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3.

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Einen ganzen Tag lang wanderte sie ziellos umher. Mehr als je zuvor sehnte sie sich nach jemandem, der sie verstand und ihr raten konnte, was sie tun sollte. Doch hier in der Stadt hatte sie keine engen Vertrauten. Ihr fiel nur ein einziger Mensch ein, der ihr helfen konnte, und der wohnte nicht in Warschau. Sie musste ihn aufsuchen.

Den Kopf voll trüber Gedanken, stieg sie in den Zug nach Starogard. Das Häusermeer der Großstadt blieb hinter ihr zurück, vor ihr lagen ausdehnte Ländereien, grüne Wiesen und Felder. Bauern arbeiteten auf den Äckern. Der Duft frisch gepflügter Erde, gepaart mit dem bitteren Rauchgeruch der Lokomotive, stieg ihr in die Nase, als sie am geöffneten Fenster stand. Mit allen Sinnen nahm sie die vertraute Umgebung ihrer Heimat wahr. Hier war sie geboren, aufgewachsen und zur Schule gegangen, hier hatte sie ihre ersten Jahre als junge Lehrerin verbracht. Als der Zug sein Tempo verlangsamte und im kleinen Bahnhof von Starogard hielt, spürte sie einen Kloß im Hals. Obwohl es erst wenige Tage her war, seit sie ihre Heimatstadt wieder verlassen hatte, wurde ihr plötzlich bewusst, wie sehr sie ihre Eltern vermisste.

Vom Bahnhof ging sie auf direktem Weg zur Kirche im Stadtzentrum. Die Tür stand den Gläubigen immer offen, und Gertruda betrat das leere Kirchenschiff. Kerzen flackerten vor dem Altar, und der Gekreuzigte mit der vergoldeten Dornenkrone sah auf sie herab. Sie kniete nieder, senkte den Kopf und sprach ein lautloses Gebet.

Nach einer Weile hörte sie leise Schritte hinter sich.

„Gertruda?“

Sie blickte auf und sah den Priester neben sich, auf seinen Lippen lag ein gütiges Lächeln.

„Gertruda, mein Kind“, sagte er mit warmer Stimme. „Willkommen daheim. Ich dachte, du würdest nicht so bald wiederkommen.“

„Ich bin gekommen, um Euch um Rat zu bitten.“

Der alte Priester kannte Gertruda, seit sie ein kleines Mädchen war, und ebenso ihre Eltern, strenggläubige Katholiken und regelmäßige Kirchgänger.

„Wie kann ich dir helfen?“, fragte er.

Sie erzählte ihm von ihrer Arbeitssuche in Warschau und von der Stelle im Hause Stolowitzky. „Das Problem ist, dass sie Juden sind“, schloss sie leise.

Der Priester wartete, doch Gertruda hatte nichts mehr zu sagen. Sie hoffte, er würde sie verstehen.

„Du bist also gekommen, um mich zu fragen, ob es in Ordnung ist, in einem jüdischen Haushalt zu arbeiten?“, fragte er.

Sie nickte.

„Machte die Frau einen guten Eindruck auf dich?“

„Ja.“

„Und was genau stört dich an dem Gedanken, in einem jüdischen Haus zu arbeiten?“

„Eigentlich nichts Besonderes, aber ich kenne ihre Sitten und Bräuche nicht. Ich weiß nicht, ob sie mich überhaupt zur Kirche gehen oder Bilder von Jesus und der Jungfrau Maria in meinem Zimmer aufhängen lassen würden. Ich meine, ich bin nicht sicher, ob ich mich dort wohlfühlen würde.“

Der Priester legte seine Hand auf ihre Schulter. „Weißt du“, sagte er, „es gibt gute und schlechte Christen, und es gibt gute und schlechte Juden. Aber das Wichtigste ist, dass sie gute Menschen sind, die dir mit Liebe und Respekt begegnen. Dann wirst auch du sie lieben und respektieren können.“

„Ich hoffe, dass sie wirklich gute Menschen sind“, entgegnete Gertruda.

„Das hoffe ich auch, mein Kind. Und nun geh in Frieden. Gott möge dich schützen.“

Als sie aus der Kirche trat, schlug sie den Weg ein, der zu ihrem elterlichen Haus führte. Daheim erzählte sie von ihrer Unterredung mit dem Priester. Die Eltern versuchten, sie zum Bleiben zu überreden, doch Gertruda lehnte ab. Ihr Vater war grundsätzlich dagegen, dass sie bei Juden arbeitete.

Am nächsten Tag saß Gertruda im Zug zurück nach Warschau. Durch das monotone Rattern der Räder hörte sie immer wieder Lydia Stolowitzkys Stimme: „Ich würde mich freuen, wenn wir uns wiedersehen.“ Und sie hoffte, dass sich in der Zwischenzeit niemand anderes auf die Stelle beworben hatte.

Lydia begrüßte sie mit einem strahlenden Lächeln. „Ich habe Sie erwartet“, sagte sie. „Ich wurde das Gefühl nicht los, dass Sie wiederkommen werden. Kommen Sie, ich möchte, dass Sie Michael kennenlernen.“

Sie führte Gertruda nach oben in ein wunderschönes Kinderzimmer. Ein kleiner Junge mit rosigen Wangen saß auf dem Teppich und spielte mit einer elektrischen Eisenbahn. Seine blauen Augen schauten neugierig zu ihr auf.

„Sag Gertruda Guten Tag“, forderte seine Mutter ihn freundlich auf. „Sie ist deine neue Kinderfrau.“

Der Junge musterte Gertruda neugierig. „Spielst du mit mir Eisenbahn?“, fragte er mit einer klaren, hellen Stimme.

Gertrudas Herz tat einen Sprung bei seinem Anblick. Dieses Kind war so liebenswert, so niedlich und wohlerzogen, dass sie es am liebsten sofort an sich gedrückt und seine rosigen Wangen geküsst hätte.

„Ja, ich will gern mit dir spielen“, antwortete sie und setzte sich zu Michael auf den Boden. Als sie ein paar Minuten später aufblickte, war Lydia verschwunden.

In den darauf folgenden Tagen zerstreuten sich Gertrudas Ängste mehr und mehr. Das Leben im Hause Stolowitzky war angenehmer und bequemer, als sie es sich hätte träumen lassen. Lydia akzeptierte Gertrudas christlichen Glauben und hatte nichts dagegen, dass sie in ihrem Zimmer Bilder der Jungfrau Maria mit dem Jesuskind aufhängte und ein Kruzifix auf ihren Nachttisch stellte. Im Allgemeinen hatte sie den Eindruck, dass Lydia der Religion als solcher eher gleichgültig gegenüberstand. Jacob, ihr Mann, spendete zwar regelmäßig hohe Geldbeträge an die jüdische Gemeinde, ging aber selten in die Synagoge. Er war ein viel beschäftigter Mann, der nur hin und wieder zu Hause anzutreffen war. Lydia arbeitete ehrenamtlich bei verschiedenen Wohltätigkeitsorganisationen mit. Sie las gern, lud oft Gäste ein und spielte Klavier. Gertruda suchte sich den Sonntag als freien Tag aus, damit sie in den Gottesdienst gehen konnte.

Michael hatte die neue Kinderfrau sofort ins Herz geschlossen. Für ihn gehörte Gertruda ganz selbstverständlich zur Familie. Ihr komfortables Zimmer lag neben dem Kinderzimmer, sodass sie jederzeit nach ihm schauen konnte. Als Michael etwas älter war, brachte sie ihm Lesen und Schreiben bei. Manchmal gingen sie zusammen ins Museum, wo er die ganze Zeit ihre Hand fest umklammert hielt. Sie liebte Michael, und ihre Arbeit als Kinderfrau erfüllte sie mit Freude. Ihren Eltern schickte sie Fotos, auf denen sie mit ihrem Schützling zu sehen war, und schrieb ihnen, dass sie noch nie im Leben so glücklich gewesen sei.

Abends sang sie ihm die Wiegenlieder, die ihre Mutter gesungen hatte, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war, und als er einmal krank war, saß sie Tag und Nacht an seinem Bett. Sie hütete ihn wie ihren Augapfel und kaufte ihm von ihrem eigenen Geld Geschenke. Er bedeutete ihr viel mehr als ein Kind, für dessen Betreuung sie bezahlt wurde. Michael war für sie der Sohn, den sie so gern gehabt hätte. „Mein kleiner Junge“, flüsterte sie ihm abends ins Ohr, wenn er schlief. „Mein geliebter kleiner Junge.“

Gertruda tat ihre Arbeit still und unauffällig, sorgsam bedacht, niemandem im Haus zu nahe zu treten. Nach einer Weile freundete sie sich mit den Dienstmädchen an und half der Köchin, wenn es Gäste zu bewirten galt. Ihr Gehalt war mehr als ausreichend, und so war es ihr möglich, einen großen Teil davon beiseitezulegen.

Michael war ein begabtes Kind. Er liebte Bücher, und bereits im Alter von zwei Jahren erhielt er von einem Privatlehrer Klavierunterricht. Gertruda vergötterte den kleinen Jungen. Sie konnte sich an ihm nicht sattsehen und liebte sein sanftes, höfliches Wesen und seine klare, reine Kinderstimme, wenn sie zusammen bekannte Volkslieder sangen. Michael verbrachte mehr Zeit mit ihr als mit seiner Mutter. Er hörte für sein Leben gern die Gutenacht-Geschichten, die Gertruda ihm vorlas, und vermisste sie, wenn sie auf Besuch zu ihren Eltern fuhr.

Als er etwas älter war, begleitete er sie sonntags manchmal zur Kirche und spielte draußen auf dem Hof, bis sie wiederkam. Mehr als einmal wollte er mit hinein, um zu sehen, was drinnen vor sich ging, doch Gertruda wehrte ab. „Nein, du kannst leider nicht mitkommen. Du bist jüdisch. Diese Kirche ist nichts für dich.“

Damals, nach Marthas Unfall, war Gertruda mit Michael jede Woche ins Krankenhaus gefahren, um Martha zu besuchen. Die beiden Frauen freundeten sich rasch an, und Gertruda war bereit, zugunsten von Martha auf ihre Stelle zu verzichten, falls diese zurückkommen wollte. Doch sie hatten die Rechnung ohne Michael gemacht. „Ich mag Martha“, sagte er zu Gertruda, „aber dich hab ich viel lieber.“ Lydia bestand darauf, dass Gertruda blieb, und Jacob zahlte Martha eine ansehnliche Abfindungssumme.

Von da an wich Michael nicht mehr von Gertrudas Seite. Er bestand darauf, dass sie mit der Familie am Tisch aß anstatt mit den anderen Angestellten in der Küche. Als sie ihm erzählte, dass sie bald Geburtstag habe, überredete er seine Mutter, ihr ein teures Geschenk zu kaufen. Lydia ging in ein gutes Bekleidungsgeschäft, erstand für Gertruda ein schönes Kleid und organisierte eine kleine Geburtstagsfeier für sie, bei der sie ihr das Geschenk überreichte. Gertruda weinte vor Freude.

Ihr ganzes Leben spielte sich in der Welt der Stolowitzkys ab, und mit der Zeit kam es ihr vor, als ob das herrschaftliche Haus schon immer ihr Zuhause gewesen sei. Lydia war wie eine Schwester zu ihr. Die Dienstboten spürten diese besondere Verbundenheit und begegneten Gertruda mit dem Respekt, den man Höhergestellten entgegenbringt. Gertruda war jedoch sorgsam darauf bedacht, ihre Position nicht auszunutzen. Mit der Welt außerhalb hatte sie nur noch wenig Berührungspunkte, und als der Rektor ihrer alten Schule sie bat zurückzukommen, da man sie dort sehr vermisse, lehnte sie höflich, aber bestimmt ab und schrieb, sie sei glücklich in ihrer jetzigen Stellung und würde hier ebenso gebraucht und geschätzt.

Sie pflegte einen regen Briefwechsel mit alten Freundinnen, lernte Englisch in einem Fernkurs, strickte Pullover für Michael und zeigte Emil, dem Chauffeur, die kalte Schulter, als er ihr unbeholfen den Hof machte. Nach ihrer großen Enttäuschung wollte sie mit Männern nichts mehr zu tun haben.

Gertrudas Versprechen

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