinem Büro griff er sofort zum Telefon.

„Heidmüller hier. Ich brauche einen Durchsuchungsbefehl. Und es ist dringend, es besteht Verdunklungsgefahr. Sollte also schnell gehen. Am besten wäre, wenn wir noch heute … Ja, natürlich besteht mehr als nur ein Anfangsverdacht. Auf den Namen Jasmin Dreyer, wohnhaft …“

Wilkens nahm das Ohr von der dünnen Trennwand, die Heidmüllers Büro von der Toilette trennte. Mehr musste er nicht hören. Genau das hatte er vermeiden wollen. Konnte denn nicht einmal alles reibungslos gehen?

Fünf Minuten später verließ Kriminalhauptkommissar Wilkens das Präsidium.

*

Onno Becker hielt sich den schmerzenden Schädel. Sein Hotelzimmer sah aus, als habe er eine wilde Party gefeiert. Was zum Henker war los gewesen? Becker erinnerte sich, dass er essen gegangen war. In irgendeinem italienischen Restaurant in einer der Nebenstraßen, die von der Reeperbahn abgingen. Er hatte nicht viel getrunken, zwei Gläser von einem recht guten Rotwein und ein Glas Kräuterbitter. Davon wurde man nicht so besoffen, dass man beim Aufwachen nicht mehr weiß, wie der eigene Name lautet!

Wo war er gewesen, nachdem er das Restaurant verlassen hatte? Sosehr Becker es versuchte, er konnte sich nicht erinnern, wo er gewesen und wie er in sein Hotelzimmer gekommen war.

Aber an einen Traum konnte er sich erinnern … einen grausamen Traum mit Gewalt und Blut. Bilder eines Mannes ohne Kopf und andere von Schiffen unter Segeln auf hoher See. Keine Schiffe, wie man sie aus „Fluch der Karibik“ kannte, eher solche, wie man sie wohl zu Zeiten der Hanse baute. Fast konnte er das Salz in der Luft riechen …

Becker beschloss, seinen Hamburgaufenthalt abzubrechen. Er wollte nur noch nach Hause. Vielleicht war es die Stadtluft, die angeblich frei machte. Möglich, dass sie das tat, aber ihm verstopfte der Smog eher die Nase. Weswegen er eigentlich in der Hansestadt war, hatte er erledigt. Er hatte bei der Auktion das höchste Gebot abgegeben, und nun gehörte ihm das, weswegen er all dies auf sich genommen hatte.

Becker schluckte eine Kopfschmerztablette und spülte sie mit Leitungswasser hinunter. Er sammelte seine teilweise übel zugerichteten Sachen ein und warf sie in seinen Koffer. Ein frisches Shirt und eine saubere Jeans – und schon fühlte er sich wieder menschlicher.

Er checkte aus und ging langsam zur U-Bahnstation. Von da aus waren es nur einige wenige Haltestellen bis zum Hauptbahnhof. Der nächste Zug in Richtung Wilhelmshaven war seiner. Die Schmerzen in seinem Schädel nahmen langsam ab, und Onno fragte sich, ob das eine Folge der Tablette war oder der zunehmenden Entfernung zu Staub und Abgasen.

Der Traum der vergangenen Nacht ging ihm nicht aus dem Sinn. Er erinnerte sich in den seltensten Fällen an seine Träume, und wenn, dann als Folge unscharfer, verschwommener Bilder. Dieser Traum stand ihm so deutlich vor Augen, als habe er sich einen Spielfilm angesehen, der ihn wirklich gefesselt hatte. Die Segelschiffe waren so detailliert gewesen, und, was für Onno Becker das Seltsamste war, er konnte jedes Teil an den Schiffen benennen und wusste, wozu es diente. Dabei hatte er herzlich wenig Ahnung von der christlichen Seefahrt. Er konnte kaum einen Optimisten von einer Bark unterscheiden. Oder doch … Jetzt konnte er es. Aber woher kam dieses Wissen? Er konnte sich doch wohl kaum ‚intelligent träumen‘! Oder sich durch einen Traum Wissen aneignen. Er beschloss, das nautische Handbuch in seinem Kopf daheim auf den Prüfstand zu stellen.

Der Zug erreichte den Kopfbahnhof in Wilhelmshaven mit Verspätung, und ein ebenfalls verspäteter Bus brachte ihn in den kleinen Ort auf dem flachen Land, an dessen Rand das Haus stand, in dem er lebte. Hier war er geboren worden, hier hatte er seine Jugend verbracht, und hierher war er zurückgekehrt, nachdem er für einige Jahre in Frankfurt und München gearbeitet hatte. Er hatte das Haus geerbt, nachdem seine Eltern kurz hintereinander verschieden waren.

Es war ein altes, ein sehr altes Haus. Auf einem Fundamentsockel aus Feldsteinen erhob sich ein schwarzes Eichenbalkenfachwerk und weiß getünchte Gefachen aus Lehm. Viele Häuser in der Gegend waren mit Reet gedeckt. Sein Haus wurde von einem grün überwucherten, mit Moos bedeckten Ziegeldach der alten Machart gekrönt, aus jenen ehemals roten Biberschwanzpfannen, die dem Bau seine Ehrwürdigkeit verliehen.

Becker ließ sein Gepäck in der großzügigen Diele stehen, ging in sein Wohnzimmer, ließ sich auf das Sofa fallen und schlief fast sofort ein.

Er stand am Hafen und sah auf das Schiff. Auf sein Schiff. An Bord würden seine Männer auf ihn warten. Er drehte sich um und ging durch die vor ihm liegende Gasse, vorbei an der klobigen Feldsteinkirche mit den schlitzartigen Fenstern und hinaus aus dem Ort. Immer nach Osten. Der Turm erhob sich unübersehbar aus der Landschaft, groß, dunkel, bedrohlich. Dorthin wollte er. Aber je näher er dem Turm kam, desto schwerer wurde es, vorwärts zu kommen. Der Boden klebte an seinen Stiefeln, saugte sich an den Sohlen fest, als versuche er, ihn daran zu hindern, zu seinem Ziel zu kommen.

Schweißgebadet wachte Becker auf. Es war Nacht geworden. Die Uhr zeigte Viertel vor elf. Er machte Licht und brühte sich einen Becher Tee, den er mit einem guten Schluck Aquavit verlängerte. Es war warm in der Stube, so störte ihn sein verschwitztes Hemd nicht zu sehr. Becker trank den Tee in kleinen Schlucken, und die trüben Bilder seines Traums vergingen wie Bodennebel in der Sommersonne. Er hatte sich seit der Auktion noch gar nicht seine Erwerbung ansehen können.

Becker ging in den Flur und holte das lange Gepäckstück in die Wohnstube, das Ähnlichkeit mit einem verpackten Regenschirm hatte. Wegen des Gegenstandes, der unter der Verpackung steckte, war er nach Hamburg gefahren. Nicht oft werden Sammlungen aufgelöst und versteigert, und es grenzte an ein Wunder, dass er überhaupt den Zuschlag erhalten hatte. Er hatte nicht mehr bieten können, war ans Limit gegangen. Aber niemand hatte mehr geboten als er!

Er hatte nach antiken Waffen gesucht, einem alten Hobby, dem er ab und an noch nachging. In seinem Besitz waren bereits mittelalterliche Mordwerkzeuge wie Äxte, Morgensterne, Dolche und Kriegshämmer. Und auch Nachbildungen von Schwertern nannte er sein Eigen. Keine billigen Dekowaffen, sondern wirkliche Schwerter. Nach bester Handwerkskunst gearbeitet und rasierklingenscharf, aber eben nicht antik.

Anders als die Waffe, die er ersteigert hatte. Becker hatte das Bild des Schwertes im Katalog gesehen und sofort gewusst, dass er es haben wollte. Dass er es haben musste!

Die Waffe war unauffällig, ohne Ornamente gearbeitet. Ein mit Eisendraht umwickelter Griff zu anderthalb Hand, ein dicker, schwerer, fast kugelförmiger Knauf und eine nur leicht nach vorn gebogene Parierstange mit bogenförmigen Enden, so dass sie wie eine liegende Sechs wirkte. Die Schneide wies einige Gebrauchsspuren auf, war aber in einem sehr guten Zustand. Rostnarben hatte er nur wenige erkennen können. Es war ein Gebrauchsschwert aus dem ausgehenden vierzehnten oder frühen fünfzehnten Jahrhundert. Gemacht, um damit zu kämpfen und gegebenenfalls auch zu töten. Die Waffe eines Kriegers.

Becker schlitzte die Packbandstreifen auf, die um das Schwert gewunden worden waren, und ritzte in die Folie, unter der die Klinge zum Vorschein kam. Beckers Rücken durchfuhr ein Zucken. An der Klinge klebte eine dunkle Schicht aus bräunlichem Material. Er wurde bleich. Es war wie in dem Traum vom gestrigen Abend. Sofort stand ihm das Bild des enthaupteten Mannes mit der weißen Kleidung vor Augen.

Die Stadt unter dem Land

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