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Nach dem großen Krieg
ОглавлениеDie Rauchwolken des Krieges lösten sich nur langsam auf. Zaghaft brach die Frühlingssonne durch und strich über die Ruinen, die Zehntausende von Menschen unter sich begraben hatten, tauchte verwüstete Straßenzüge in ein mildes Licht und ließ glitzernde Punkte auf den Wassern der Weichsel tanzen, deren träge Strömung die Erinnerung an Tod und Schrecken mit sich forttrug.
Auf einer Anhöhe im zerbombten Warschau stand das ehrwürdige alte Palais der Familie Stolowitzky. Wie durch ein Wunder hatte es den Krieg unbeschädigt überstanden. Ein Kunstwerk aus vier Stockwerken behauener Steine und fein gemeißelter Kanten, mit prächtigen Bleiglasfenstern und Deckenmalereien, von dessen Dachvorsprüngen die Statuen alter Kämpfer grüßten.
Nur zwei der ehemaligen Bewohner waren noch am Leben, ein Junge und seine Kinderfrau – Flüchtlinge in einem fernen Land. In ihrem neuen Zuhause in Israel, zwischen blätternden Tapeten, billigen Möbeln und Rostflecken in der Badewanne, schien das große, herrschaftliche Haus wie ein Tagtraum, wie ein Bild aus einer allzu lebhaften Fantasie.
Die beiden lebten in einer der düsteren Mietskasernen in einer Seitenstraße in Jaffa. Aus den Fenstern ihrer kleinen Wohnung blickten sie auf graue, trostlose Häuser. Kinder spielten in einem verlassenen Hinterhof, Frauen kamen vom Markt nach Hause, beladen mit schweren Einkaufstaschen. Tag und Nacht drang der Lärm vorbeifahrender Autos in die Wohnung. In der Luft lag ein fauliger Abfallgestank. Im Winter roch es in den feuchtkalten Räumen nach Schimmel, im Sommer staute sich die heiße, stickige Luft zwischen den Wänden.
Wie anders war es in dem Palais gewesen. Da hatte es geräumige Seitenflügel und weitläufige Gartenanlagen gegeben, eine warme Heizung im Winter. Im Sommer hatte durch die geöffneten Fenster eine frische Brise vom Fluss heraufgeweht. Dienstboten waren auf Zehenspitzen durchs Haus gehuscht, um unnötigen Lärm zu vermeiden. In den Schränken hatten teure Kleider gehangen, und die erlesenen Mahlzeiten waren in feinen Porzellangefäßen serviert worden. Das schwere goldene Besteck war auf Hochglanz poliert gewesen, und in edlen Kristallgläsern hatte der vollmundige Wein geschimmert.
Michael Stolowitzky und Gertruda, die Kinderfrau, die ihn als ihren eigenen Sohn angenommen hatte, hatten den Krieg überlebt. Nun kämpften sie den Überlebenskampf in einem fremden Land. Michael ging zur Schule, während Gertruda jeden Morgen in Jaffas nördliche Bezirke fuhr, wo sie als Putzhilfe für sich und Michael ihren Lebensunterhalt verdiente – keine leichte Arbeit für eine Frau, welche die Blüte der Jugend bereits hinter sich gelassen hatte. Abends kehrte sie müde und mit schmerzenden Gliedern zurück. Michael begrüßte sie immer mit einem Kuss, zog ihr die Straßenschuhe aus, kochte eine bescheidene Mahlzeit und schlug ihr Bett auf. Er wusste, dass sie nur seinetwillen so hart arbeitete. Sie wollte, dass er eine gute Schulbildung bekam, es sollte ihm an nichts fehlen. Und er schwor sich, dass er ihr eines Tages tausendmal vergelten würde, was sie für ihn getan hatte. Sie hatte ihn vor dem sicheren Tod bewahrt, ihm das Leben zum zweiten Mal geschenkt. Immer war sie für ihn da gewesen, tröstend und beschützend wie ein gütiger Engel.
Während des Krieges waren Armut und Not Michael Stolowitzkys ständige Wegbegleiter gewesen. Endlich, nach all den Jahren des Leids, sah er jetzt Licht am Ende des Tunnels. Bald würde dieses entbehrungsreiche Leben der Vergangenheit angehören. Eines Tages, in nicht allzu ferner Zukunft, würde sich alles zum Guten wenden, und es würde wieder so sein wie früher, in den sorgenfreien Tagen des Wohlstands. Davon war er fest überzeugt.
Eine glückliche, unbeschwerte Zukunft lag in greifbarer Nähe. Nicht mehr als vier Flugstunden trennten ihn von einem Schatz, der nur darauf wartete, von ihm gehoben zu werden: Millionen von Dollars auf den Konten und Goldbarren in den Tresoren von Schweizer Banken – das Vermögen seines verstorbenen Vaters, Jacob Stolowitzky, bekannt als „der Rockefeller von Polen“. Michael war sein einziger Erbe.
Das Erbe seines Vaters schien ihm eine gerechte Entschädigung für die furchtbaren Kriegsjahre. Es wurde zum Zentrum seines Denkens, Gegenstand seiner Tagträume. Während seiner Zeit bei der israelischen Armee fieberte er ungeduldig seiner Entlassung entgegen, um endlich seinen Plan zu verwirklichen.
Als junger Soldat wurde er einer Gefechtseinheit zugeteilt und von der Kugel eines syrischen Heckenschützen verwundet. Sie traf ihn bei einem Schusswechsel nördlich des Sees Genezareth ins Bein. Man brachte ihn, stöhnend vor Schmerzen, ins Krankenhaus von Poriya. Als er nach der Operation aus der Narkose erwachte, sah er seine Adoptivmutter an seinem Bett sitzen und streckte seine schwache Hand nach ihr aus.
„Weine nicht“, sagte sie und drückte seine Hand an ihr Herz, „es wird alles gut, das verspreche ich dir.“
Nach seiner Militärzeit kehrte er nach Hause in ihre bescheidene Wohnung zurück. Gleich am nächsten Tag machte er sich auf die Suche nach einem Job. Für keine Arbeit war er sich zu schade. Tagsüber flitzte er als Eilbote mit seinem Motorroller durch Jaffa-Tel Aviv, abends kellnerte er und arbeitete als Nachtwächter bei einer Textilfirma. Er wollte so viel wie möglich verdienen, so viel Geld wie möglich sparen.
Zwei Jahre später, im Juni 1958, kratzte er alle Ersparnisse zusammen und buchte einen Flug nach Zürich. Im Koffer verstaute er die verbliebenen Familiendokumente.
„Wie lange wirst du fortbleiben?“, fragte Gertruda besorgt.
„Zwei bis drei Tage vielleicht. Länger sollte es nicht dauern.“
„Und wenn sie dir das Geld nicht geben?“
„Warum sollten sie nicht?“ Er lächelte sie zuversichtlich an. „Ich bin bald wieder da“, versprach er. „Und wenn ich wiederkomme, bin ich ein reicher Mann. Dann ändert sich unser Leben.“
Sie begleitete ihn noch zum Flughafen und drückte ihm zum Abschied einen Kuss auf die Stirn. „Pass auf dich auf“, sagte sie. „Und gib gut auf das Geld acht – damit es dir nicht abhandenkommt.“
„Mach dir keine Sorgen“, antwortete er.
Aufgeregt und voll freudiger Erwartung ging er an Bord. In Zürich mietete er ein kleines Zimmer und lag die ganze Nacht wach. Er wusste nur den Namen einer Bank unter mehreren, bei denen sein Vater sein Vermögen angelegt hatte. Diese Bank suchte er am nächsten Tag auf. Unterwegs sah er vor seinem inneren Auge, wie die Bankangestellten ihm kofferweise Geldscheine aushändigten und wie er damit, reich und sorgenfrei, nach Israel zurückreiste. Er sah seine Adoptivmutter, wie sie ihn mit ausgebreiteten Armen begrüßte, und er hörte sich sagen: „Wir haben es geschafft, Gertruda, wir sind reich! Jetzt wohnen wir bald in unserem eigenen Haus, kaufen uns alles, was wir wollen – und das Wichtigste: Du musst nie wieder arbeiten!“
Sie würde ihn in die Arme schließen und sagen, was sie immer sagte: „Mein lieber Junge. Ich brauche kein Geld. Alles, was ich brauche, bist du.“