Читать книгу Die Stadt unter dem Land - Ralph G. Kretschmann - Страница 16

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Es geschahen noch Zeichen und Wunder! Chukov war darauf vorbereitet gewesen, dass man ihm auflauerte. Er hatte alle Sicherheitsmaßnahmen getroffen, die ihm eingefallen waren, und so, wie es aussah, hatte er sich diese Mühe umsonst gemacht. Er hatte das Bündel Geld dreimal gezählt, es änderte sich aber nichts daran. Er hatte wirklich sein Geld erhalten. Und einen neuen Auftrag.

Finde den anderen Dieb. Wieder nur ein einfacher Satz, der seinen Auftrag beschrieb, aber da gab es so einige Unsicherheitsfaktoren. Chukov brauchte dazu Informationen, die er nur leider nicht so einfach bekommen würde. Er brauchte die Ermittlungsergebnisse der Polizei.

Die Namen der ermittelnden Beamten herauszubekommen war kein Problem. In die Datenbank der Polizei hineinzukommen, schon. Chukov war kein Hacker. Seine Computerkenntnisse waren anderer Natur. Wenn nötig, kannte er genug Leute, die ihm für die richtige Bezahlung helfen konnten, wo er versagte. Er würde sich einen anderen Weg suchen. Er fand einen Bericht der Hamburger Morgenpost, der online stand und in dem die Namen der Bullen erwähnt wurden. Wilkens und Heidmüller. Beide Hauptkommissare. Na schön, dachte sich der Russe. Dann werde ich mal sehen, was ich über diese Herren herausfinden kann.

Eine gute Stunde später wusste Chukov, mit wem er es zu tun hatte. Zwei grundverschiedene Figuren. Heidmüller, glatter Werdegang, Familie, Frau und zwei Kinder. Haus, Auto, Schulden. Ein normaler Deutscher, abgesehen davon, dass er Verbrechen aufklärte und sein Geld vom Staat bezog. Ein langweiliger Mensch, uninteressant bis hin zum Muster seiner Unterhosen.

Der andere schien interessanter zu sein. Eine Laufbahn mit Knicken. Geschieden. Hat sogar schon eine Dispensierung und eine Rückstufung hinter sich. Alkoholprobleme nicht auszuschließen. Hatte erhebliche Unterhaltszahlungen zu leisten und einen bis zum letzten Cent ausgereizten Dispokredit bei der HASPA, der Hamburger Sparkasse. Sich dort hinein zu hacken war kein Problem, wie schon die Herren vom Chaos Computer Club bewiesen hatten.

Chukov speicherte die Daten, nach denen er seine Leute hatte suchen lassen, in zwei Ordnern und schaltete den Laptop ab.

Er verstaute das Geld in seinem Koffer und packte seine Sachen. Dieser Auftrag sollte besser nicht von einem Hotelzimmer aus organisiert werden. Dafür brauchte er eine ruhigere Basis, in der er ungestört arbeiten konnte.

Zwei Stunden und viele Telefonate später war das Problem gelöst. Chukov hatte eine kleine, möblierte Wohnung zu seiner Verfügung, die er für wenig Geld für vier Wochen mietete. Ein Freund von ihm arbeitete in der Modelbranche und hatte immer auf die Schnelle eine Wohnung an der Hand. Und sei es, um ungestört von der Ehefrau eines der Models flachlegen zu können.

Chukov war es im Prinzip egal, aber zu seiner Befriedigung war die Wohnung mit Blick auf die Alster sogar recht geschmackvoll eingerichtet. Er packte seine Koffer aus und inspizierte die Küche und das Bad. Es schien angeraten, einige Dinge einzukaufen. Die „Lange Reihe“ lag in Fußwegreichweite, und er kaufte Seife, Shampoo, Handtücher und vor allem Kaffee und Filter ein. Wodka und ein paar Dosen Sardinen, ein Weißbrot und eine eineinhalb Liter-Flasche Coca-Cola.

Er hatte unterwegs eine Handvoll Lokale gesehen. Es sollte also keine Schwierigkeit sein, irgendwo etwas zu essen aufzutreiben. Er verstaute seine Einkäufe und nahm eine Dusche. Erfrischt setzte er sich im Wohnzimmer vor den Fernseher, schaltete das Gerät an und ließ den Kanal laufen, der eingestellt war. Er hatte anderes zu tun. Er fuhr seinen Rechner hoch und gab den hinterlegten WLAN-Schlüssel ein.

Sein Koffer hatte einen doppelten Boden. Chukov nahm seine Waffen aus dem Geheimfach und legte sie auf den Tisch. Ein guter Handwerker hielt sein Werkzeug instand … Für ihn war es ein Ritual. Er saß da, schärfte die Messer und zerlegte die Pistolen. Setzte sie wieder zusammen, geölt und geladen, aber in seinem Kopf verfolgte er ganz andere Gedanken. Es war wie eine Meditation für ihn.

Seine FN, Kaliber 9 mm, die Beretta und die Ruger verschwanden wieder in dem Geheimfach im Koffer. Eine Walther fand ihren Weg in seine Abendgarderobe. Er wollte nur essen gehen, aber in seinem Metier war es angeraten, immer vorbereitet und wachsam zu sein. Die Pistole verschwand in einem Knöchelholster, das er um sein rechtes Bein trug. Ein dunkler Anzug, hellgraues Hemd, schwarze Krawatte. Er verzichtete darauf, seinen Dreitagebart zu rasieren. Dank sei der Mode!

Er fand ein abgelegenes, kleines griechisches Restaurant und bestellte sich ein großes Gyros. Eine Männerportion. Und dazu eine Flasche Wasser und eine Flasche Ouzo. Er mochte diesen Schnaps. Wie Wodka mit Anis und Lakritz.

Chukov aß und trank sowohl die Flasche Wasser wie auch die Flasche Ouzo restlos aus, zahlte und ging. Die Nacht war fast sternenklar. Er atmete die kühle Nachtluft tief ein. Die Alster lag schwarz vor ihm mit den Reflexen des vollen Mondes auf der gekräuselten Oberfläche. Ein Schwan zog lautlos am Ufer entlang. Chukov suchte sich eine Parkbank und setzte sich. Er zündete sich eine Zigarette an und rauchte sie langsam. Jeder Zug war eine Befriedigung.

Er hatte einen neuen Job. Sein Gehirn gab keine Ruhe. Der Job war das Wichtigste. So hatte er es gelernt. Und dieser hatte es in sich. Er musste an Informationen herankommen, die nur die Polizei hatte. Chukov ging strategisch vor. Er legte sich einen Plan zurecht.

Der Russe trat die Zigarette aus und machte sich auf den Weg zurück zu der kleinen Wohnung, die seine Operationsbasis bildete. Der Ouzo hatte die Vorarbeit getan, der Wodka, den er gekauft hatte, erledigte den Rest. Schwer betrunken fiel Chukov in einen traumlosen Schlaf.

*

Brodersen fühlte sich beschissen, und das war noch ein Euphemismus. Er hatte die Bücher übergeben, sein Job war erledigt, aber er hatte ein Gefühl in der Magengrube, das nichts Gutes verhieß, und er konnte sich auf seine Gefühle verlassen.

Ihm ging der Abend nicht aus dem Kopf. Eine Leiche mit abgetrenntem Kopf, das bekam man nicht alle Tage zu sehen. Wenn er wenigstens gewusst hätte, was da passiert war, würde er sich vielleicht nicht so schlecht fühlen, aber er hatte nicht die geringste Erinnerung.

Er hatte sein Geld bekommen und war gegangen.

Die Bücher hatte er übergeben. Alle, bis auf eines. Eines der alten Bücher war ihm aufgefallen, weil es viele Zeichnungen enthielt, die mit der Seefahrt zu tun zu haben schienen. Es war in einfaches Leder gebunden und größtenteils handschriftlich. Es stand nicht auf der Prioritätenliste, und so hatte Brodersen entschieden, dieses Buch zu behalten. Manche mochten es Unterschlagung nennen, er nannte es Gewinnausgleich.

Er war so in Gedanken versunken, dass er das Baustellenschild am Berliner Tor erst bemerkte, als es zu spät war. Fast ungebremst fuhr er auf den Lastwagen, der mit blinkenden Lichtern in der Einfahrt der Baustelle stand.

*

Wilkens saß gut angetrunken in seinem Fernsehsessel und starrte schon seit einer Weile mit glasigen Augen auf den Bildschirm, ohne der Handlung des ohnehin langweiligen B-Movie auch nur im Mindesten zu folgen. Er grübelte über den Bücherraub.

Er hatte die Festplatte geholt. Der Typ war gut. Er hatte alle Daten ausgelesen und auch noch die zuletzt verarbeiteten Dateien wiederhergestellt.

Wilkens hatte sich sofort darüber hergemacht, kaum dass er zu Hause angekommen war. Und er hatte sich diebisch gefreut, als er eines der Bilder aufrief, die der Datenretter rekonstruiert hatte. Es war ein Scan von einem alten Dokument. Der Scan war offensichtlich nicht an der Uni entstanden, Datum und Uhrzeit sprachen dafür, dass er während oder nach dem Mord in der Universität gemacht worden war. Er hatte doch gewusst, dass diese kleine Schlampe etwas zu verbergen hatte!

Und da hatte er auch den Beweis, dass sie tatsächlich etwas verbarg. Dumm nur, dass ihm das nichts nutzte. Gut, sie hatte offenbar ein Dokument in ihrem Besitz, das aus den Büchern zu stammen schien, die aus der Uni entwendet worden waren! Aber er konnte das nicht verwenden, wenn er nicht auch in Kauf nahm, dass seine Kollegen davon erfuhren.

Andererseits sagte ihm das Bild, das er auf dem Schirm hatte, so ganz und gar nichts. Linien und Buchstaben. Eine Sprache, die er nicht verstand. Was für eine Scheiße!

Wilkens überlegte, ob er noch einmal bei der Dreyerschen nachsuchen sollte, verwarf den Gedanken aber wieder. Es war vielleicht besser, einen anderen Weg zu gehen. Er konnte sie zum Beispiel als Beraterin hinzuziehen. Nein, auch keine gute Idee, denn dann würde sich Kollege Heidmüller mit Gewissheit einmischen.

Oder er suchte sich einen, der mit dem Geschreibsel etwas anfangen konnte, einen Wissenschaftler … Auch der Gedanke landete im geistigen Papierkorb. Einer, der das lesen konnte, was da auf dem Dokument stand, würde auch kapieren, worum es ging. Und Wilkens war sich sicher, dass es etwas mit Geld, Gold oder etwas anderem zu tun hatte, was ihn reich machen konnte. Er wollte nicht teilen, egal, worum es sich handelte.

Ein weiteres Bier fand seinen Weg in den Bauch des Kriminalhauptkommissars.

Wilkens wusste, dass da etwas war, hinter diesem Buchsalat, der ihm im Weg lag. Er wusste nur nicht, wie er das Geheimnis lüften konnte, ohne dass es ein anderer mitbekam. Er war kein Feingeist, kein Intellektueller, der sich in alle möglichen Dinge hineindenken konnte, aber er hatte ein sicheres Gespür für Geheimnisse, und hier lag eines direkt vor ihm. Eines, das ihn reich machen konnte.

Wütend warf er die fast leere Flasche gegen die Wand. Die Flasche zerbarst und hinterließ eine Delle im Putz und in der Tapete. Splitter flogen durch den Raum, und der Rest Bier, der noch in der Flasche gewesen war, bildete einen hässlichen Fleck an der Wand. Wilkens schloss die Augen und fluchte. Seine Unbeherrschtheit brachte ihn nicht weiter. Das Einzige, was er erreicht hatte, war, dass er nun die Splitter zusammenfegen musste. Er beschloss, das auf den nächsten Tag zu verschieben.

Er hatte kein Bier mehr im Haus, aber er hatte noch nicht genug, und so blieb ihm nichts anderes übrig, als zu verzichten oder sich in eine der Kneipen der Gegend zu begeben. Wilkens raffte sich auf, zog seine Jacke über und machte sich auf. Die Eichenburg hatte mit Sicherheit noch geöffnet. Die Kneipe schloss immer erst im Morgengrauen, wenn auch der letzte Säufer den Pegel erreicht hatte. Wilkens beschloss, dass er heute Nacht der letzte sein würde.

*

Der Tote war kaum noch als Mensch zu erkennen gewesen, als er in die Pathologie gebracht wurde. Unfallopfer, stand auf dem Laufzettel. Frau Dr. Schuller seufzte und machte sich an die Arbeit. Leiche, männlich, Verkehrsunfall. Schädeltrauma, offene Brüche an Armen und Beinen. Der Motorblock war in die Fahrgastzelle eingedrungen und hatte die Beine und das Becken des Toten zusammengepresst.

Der Kopf war fast unversehrt. Die toten Augen starrten mit einem Ausdruck von Erstaunen ins Leere.

Trotz der Kühle in der Leichenhalle schwitzte Frau Dr. Schuller, was zum Teil an den Handschuhen lag, zum Teil auch am Anblick der Leiche, die vor ihr auf dem Tisch lag. Sie machte diesen Job schon eine geraume Weile, hatte sich aber an den Anblick von stark mitgenommenen Toten noch immer nicht gewöhnt. Ihr waren normale Tote lieber. Menschen, die an Altersschwäche gestorben waren, an einer Krankheit oder ihretwegen auch durch Mord, aber Verkehrsunfälle mit zerquetschten Körpern waren einfach und ergreifend ein Gräuel für sie.

Sie seufzte, atmete tief durch und machte sich an die Arbeit. Der tote Körper steckte in seiner Kleidung, die genauso hinüber war, wie der Körper selbst. Sie griff zu ihrer Schere und begann damit, Hemd und Sakko aufzutrennen. Der Tote schien ein Besserverdiener gewesen zu sein. Das Jackett besaß kein Firmenetikett. Maßgeschneidert, tippte sie. Ebenso das Hemd aus Seide und Viskose. Was nutzte dem Toten sein Geld nun? Das letzte Hemd hatte keine Taschen, wie es so schön hieß. Und in diesem Fall war das letzte Hemd mit wenigen Schnitten nur noch ein Haufen Lumpen. So, wie der Tote aussah, konnte kein Bestatter da noch etwas retten. Der Sarg würde bei der Beerdigung geschlossen bleiben.

Sie durchtrennte die Ärmel und schnitt dann das Sakko auf. Etwas klemmte in der Schere fest, etwas in der Innentasche. Gerda Schuller griff in die Innentasche und zog ein in Leder gebundenes Buch heraus, das in einer verborgenen Innentasche des Sakkos steckte und so sicher der Untersuchung entgangen war, als die Ersthelfer den Torso abgetastet hatten.

Sie legte das blutbefleckte Buch in eine der bereitstehenden Metallschalen und widmete sich wieder dem Torso. Zerdrückte Rippen, implodiertes Herz und Muskelfasern, alles so, wie man es bei einem Verkehrsunfall dieser Art erwarten würde. Der Kerl war fast ungebremst in einen wendenden Lastkraftwagen gerast, und das mit einem unheimlichen Tempo. Der Wagen hatte ihrer Berufserfahrung nach mehr als nur fünfzig Kilometer pro Stunde auf dem Tacho gehabt …

Nach einer guten Stunde legte Gerda Schuller das Skalpell zur Seite, zog die besudelten Handschuhe von den verschwitzten Fingern und warf sie in den Mülleimer. Der Befund war klar. Tod durch Aufprall auf ein festes Hindernis. Was noch fehlte, war die chemische Analyse. Vielleicht hatte das Opfer unter Drogen gestanden. Das konnte aber nur eine Laboruntersuchung des Blutes zeigen. Alkohol schloss Frau Dr. Schuller aus. Der Magen war unbeschädigt gewesen und hatte nichts beinhaltet.

Sie entnahm dem Diktiergerät, in das sie während der Obduktion gesprochen hatte, den kleinen Chip und setzte einen neuen ein. Auf dem Chip war dokumentiert, was sie festgestellt hatte. Später würde ihre Sekretärin das für den polizeilichen Bericht transkribieren. Sie steckte das lederne Büchlein aus der Geheimtasche in eine Plastiktüte und legte alles zusammen auf die glänzende Metallplatte des Tischs.

Dienstende.

Der nächste Leichnam würde bis morgen warten müssen. Beim Gehen nahm sie die Tüte mit dem Chip und dem Buch aus der Schale. Das ging nun an die Kripo. Sollten die sich damit herumschlagen. Auf sie wartete ein Abendessen mit einem Arzt aus dem UKE. Ein attraktiver Kerl. Internist, groß, jung und in jedem Fall ein leckeres Schnittchen. Gerda Schuller lächelte, als sie die Pathologie verließ. Dies konnte noch ein angenehmer Abend werden …

*

Die Sonne schob sich eben am Horizont hoch, und ein sanftes Glühen kündigte den neuen Tag an, als Wilkens die Eichenburg verließ. Sein Schritt war reichlich unsicher, kurz vor dem Taumeln. Er kniff ein Auge zu, um die Doppelbilder zu vermeiden, die ihn vom Kurs abbrachten. Fünf Minuten nach Hause. Fünf Minuten in nüchternem Zustand. Wilkens brauchte fast eine halbe Stunde bis vor seine Haustür und noch einmal zehn Minuten, um die Treppe hochzukommen.

Er fiel wie eine Leiche auf sein Bett und schlief sofort ein, ohne Schuhe oder Kleidung auszuziehen. Es war ein totaler Knock-Out. Mehr eine Narkose als ein Schlaf …

Ein penetranter Ton holte Wilkens langsam an die Oberfläche seines sedierten Verstandes. Es dauerte eine ganze Weile, bis er realisierte, was dieser nervende Ton war. Sein Festnetztelefon klingelte. Wilkens versuchte, das Klingeln zu ignorieren, und hoffte, dass der Anrufer irgendwann aufgeben würde, aber das war nicht der Fall. Also wälzte er sich herum, schob seinen gequälten Körper aus dem Bett und torkelte ins Wohnzimmer.

„Wilkens“, krächzte er in den Hörer und erkannte seine eigene Stimme kaum.

„Mein Gott, Wilkens, wo stecken Sie? Es ist halb elf!“

Er kannte diese Stimme. Heidmüller! Warum konnte er ihn nicht einfach in Ruhe lassen?

„Hab verpennt …“, erwiderte Wilkens. „Was gibt‘s denn Wichtiges?“

„Das sage ich Ihnen, wenn Sie zur Arbeit gekommen sind! Oder … sind Sie krank?“

Wilkens war versucht, der Steilvorlage nachzugeben. Krank … genau so fühlte er sich, als habe ihn eine Grippe im Griff. „Nee, nur verpennt … konnte nicht einschlafen. Mach mich auf ‘n Weg! Geben Sie mir ‘ne Stunde …“ Ohne eine Antwort abzuwarten, legte Wilkens auf.

Zwei starke Tassen Kaffee und eine Aspirin später stieg Wilkens die Treppe hinunter und schleppte sich zu seinem Wagen. Restalkohol hin oder her, er konnte sich mit dem Gedanken nicht anfreunden, die Bahn zu nehmen.

„Verdammt, Kollege, Sie stinken wie eine Mischung aus einer kompletten Kneipe und einem vollen Aschenbecher!“ Heidmüller rümpfte die Nase und trat einen Schritt zurück, als Wilkens ihm gegenüberstand. Wilkens grunzte unwillig.

„Gehen Sie mir nicht auf die Nerven, mir geht`s nicht besonders. Konnte nicht schlafen und hab mir einen genehmigt. Ist das ein Problem für Sie?“

„Sie hätten wenigstens duschen und ihre Klamotten wechseln können.“ Heidmüller öffnete die Lüftungsklappen am Fenster seines Büros.

„Dann wäre ich noch nicht hier, sondern gerade erst aus dem Haus. Wenn Sie‘s nicht so dringend gemacht hätten, wäre ich noch unter die Dusche gesprungen …“

Heidmüller bezweifelte das zwar stark, hielt sich aber mit einer passenden Retoure zurück. Sein Gegenüber hätte doch nur Widerworte gehabt. Er verkniff sich eine entsprechende Bemerkung und schob dem übellaunigen Kollegen stattdessen einen braunen Aktenordner hin, auf dem ein ziemlich lädiert wirkendes Büchlein lag. „Das kam vor ein paar Stunden. Der Bericht aus der Pathologie über einen Verkehrstoten. Sollten Sie sich mal ansehen.“

„Wozu? Was gehen uns Verkehrsopfer an?“, murrte Wilkens und schob den Ordner zurück. Heidmüller schloss kurz die Augen und unterdrückte den Impuls, seinem Kollegen eine Ohrfeige zu verabreichen.

„Verdammt, Wilkens! Gehen Sie mir nicht auf die Nerven! Wenn ich Ihnen sage, Sie sollen sich das ansehen, dann sehen Sie sich das zum Henker noch mal auch an. Mir ist scheißegal, wenn Sie sich nach einer Sauftour nicht besonders gut fühlen! Haben wir uns verstanden?“ Er ließ sich schwer in seinen Sessel fallen und verschränkte die Arme vor der Brust.

Wilkens warf ihm einen bösen Blick zu, griff aber zu dem Ordner und zog ihn unter dem Büchlein hervor. Die Schrift verschwamm vor seinen Augen, und er musste einige Male blinzeln, bis die Sicht klar wurde.

Der Bericht der Pathologin beschrieb ausführlich die Verletzungen, an denen der Mann verschieden war. Und sie hatte festgehalten, dass sie in einer versteckten Tasche in der Kleidung des Toten ein Büchlein gefunden hatte. Offensichtlich das Büchlein, das er vor sich auf dem Tisch liegen sah.

Wilkens klappte den Bericht zu und zuckte mit den Schultern. „Und? Ein Buch in einer Tasche bei einer Leiche … was geht das uns an?“

„Ich will mal annehmen, dass Ihre kriminalistischen Fähigkeiten unter dem Restalkohol gelitten haben“, bemerkte Heidmüller spitz. „Sehen Sie sich das Buch mal an. Na los!“

Wilkens schwoll langsam der Kamm. Er konnte es nicht leiden, wenn man ihn schulmeisterlich behandelte, auch wenn er selbst das gern mit anderen machte.

„Machen Sie es nicht so spannend. Ich hab Kopfschmerzen. Sagen Sie einfach, worauf Sie hinauswollen.“ Er seufzte und setzte ein „Bitte!“ hinter seine Aufforderung. Das Zauberwort nötigte seinen Kollegen, ihm die Schlussfolgerung abzunehmen.

„Dieses blutbefleckte Büchlein da stammt aus dem Raub an der Uni“, sagte Heidmüller knapp. „Ich denke, wir haben unseren Täter. Der Kerl, der sich da zu Tode gefahren hat, muss unser Dieb und Mörder sein. Woher sonst sollte er dieses Buch haben? Hier …“

Heidmüller tippte etwas auf seiner Tastatur und drehte seinen Computerbildschirm so, dass Wilkens auch sehen konnte, was dort stand.

Heidmüller hatte die Liste der entwendeten Bücher aufgerufen. Dort war auch das Büchlein gelistet, das nun vor ihnen auf dem Tisch lag. Wilkens‘ Interesse war geweckt, und sein Kater hatte sich fast verflüchtigt.

„Au Scheiße!“, murmelte er leise.

„So beschissen finde ich das gar nicht.“ Heidmüller rollte mit seinem Sessel ein Stück zurück und legte mit Schwung die Füße auf die Tischkante. Er sah recht zufrieden aus. „Fall gelöst! Kommissar Zufall hat mal wieder ganze Arbeit geleistet. Jetzt müssen wir nur noch die anderen Bücher finden. Was bedeutet, dass wir uns einmal in der Wohnung dieses toten Herrn umsehen werden.“

Wilkens erhob sich langsam.

„Dann geh ich mal in die Kantine … ich brauche etwas Festes in den Magen und noch einen Kaffee, bevor wir losfahren.“

„Wie kommen Sie auf ‚wir‘?“, wollte Heidmüller wissen. „Ich übernehme das zusammen mit der neuen Kollegin. Sie kümmern sich um das Buch. Ich brauche eine Blutanalyse. Ich will wissen, ob das Blut auf dem Buch nur von dem Verkehrstoten stammt oder ob es Spuren von dem toten Professor aus der Uni darauf gibt. Und ich will, dass Sie sich das Ding ganz genau ansehen. Oder dafür sorgen, dass sich jemand das ansieht. Es kommt mir komisch vor, dass der Kerl, der es bei sich hatte, als er den Unfall baute, das Buch in einer Art Geheimtasche mit sich führte. Und sehen Sie sich auch mal die Kleidung an, die der Tote trug. Vielleicht finden Sie etwas … Sie sind zwar nicht der Frischeste, aber auf Ihren Spürsinn konnte man sich immer verlassen.“

Wilkens verzog das Gesicht, schwieg aber lieber. Er verspürte nicht die geringste Lust, sich mit diesem vollgebluteten Buch zu beschäftigen. Lieber hätte er sich die Wohnung des Toten vorgenommen, vorzugsweise allein. Da gab es bestimmt Dinge, die er gut hätte brauchen können. Und die er problemlos hätte beiseiteschaffen können, wenn er dazu eine Gelegenheit gehabt hätte.

„Wenn‘s sein muss …“ Er griff nach dem Buch und wandte sich zum Gehen. „Aber bevor ich mich daran mache, gehe ich erst noch in die Kantine. Hunger ist Hunger, und den Kaffee brauche ich dringend.“

Was du brauchst, sind eine Dusche und eine Tracht Hiebe!“, dachte Heidmüller, dem der Kollege immer unsympathischer wurde. Aber er musste mit diesem ungehobelten Schandfleck von einem Polizeibeamten leben und war dankbar, wenn er seine Arbeit tat. Immerhin hatte Wilkens den Ruf, ein fähiger Kriminalbeamter zu sein.

Nachdem Wilkens Heidmüllers Büro verlassen hatte, rief dieser die Neue an, die seit gestern dem Dezernat zugeteilt war. Die Adresse des Unfallopfers klang teuer. In der Gegend, direkt an der Elbe, wohnten nur Leute mit wesentlich höherem Einkommen, als ein Normalsterblicher hatte. Die Fahrbereitschaft stellte einen Wagen mit zwei Zivilbeamten, und Heidmüller telefonierte noch kurz mit der Spurensicherung. Er hatte eben den Hörer aufgelegt, als die Neue an die Tür seines Büros klopfte. Ein graues Mäuschen, hatte er befunden, als er ihre Akte durchgesehen hatte. Mittelgroß, kurzes dunkelblondes Haar, das zum Pagenkopf geschnitten war, graues Kostüm, Brille. Und unerfahren. Er war gespannt, wie sie sich geben würde. „Herein!“

Das graue Mäuschen streckte den Kopf zur Tür herein, ein freundliches Lächeln auf den Lippen und strahlende Augen. Schon mal viel besser als Kollege Wilkens, befand Heidmüller.

„Guten Morgen, Herr Hauptkommissar Heidmüller“, flötete sie mit einer hellen Stimme. „Ich wäre so weit …“

Heidmüller lächelte zurück. „Dann können wir ja los …“

Er griff sich sein Jackett und die Dienstwaffe, schnallte letztere um und zog das Jackett über. „Die Kollegen von der Spurensicherung treffen uns vor Ort.“

Die Stadt unter dem Land

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