Читать книгу Die Stadt unter dem Land - Ralph G. Kretschmann - Страница 9

4.

Оглавление

Das Telefon klingelte direkt neben ihm, und Graf schrak aus seinen Gedanken hoch. Es hatte einen so schrillen, durchdringenden Ton, dass es Tote erwecken konnte. Er riss den Hörer von der Gabel und hob ihn ans Ohr. Gerade hatte er sich entscheiden wollen, welche Musik er als Nächstes hörte, und meldete sich entsprechend abwesend.

„Graf …“

Die Stimme am anderen Ende der Leitung war verzerrt, und die Person, die da sprach, schien nicht mehr ganz nüchtern zu sein. „Hallo? … Bissu das, Wrnr?“

„Wer spricht denn da?“, wollte Graf wissen.

„Jsmin … samma, bissu suhauseunkannichmavrbeigomm?“

„Wie bitte?“, fragte Graf, der Schwierigkeiten hatte, zu verstehen, was die andere Person sagte. „Ich verstehe Sie nicht …“

„Hieris Jazz …“ Ein tiefer Atemzug ertönte durchs Telefon. „Sorry, ich bin besoff… trunken, glaubich. Kannich rumkomm?“

„Jasmin?“ Graf wurde es heiß. „Aber sicher kannst du vorbeikommen. Ist etwas? Du klingst so … anders!“

Schweres Atmen am anderen Ende der Leitung. „Bingleichda!“, antwortete sie, und fast gleichzeitig klingelte es an der Tür.

Graf ging zur Tür und drückte auf den Summer.

„Sag mal, stehst du unten?“, fragte er, und als Antwort kam ein lang gezogener Rülpser. Dann knackte es in der Leitung, und das Gespräch wurde unterbrochen. Werner Graf öffnete die Tür und konnte hören, wie unsichere Schritte die Treppe heraufkamen.

Zwei Minuten später stand Jasmin Dreyer vor ihm, betrunken und in keiner guten Verfassung. Sie grinste ihn mit einem zusammengekniffenen Auge an. „Kuckuck, da binnich!“

Er trat beiseite, und Jasmin stolperte mehr, als dass sie ging, durch die Tür in seine Wohnung. Sie kannte sich aus, ging schnurstracks ins Wohnzimmer und ließ sich auf die Couch fallen.

„Ich bin besoffen!“, sagte sie mit schwerer Zunge und ließ ihre Tasche zu Boden fallen.

„Ja, das sehe ich!“, erwiderte Graf und setzte sich ihr gegenüber in den Sessel. „Mädchen, was ist los?“

„Egal!“, lallte Jasmin. „Isnichwichtich … ich brauchnfreund.“

Graf sah die junge Frau mit gerunzelter Stirn an. So hatte er Jasmin noch nie erlebt. „Willst du einen Kaffee?“

„Neeeeeee … hassu was zu trinken?“, gab diese zurück. „Wissy, Rum oder Wodga, is egal!“

„Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?“ Graf beugte sich vor und sah Jazz ins gerötete Gesicht.

Die grinste ihn mit schweren Lidern an. „Heute … jawollja, heute issas ‘ne gude Idee.“

„Nun gut, du bist erwachsen!“, konstatierte Graf. Er lehnte sich zurück und griff hinter sich, wo seine Bar stand. Er nahm die Flasche mit dem 12 Jahre alten Kyle‘s Club Rum und stellte sie auf den Tisch. „Warte, ich hole Gläser.“

„Isnichnötich!“ Jazz griff sich die Flasche, entkorkte sie und setzte sie an die Lippen. Sie trank mehrere Schlucke, als sei der alte Rum Wasser, und reichte sie dann an Graf zurück. „Nu Du!“

Graf wunderte sich, nahm die Flasche und dann einen tiefen Schluck. Etwas Einschneidendes musste passiert sein, wenn Jasmin sich dermaßen betrank. „Erzähl mal, was ist los?“

Jasmin nahm ihm die Flasche aus der Hand und genehmigte sich einen weiteren großen Schluck. Sie atmete tief ein, hielt die Luft einen Moment lang an und stieß ihre Antwort aus, als spucke sie auf etwas, was am Boden lag.

„‘ch hab mich gefeuert!“

Graf zog eine Braue hoch und nahm der betrunkenen Frau die Flasche aus der Hand. „Du bist gefeuert worden? Warum denn das?“

Jasmin schüttelte heftig den Kopf. „Nei-en! Die hamm mich nich, ich hab mich selbs gefeuert.“ Mit schwerer Zunge erzählte sie von Lindner und seinem unmöglichen Verhalten, seiner Inkompetenz und ihrem Groll. „Un‘ dann habbich ihm den Job vore Füße geschmissen!“ Ein langer Rülpser entfuhr ihr, und der Geruch von Rum schlug Graf entgegen.

„‘tschuldigung!“, sagte sie und versuchte erneut, Graf die Flasche aus der Hand zu nehmen, aber der streckte den Arm aus und hielt die Flasche außerhalb ihrer Reichweite.

„Langsam! Du hast doch schon genug, findest du nicht?“

„Habbich nich!“ Jazz sah ihn aus geröteten Augen trotzig an. „Isch bin erwaxn un kann mich besaufm wann un wo ich will ...“ Sie stemmte sich vom Sofa hoch, beugte sich vor, in der Absicht, Graf die Flasche abzunehmen. Das misslang gründlich. Mit ausgestrecktem Arm kippte sie nach vorn und landete auf Werner Graf.

„Du hast genug!“, stellte der fest.

Jasmin blieb einfach auf Graf liegen und drückte sich gegen seine Wange. „Ich willabernochmehr!“, nuschelte sie mit weinerlicher Stimme.

Graf stellte die Flasche auf dem Boden ab und hievte die betrunkene Jasmin hoch und zurück auf die Couch. Ihr warmer Körper lag schwer in seinen Armen.

„Ich mach` uns einen Kaffee, was hältst du davon?“

Jasmin schürzte die Lippen und kniff ein Auge zu, um nicht mehr doppelt zu sehen. „Kaffee, pfff!“ Ein Schluckauf unterbrach sie. „Nur, wennu da Rum reintus.“

„Werden wir sehen“, sagte Graf und ging in die Küche. Er hatte grade den Wasserkessel auf den Herd gestellt, als ihn ein dumpfer Schlag erschreckt zusammenzucken ließ. Ein leises Klirren folgte.

Er ließ den Kessel auf dem Herd stehen und ging ins Wohnzimmer zurück.

Jasmin hatte sich die Rumflasche geschnappt und fast völlig geleert. Immerhin war sie noch halb voll gewesen. Jazz lag neben Grafs Sessel am Boden, halb gegen die Vitrine mit den Sammeltassen gelehnt, mit offenem Mund, und schnarchte.

Graf seufzte. Sie war ein trotziges Mädchen, das sich nicht gern etwas sagen ließ, aber genau das mochte er an ihr. Jasmin sah selbst in diesem Zustand einfach nur verlockend aus mit ihren vollen Lippen und dem runden Gesicht …

Er trug das betrunkene Mädchen in sein Schlafzimmer und legte sie auf sein Bett. Das war wohl für ihren Magen zu viel, denn kaum lag sie, öffnete sie die Augen, richtete sich auf, blickte ihn glasig an und übergab sich. Das meiste landete auf dem Boden, genau auf dem Bettvorleger, aber einiges tropfte ihr vom Kinn, auf ihr T-Shirt und über ihre schwarze Jeans. Werner Graf seufzte schwer.

„Miris ja sooo schlecht!“, lallte sie, verdrehte die Augen und kippte nach hinten um.

Graf rollte den vollgekotzten Bettvorleger ein und trug ihn ins Bad. Dort stopfte er ihn in die Waschmaschine, nahm einen Lappen und einen Eimer, den er zu einem Viertel mit Wasser füllte und ging zurück ins Schlafzimmer. Er entfernte das Erbrochene, das nicht auf dem Teppich gelandet war, vom Boden und stellte den Eimer neben das Kopfende des Bettes, für den Fall, dass Jasmins Magen noch mehr Überraschungen parat hatte. Mit einiger Schwierigkeit zog er der Betrunkenen das vollgekotzte Shirt und die Jeans aus. Sie trug keinen Büstenhalter. Graf wurde heiß, aber er bewahrte die Fassung. Hoffentlich, dachte er, hatte sie wenigstens einen … Immerhin. Sie trug einen schwarzen Slip aus Spitze. Graf wischte ihr ein wenig erleichtert das Erbrochene vom Kinn, zog ihr dann die Bettdecke über den Körper und löschte das Licht. Sie atmete regelmäßig und schien sich nicht noch einmal übergeben zu müssen. Die Jeans und das Shirt wanderten zum Bettvorleger in die Waschmaschine.

Der Kessel begann zu pfeifen. Graf brühte einen Kaffee, trank ihn genüsslich mit dem letzten Rest Rum aus der Flasche und rauchte eine selbst gedrehte Zigarette, um zur Ruhe zu kommen. Bevor er sich auf der Couch schlafen legte, sah er ein letztes Mal nach Jazz. Sie lag reglos unter seiner Decke und schnarchte leise. Graf musste lächeln. Ihm fiel ein Abend ein, an dem es ihm genauso gegangen war, und damals war er nicht viel älter gewesen als Jazz heute.

Er nahm sich eine Wolldecke aus der Kommode mit, schaltete das Licht aus, wickelte sich in Hemd und Hose in die Decke und legte sich schlafen.

*

In der Villa in Harvestehude stand zur gleichen Zeit ein hagerer Mann mit eingefallenen Wangen am Fenster und sah in den vom fast vollen Mond beschienenen Garten hinaus. Die Wolken waren aufgerissen, und der Regen hatte aufgehört zu fallen. Der Hagere war unzufrieden mit allem, was er in den letzten Monaten hatte ertragen müssen. Er hatte sich darauf verlassen, dass seine Leute taten, was sie tun sollten, aber das war ein Fehler gewesen.

Er stand wieder am Anfang.

Das kam davon, wenn man sich auf andere verließ. Ganzau saß im Gefängnis, und Trabertin war tot. Und er selbst war keinen Deut weitergekommen. Immerhin war seine Rolle in diesem Spiel nicht ans Licht gelangt. Der Einzige, der über alles im Bilde war, saß im Untersuchungsgefängnis am Holstenglacis. Ein Witz, wenn man bedachte, dass das UG nur ein paar Schritte vom Museum für Hamburgische Geschichte entfernt lag, wo ein Teil dessen lagerte, was er so begehrte.

Ganzau würde nicht reden, da war sich der Hagere sicher, und er hatte schon dafür Sorge getragen, dass das auch so blieb. Mit Geld ließ sich alles regeln. Morgen würde sich das Problem Ganzau, der alles versaut hatte, erledigt haben.

Vielleicht hätte er dem Alten doch die Wahrheit erzählen sollen, statt ihn mit einer Halbwahrheit bei der Stange zu halten, aber das war ihm als zu gefährlich erschienen. Er hatte sich an die alte Geheimdienstweisheit gehalten, dass es besser war, wenn keiner die ganze Wahrheit kannte.

Der Hagere trat vom Fenster zurück und griff zum Telefon. Die Bücher waren zur weiteren Untersuchung an der Universität, das war allgemein bekannt. Er hatte es einfädeln können, dass der angebliche Schädel von Störtebeker aus dem Museum für Hamburgische Geschichte entwendet wurde, damit er ihn selbst untersuchen konnte, und er würde es auch einrichten können, die Bücher aus der Universität in die Hände zu bekommen. Er kannte die richtigen Leute, die solche Aufgaben leise und diskret erledigten.

Die Stadt unter dem Land

Подняться наверх