Читать книгу Gertrudas Versprechen - Ram Oren - Страница 16
2.
ОглавлениеEs sollte der glücklichste Tag ihres Lebens werden, ein Meilenstein im Leben von Gertruda Babilinska. Wie hatten sie und ihre Familie diesen Tag herbeigesehnt! Nun war er endlich da und erfüllte Gertruda mit freudiger Erwartung.
In dem kleinen Haus in Starogard bei Danzig, drei Eisenbahnstunden von Warschau entfernt, machte sich die Familie im Sonntagsstaat auf den Weg zur Kirche, wo die Trauung stattfinden sollte. Gertruda war das älteste Kind und die einzige Tochter.
Die Braut sah bezaubernd aus in ihrem Hochzeitskleid, ein großes, schlankes Mädchen von neunzehn Jahren mit blondem Haar. Sie war Lehrerin der örtlichen Schule und außerordentlich beliebt. Schüler und Kollegen schätzten und bewunderten sie, und die Eltern zeigten ihre Anerkennung am Ende jedes Schuljahrs mit Blumen und Geschenken. Gertruda wollte nach ihrer Heirat weiter im Schuldienst bleiben, zumindest bis zur Geburt ihres ersten Kindes.
Zahlreiche Verehrer hatten ihr den Hof gemacht, unter ihnen angesehene Männer. Doch Gertruda hatte keine Eile gehabt, und wenn es einem Bewerber nicht gelang, ihr Herz zu gewinnen, beendete sie die Verbindung. Eine Ehe aus Vernunftgründen, um des Geldes oder des sozialen Status willen, kam für sie nicht in Frage. Wenn sie schon heiratete, dann musste es jemand sein, den sie wirklich liebte.
Dann lernte sie bei einer Feier im Freundeskreis Zygmunt Komorowski kennen. Er war in Warschau im Import-Export-Geschäft tätig, gepflegt und gut aussehend und zehn Jahre älter als sie. Es war Liebe auf den ersten Blick. Er war beeindruckt von ihrer umfassenden Allgemeinbildung, ihren Sprachkenntnissen und ihrem charmanten Wesen und überhäufte sie mit Komplimenten, die sie zum Erröten brachten.
Zygmunt war ein Mann von Welt. Er beeindruckte Gertruda durch seine höfliche, großzügige Art, durch die Geschichten über sein Leben in der Großstadt und seine internationalen Geschäfte, die er zu erzählen wusste. Nachdem er sie einige Monate lang umworben hatte, machte er ihr eines Abends im besten Restaurant von Starogard einen Heiratsantrag. Gertruda, überzeugt, nun endlich die Liebe ihres Lebens gefunden zu haben, sagte freudig ja. Er versprach, mit ihr in Warschau in eine schöne große Wohnung zu ziehen, ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen, und schwor ihr ewige Liebe.
Sie beschlossen, in der kleinen Kirche von Starogard zu heiraten und anschließend im Haus der Brauteltern zu feiern. Gertrudas Mutter und sämtliche weiblichen Verwandten waren wochenlang mit den Vorbereitungen für die Hochzeitsfeier und das große Festessen beschäftigt.
Als der große Tag gekommen war, schritt Gertruda, umringt von Freundinnen und Verwandten, zur Kirche auf dem Rathausplatz. Sie trug das weiße Kleid, das sie in Danzig gekauft hatte, und ihre Wangen glühten vor Aufregung.
Vor dem Eingang standen die Schulkinder Spalier und applaudierten, als sie die Braut entdeckten. Errötend umklammerte Gertruda ihren kleinen Veilchenstrauß und dankte allen, die gekommen waren, für die guten Wünsche.
Gemessenen Schrittes begab sich die Hochzeitsgesellschaft in die Kirche. Alles war bereit für die feierliche Zeremonie. Der betagte Organist wartete auf seinen Einsatz, der Priester strich sein Gewand glatt, und die Brauteltern schüttelten den zuletzt eingetroffenen Gästen die Hand. Alle warteten gespannt auf den Bräutigam, der gemeinsam mit seinen Eltern und Geschwistern eintreffen sollte. Doch es wurde immer später.
Endlich, nach einer halben Ewigkeit, betrat ein Bote die Kirche und überreichte Gertruda einen Brief. Während sie die Zeilen las, wich jegliche Farbe aus ihrem Gesicht. Der Mann ihrer Träume erklärte ihr in knappen Worten, ohne einen Grund zu nennen, er könne sie leider doch nicht heiraten. Er schloss mit einer Entschuldigung für den Kummer, den er ihr damit bereitete, und wünschte ihr für die Zukunft alles Gute.
Nachdem Gertruda sich aus ihrer Erstarrung gelöst hatte, brach sie in Tränen aus und stürzte aus der Kirche. Zu Hause schloss sie sich in ihrem Zimmer ein und wollte niemanden sehen. Drei Tage lang lag sie im Hochzeitskleid auf ihrem Bett, aß nichts und schluchzte unaufhörlich. Als sie endlich wieder herauskam, mit rot geweinten Augen und durchsichtig wie ein Gespenst, teilte sie ihren Eltern mit ruhiger, gefasster Stimme mit, sie könne wegen der Schande nicht länger in der Stadt bleiben und habe beschlossen fortzugehen. Die Eltern, noch immer wie gelähmt von den Ereignissen, versuchten nicht, sie zum Bleiben zu überreden, sondern fragten nur, was sie denn vorhabe.
„Ich gehe nach Warschau und suche mir dort eine Stelle. Ich werde schon darüber hinwegkommen. Dort kennt mich wenigstens niemand.“
„Aber du musst versprechen, dass du wiederkommst“, beharrte ihre Mutter
Gertruda zögerte. „Wie könnte ich das versprechen? Ich weiß doch selbst nicht, was die Zukunft bringt.“ Und mit einer vagen Handbewegung fügte sie hinzu: „Vielleicht finde ich dort sogar einen neuen Mann.“
Unmittelbar darauf reichte sie bei der Schule ihre Kündigung ein. Der Schulleiter beteuerte, wie sehr er ihr Ausscheiden bedauere, und versuchte, sie zum Bleiben zu überreden. Mehrfach betonte er, wie sehr die Schüler sie vermissen würden und dass die Großstadt ein hartes Pflaster sei, wo Fremde nicht unbedingt mit offenen Armen empfangen wurden. „Bitte, Frau Babilinska, überlegen Sie es sich noch einmal. Die Zeit heilt alle Wunden.“
Doch seine Worte prallten an ihr ab, sie hatte ihre Entscheidung getroffen. „Alles, worum ich Sie bitte, ist ein Empfehlungsschreiben.“ Der Schulleiter stellte ihr ein sehr gutes Zeugnis aus und verabschiedete sie mit warmen Worten.
Sie packte ein paar Sachen in einen kleinen Koffer, umarmte ihre Eltern zum Abschied, hob auf der Bank ihre wenigen Ersparnisse ab und bestieg den Zug nach Warschau.
Mit Hilfe einer Bekannten fand sie eine Stelle als Kindermädchen für die beiden kleinen Töchter einer gut situierten Familie. Dort blieb sie einige Jahre, bis die Familie in eine andere Stadt umzog. Gertruda ging zurück nach Starogard, doch in ihrer Heimatstadt war sie jetzt eine Fremde. Nach ein paar Jahren, in denen sie vergeblich versucht hatte, ihr altes Leben wieder aufzunehmen, kehrte sie nach Warschau zurück.
Die Hauptstadt empfing sie mit schwarzen Wolken und Regenböen. Gertruda lief durch die windgepeitschten Straßen, der Sturm riss ihr fast den Schirm aus der Hand. Schon bald war sie bis auf die Haut durchnässt und fror erbärmlich. Mit schnellen Schritten ging sie zurück zum Bahnhof, wo sie sich in den geheizten Warteraum setzte, bis ihre Kleider einigermaßen getrocknet waren. Als der Regen nachließ, wagte sie sich wieder nach draußen und begann, die Straßen durchzukämmen, bis sie an einem Haus mit abbröckelndem Mauerputz ein Schild „Wohnung zu vermieten“ entdeckte. Im Treppenhaus hing der schale Geruch von Schimmel und Küchendunst, die Vermieterin war mürrisch und ungehobelt, doch die Miete war niedrig genug, dass Gertruda beschloss zu bleiben. Sie hängte ihre Kleider in den schäbigen Schrank und trat ans Fenster. Über der Stadt breitete sich die Dunkelheit aus, die ersten Lichter erhellten die gegenüberliegenden Fenster. Der Gedanke, dass sie auf unbestimmte Zeit hier bleiben sollte, erschreckte sie. Die Angst vor neuen, noch größeren Enttäuschungen stieg in ihr hoch. Dennoch blieb ihr keine andere Wahl. Es gab kein Zurück, und sie würde alles daransetzen, um hier wieder irgendwie Fuß zu fassen.
Ihre mageren Ersparnisse würden, selbst wenn sie ihr Geld zusammenhielt, nicht länger als ein paar Wochen reichen. Das hieß, sie musste bald wieder eine Arbeit finden. Außerdem konnte sie nie lange untätig sein. Sie brauchte den Kontakt zu anderen Menschen und wünschte sich nichts sehnlicher, als zu arbeiten und sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen.
Draußen schlug der Regen von Neuem mit voller Wucht gegen die Fensterscheiben. Gertruda streckte sich auf dem Bett aus und fiel in einen unruhigen Schlaf. Früh am Morgen wachte sie auf, ging in ein kleines Café und studierte dort bei einer Tasse Kaffee den Anzeigenteil der Zeitung. Sie ließ ihre Augen über die Seiten schweifen. Gesucht wurden vorwiegend Ladenmädchen, Köche und Büroangestellte. Dann fiel ihr Blick auf ein Inserat, das ihr Interesse erregte. Sie las es wieder und wieder:
Angesehene Familie in Warschau sucht dringend eine liebevolle Kinderfrau für 2-jähriges Kind. Keine Hausarbeit. Bieten Kost und Logis und ein gutes Gehalt. Bitte melden Sie sich bei Familie Stolowitzky, Ujazdowska-Allee 9.
Die Anzeige beschrieb genau, was sie suchte. Sie liebte Kinder, verstand es, auf sie einzugehen, und könnte sie, wenn sie ins Schulalter kamen, zu Hause unterrichten oder ihnen bei den Hausaufgaben helfen. Wenn das Inserat hielt, was es versprach, und die Arbeitsbedingungen gut waren, dann war dies ihre Traumstelle.
Gertruda wollte keine Zeit verschwenden und machte sich sofort auf den Weg zu der angegebenen Adresse. Es war noch früh, und die Stadt erwachte gerade erst zu einem neuem Tag voller Hektik und Betriebsamkeit. Der Himmel war grau und wolkenverhangen, die Geschäfte öffneten eines nach dem anderen, und Leute auf dem Weg zur Arbeit füllten die Straßenbahnen.
Ihr Herz klopfte vor Aufregung, als sie in die Ujazdowska-Allee einbog. Sie bewunderte die stattlichen Häuser, in denen die Reichen und Mächtigen wohnten, und die auf Hochglanz polierten Autos, die beinahe lautlos durch schmiedeeiserne Tore glitten. Aus Starogard kannte sie nichts Vergleichbares.
Gertruda fasste sich ein Herz und drückte auf den vergoldeten Klingelknopf von Haus Nummer 9. Die darauf folgende Stille kam ihr wie eine Ewigkeit vor, bis eine ältere Hausangestellte die Tür öffnete.
„Guten Tag, ich komme auf Ihre Anzeige.“
Die Frau musterte sie ausdruckslos von Kopf bis Fuß. „Bitte, kommen Sie herein“, sagte sie schließlich.
Gertruda setzte zögernd einen Fuß in die luxuriöse Eingangshalle. Staunend betrachtete sie die wertvollen Statuen, Gemälde, die breite Treppe zur Galerie, die Blumensträuße in riesigen Vasen. Alles zeugte von einem noch nie gesehenen Wohlstand. Auch den Namen Stolowitzky hatte sie noch nie gehört.
Das Dienstmädchen nahm ihr den Mantel ab und geleitete sie zu einem kleinen Zimmer mit Blick in den Garten. „Warten Sie hier. Ich sage Frau Stolowitzky Bescheid, dass Sie da sind.“
Gertruda saß auf der Kante des mit Samt bezogenen Sofas, als fürchtete sie, das teure Polster abzunutzen oder schmutzig zu machen. Sie hatte Angst, dass die Hausherrin eine strenge, arrogante Frau war, wie die eingebildeten Reichen, die sie aus Romanen kannte, und hoffte, sie würde nicht wegen ihrer schlichten Kleidung verächtlich auf sie herabsehen oder Anforderungen stellen, die sie nicht erfüllen konnte. Verstohlen strich sie ihr Kleid glatt und versuchte vergeblich, ihre Hände zu verstecken, die ihr heute besonders plump und abgearbeitet schienen. Ich gehöre wirklich nicht hierher, dachte sie, sie erwarten bestimmt ein Kindermädchen, das Erfahrung im Umgang mit verwöhnten Kindern aus reichen Familien hat. Was kann ich als ehemalige Lehrerin in einer armseligen Kleinstadt schon vorweisen? Je länger sie dort saß, desto sicherer war sie, dass sie vergeblich gekommen war.
Dann ging die Tür auf, und sie sah eine schöne, elegante Frau, die sie mit freundlichem Blick wohlwollend anschaute. Gertruda erhob sich verlegen.
„Bitte, setzen Sie sich“, sagte die Frau mit leiser, melodischer Stimme. „Möchten Sie eine Tasse Tee?“
„Nein, danke.“
Die Frau streckte ihr eine zarte Hand entgegen. „Mein Name ist Lydia. Und wie heißen Sie?“
„Gertruda.“
„Danke, dass Sie so schnell gekommen sind“, sagte die Dame des Hauses. „Die Anzeige erschien heute früh zum ersten Mal, und außer Ihnen hat sich noch niemand gemeldet. Wo kommen Sie her?“
Gertruda beantwortete ihre Frage kurz und einsilbig.
„Haben Sie Erfahrung mit Kindern?“
„Ja, das habe ich.“ Gertruda reichte ihr ein Empfehlungsschreiben der Familie, bei der sie zuvor als Kindermädchen gearbeitet hatte.
Lydia Stolowitzky las es aufmerksam durch. „Hier steht sehr viel Gutes über Sie“, kommentierte sie anerkennend.
Gertruda errötete leicht.
„Sind Sie verheiratet?“
„Nein.“
„Erzählen Sie mir von Ihrer Familie.“
Während Gertruda sprach, betrachtete Lydia sie mit freundlichem Interesse und studierte ihre Züge. „Sie sind also keine Jüdin“, sagte sie danach.
„Ich bin Katholikin.“
„Nun, wir sind Juden“, erwiderte die Hausherrin zu Gertrudas Erstaunen.
Sie sah Lydia Stolowitzky mit einer Mischung aus Angst und Neugier an. Juden? Das hatte sie nicht erwartet. In ihrer Kleinstadt gab es keine Juden. Früher hatte einmal ein jüdischer Einzelhändler versucht, sich im Ort niederzulassen, doch einige Einheimische hatten der Familie das Leben so schwer gemacht, dass sie sich gezwungen sah, das Geschäft aufzugeben und wegzuziehen. Und Gertruda hatte schreckliche Geschichten gehört über Juden, die zum Passahfest Kinder von Nichtjuden umbrachten, um deren Blut für ihr Feiertagsritual zu verwenden. Sie kannte eine Reihe von bösen Gerüchten über Juden, Halbwahrheiten und üble Verleumdungen. Aber wer weiß, ob nicht doch etwas Wahres daran war? Nein, in diesem Haus konnte sie nicht bleiben.
„Ich…ich weiß nicht, ob das die passende Stelle für mich ist“, sagte sie unsicher.
„Und warum nicht?“ Sie begegnete Lydias offenem, fragendem Blick.
„Weil Sie Juden sind und ich nicht“, antwortete Gertruda wahrheitsgetreu.
Die Hausherrin lächelte. „Unser erstes Kindermädchen war auch keine Jüdin. Sie war Katholikin wie Sie. Und es hat niemanden gestört – weder uns noch sie.“
Gertruda erhob sich. „Trotzdem…“, sagte sie. „Es tut mir leid.“
„Mir auch“, erwiderte Lydia.
„Ich hoffe, Sie finden eine passende Kinderfrau“, sagte sie, während sie sich zum Gehen wandte. „Und verzeihen Sie bitte, dass ich Ihre kostbare Zeit vergeblich in Anspruch genommen habe.“
Sie war schon fast aus der Tür, als sie noch einmal Lydias Stimme vernahm. „Warten Sie!“
Die Hausherrin stand im Flur und sah sie mit demselben freundlichen Blick an. „Bevor Sie gehen, möchte ich Ihnen sagen, dass Sie mir sehr sympathisch sind. Falls Sie es sich anders überlegen und die Stelle doch antreten möchten, kommen Sie bitte wieder. Ich würde mich freuen, wenn wir uns wiedersehen.“
Als Gertruda ins Freie trat, fiel ihr kalter Nieselregen ins Gesicht. Sie fragte sich, ob es richtig gewesen war, diese Stelle auszuschlagen, denn eine bessere würde sie kaum finden.