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Das Kind 1.

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Im Frühling des Jahres 1931, als der Winter sich mit Regen und Schneeschauern verabschiedet hatte und die ersten warmen Sonnenstrahlen zaghaft durch die Wolken brachen, wurde Karl Rink in die Zentrale der nationalsozialistischen Partei geladen. Er wusste, dass der Sportverein seiner Firma, wie viele andere Sportvereine, unter der Schirmherrschaft der SS stand – der „Schutzstaffel“, einer Eliteeinheit der Partei. Die SS war berüchtigt für ihre Disziplin und ihre strengen, brutalen Methoden. Karl hatte sich nie besonders für Politik interessiert. Alles, was er wollte, war Rad fahren, Rennen gewinnen, neue Rekorde aufstellen und eines Tages eine bessere Arbeit finden. Die Nationalsozialisten interessierten ihn nur in einer einzigen Hinsicht: Sie pumpten Geld in den Sportverein, förderten die Sportler und stifteten Preise und Pokale. Er war noch nie zuvor in der Parteizentrale gewesen und neugierig auf das bevorstehende Treffen.

Ein stämmiger Mann in SS-Uniform begrüßte ihn mit einem festen Händedruck und stellte sich als Sportbeauftragter der Partei vor. Mit einem gewinnenden Lächeln überreichte er Karl einen Silberpokal als Anerkennung für seine Leistungen im Radrennsport im vergangenen Jahr mit den Worten: „Machen Sie weiter so, Rink. Die Partei schätzt Männer wie Sie.“

Karl freute sich über das Lob und die Anerkennung des SS-Mannes. Am darauffolgenden Sonntag machte er mit Mira und der kleinen Helga einen Ausflug an einen nahe gelegenen See. Es war ein warmer, sonniger Tag, und in den Cafés am Ufer saßen Leute im besten Sonntagsstaat bei Kaffee und Kuchen, löffelten Eiskrem und sahen den vorbeiziehenden Segelbooten zu. Die Zeiten waren hart, und die wirtschaftliche Lage spitzte sich zu, doch die Ausflügler taten so, als beträfe sie das alles nicht. Als wüssten sie nicht, dass in ihrem Wohnviertel ein Geschäft nach dem anderen Konkurs anmelden musste und dass die Arbeitslosenzahlen täglich stiegen. Karl dankte seinem Glücksstern für sein sicheres Einkommen und dass man seine Leistungen im Sport würdigte. Und dafür, dass er mit seiner Frau und seiner über alles geliebten Tochter in einem Café am Seeufer in dieser bezaubernden Ecke Berlins sitzen durfte.

Doch das ungetrübte Glück währte nur kurze Zeit. Eines Morgens wurde Karl ins Büro seines Abteilungsleiters gerufen. Erwartungsvoll betrat er das Zimmer, in der Hoffnung auf eine Beförderung und auf einen besser bezahlten, interessanteren Posten. Doch er hatte sich zu früh gefreut.

„Wissen Sie, Herr Rink“, hörte er den Abteilungsleiter sagen, „die Wirtschaftskrise hat unsere Firma schwer getroffen. Die Aufträge sind stark zurückgegangen, unsere Verluste werden von Tag zu Tag größer. Unter diesen Umständen sehen wir uns gezwungen, einige Mitarbeiter zu entlassen. Es tut mir leid, Herr Rink, dass es auch Sie betrifft.“

Zehn Jahre lang hatte er für die Firma gearbeitet. Die Entlassung traf ihn wie ein Donnerschlag. Wortlos nahm er seinen Mantel und den Umschlag mit der bescheidenen Abfindungssumme und ging nach Hause.

Als Karl die Tür aufschloss und plötzlich in der Wohnung stand, warf sich die inzwischen sechsjährige Helga mit einem Freudenschrei in seine Arme. Normalerweise kam ihr Vater nie so früh nach Hause. Auch Mira war überrascht, ihn zu sehen. „Was ist passiert, Karl?“, fragte sie besorgt. „Bist du krank?“

„Nein“, erwiderte er mit tonloser Stimme. „Ich bin entlassen.“

Mira sah ihn entsetzt an. Auch wenn die Arbeitslosigkeit im Land stieg und sich die wirtschaftliche Situation immer mehr verschlechterte, konnte sie nicht glauben, dass nun auch sie – wie viele andere Familien – ihre Lebensgrundlage einbüßen sollten. Täglich begegnete sie Leuten aus der Nachbarschaft, die ihre Arbeit verloren hatten. Man erkannte sie an ihrem schleppenden Gang und ihrem zu Boden gerichteten Blick, unfähig, jenen in die Augen zu schauen, denen das Glück hold war und die noch in der Lage waren, ihre Familien zu ernähren.

Mira seufzte. Nun würden auch sie sich in das Heer dieser gebeugten Unglücksgestalten einreihen. Zum Glück hatten sie noch ihr bescheidenes Gehalt vom Ministerium, doch sie wussten beide, dass es nicht reichen würde.

„Was wirst du jetzt tun?“, fragte sie ängstlich.

„Eine neue Arbeit suchen“, antwortete Karl, doch ihm war klar, dass dies nicht einfach sein würde.

An jenem Abend blieben sie lange auf und unterhielten sich mit gedämpften Stimmen über ihre ungewisse Zukunft. Sie überlegten, wer aus ihrem Bekanntenkreis ihnen vielleicht helfen konnte. Karl versprach, sich gleich am nächsten Tag auf die Suche nach Arbeit zu machen – irgendeiner Arbeit, solange sie ihm ein regelmäßiges Gehalt einbrachte. Er redete sich ein, dass bestimmt jemand eine Stelle für ihn hätte oder ihm in irgendeiner Weise weiterhelfen konnte.

Er klopfte an die Türen sämtlicher Bekannten, die ihm alle höflich zuhörten, als er sein Anliegen vorbrachte. Doch helfen konnte ihm keiner. Stundenlang lief er von einer Firma zur nächsten und bot sich für alle möglichen Arbeiten an, doch am Abend kehrte er mit leeren Händen zurück.

In den folgenden Tagen wanderte er mehr oder weniger ziellos umher, um den Blick aus Miras enttäuschten, glanzlosen Augen nicht ertragen zu müssen. Überall war er von ungeduldigen Arbeitgebern abgewiesen worden. Er hatte kaum noch Hoffnung, irgendeine Arbeit zu finden. Da er sich nicht traute, vor Einbruch der Dunkelheit nach Hause zu kommen, besuchte er regelmäßig das kleine Kino in ihrem Viertel, wo er sich Tag für Tag denselben Film ansah. Dort saß er zusammengesunken in seinem Sitz, allein und verzweifelt, und starrte auf die Leinwand, ohne die Bilder zu sehen.

Eines Tages, nach erneuter erfolgloser Arbeitssuche, kam er an einem Gebäude vorbei, in dem gerade eine nationalsozialistische Parteiversammlung stattfand. Er trat ein, traf ein paar Bekannte aus dem Sportverein und lauschte den kämpferischen Worten der Redner, die einen wirtschaftlichen Aufschwung für Deutschland versprachen, wenn die Partei an die Macht käme. Die Arbeitslosen wurden aufgerufen, sich der NSDAP anzuschließen, so an der neuen Weltordnung mitzubauen und den Ruhm des Landes wiederherzustellen.

Karl hörte aufmerksam zu. Eine neue Hoffnung keimte in ihm auf. Am Schluss der Veranstaltung war er einer der Ersten, die nach vorn gingen, um sich einzutragen. Er war nun offiziell Mitglied der Nationalsozialistischen Partei. In den darauf folgenden Tagen verpasste er keine Versammlung. Bald wurde er zu Parteidiensten herangezogen und lernte, Adolf Hitler zu bewundern, den „Führer“, der es verstand, seine Zuhörer zu fesseln wie kein anderer. Karl war von neuem Selbstbewusstsein erfüllt. Hier wurde er gebraucht. Und er wollte alles dafür tun, damit die Partei an die Macht kam, die seinem Land und ihm selbst eine neue Zukunft bieten konnte.

Gertrudas Versprechen

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