Читать книгу Eugenio Pacelli im Spiegel der Bischofseinsetzungen in Deutschland von 1919 bis 1939 - Raphael Hülsbömer - Страница 29
Die ‚Meistbegünstigungsklausel‘ und ein nicht gegebenes Versprechen
ОглавлениеDass Pacelli diesem Vorschlag, der eine klare Rechtsunsicherheit erzeugte, nichts abgewinnen konnte, überrascht nicht. Doch bevor er sich dazu äußerte, erwartete er den vollständigen Konkordatsgegenentwurf der Regierung, der ihn schließlich unter dem Datum des 6. November erreichte.306 Der erste Paragraph des 14. Artikels war – inklusive der ergänzenden Klausel – noch einmal geringfügig gegenüber dem Skript von Mitte Oktober geändert worden.307 Der Nuntius, der seinem Vorgesetzten am 7. November die Unterlagen übersandte, ging ausführlich auf die staatliche Replik zur Besetzungsfrage der bischöflichen Stühle ein und stellte zufrieden fest, dass die bayerische Regierung angesichts der „entschiedenen Haltung“308 des Heiligen Stuhls bereit sei, im Wesentlichen einzulenken. Zwar könne die staatliche Formel auf dem ersten Blick ungünstig erscheinen, weil die Triennallisten nicht erwähnt seien. Aber vor allem sei anzumerken, dass von keiner Verpflichtung des Heiligen Stuhls gesprochen werde, den neuen Bischof aus der eingereichten „Sedisvakanzliste“309 des Domkapitels zu ernennen. Diese Freiheit hielt Pacelli verständlicherweise für so wichtig, dass er sie mit aller Klarheit festhielt. Doch das war noch nicht das Entscheidende: Überhaupt könne der Papst nach dieser neuen Formel einen Geistlichen jenseits jeder Vorschlagsliste ernennen, sodass ihm faktisch eine größere Freiheit zuerkannt werde, als er sich mit seinem eigenen Entwurf des Artikels eigentlich vorbehalten habe. Für den Nuntius war die staatliche Aufgabe der päpstlichen Listenbindung eine ziemliche Überraschung.
Pacelli machte Gasparri anschließend auf eine Verschiebung des Wortlauts in der politischen Klausel im Vergleich zum vorherigen bayerischen Entwurf vom Juli aufmerksam. Hieß es damals noch: „Dieser [sc. der Heilige Stuhl, R.H.] wird … sich versichern, ob gegen den Kandidaten etwa Bedenken politischer Art bestehen“310, so lautete die neue Fassung: „Dieser [sc. der Heilige Stuhl, R.H.] wird … sich versichern, dass gegen den Kandidaten Erinnerungen politischer Natur nicht obwalten.“311 Diese Modifikation habe der Ministerialrat im bayerischen Kultusministerium, Franz Goldenberger, damit begründet, dass die erste Fassung den Heiligen Stuhl nicht verpflichte, den etwaigen Einwänden der Regierung gegen den ins Auge gefassten Kandidaten Rechnung zu tragen.312 Durch die neue Version sollte das korrigiert werden. Gasparri möge beurteilen – so Pacelli –, ob dieser Änderung stattgegeben werden könne.
Wie bereits angesprochen ging der Nuntius auch auf den gänzlich neuen Passus des fraglichen Artikels ein, nämlich den Vorbehalt der Regierung, hinsichtlich des Wahlrechts nicht schlechter gestellt zu werden als die übrigen deutschen Länder. Pacelli brachte für dieses Anliegen durchaus Verständnis auf: Es wäre eine schwierige Situation für die Regierung und insbesondere den Kultusminister, wenn anderen deutschen Ländern das Bischofswahlrecht der Domkapitel zugestanden würde, während man selbst vergebens darum gebeten hätte, obwohl man als erstes nach der Revolution bereit war, mit dem Heiligen Stuhl einen Vertrag zu schließen, der darüber hinaus für diesen noch offensichtliche Vorteile enthalte. Dennoch kam für den Nuntius eine solche Parenthese in den Konkordatstext nicht infrage und zwar aus mehreren Gründen:
1) Er begann damit, die grundsätzliche Linie, die der Heilige Stuhl nach der Revolution in Deutschland in Bezug auf die Besetzung der kirchlichen Ämter verfolgt habe, zu skizzieren: Anstatt sich zur theoretischen Frage nach der Fortgeltung der alten Konkordate zu äußern, habe Rom neue Verhandlungen initiiert. Da diese zwangsläufig einige Zeit in Anspruch nähmen, habe der Heilige Stuhl erlaubt, dass die Ämter zwischenzeitlich nach dem bisherigen jeweiligen Besetzungsmodus bestellt würden – sei es in einer generellen Anweisung, wie zum Beispiel hinsichtlich der Pfarreien in Bayern313 oder der Kanonikate in Preußen,314 sei es in einer Fall für Fall Entscheidung, wie bei den Kanonikaten in Bayern315 oder den Bischofswahlen durch die Domkapitel dort, wo sie bislang geltendes Recht gewesen seien.316 Letzteres sei der Unterschied zu Bayern, wo man sich vor über einem Jahrhundert konkordatär – also mit Einwilligung beider Seiten – vom Kapitelswahlrecht verabschiedet habe. Deshalb sei die Klage der Regierung – wie sie Matt in seinen Anmerkungen im Oktober formuliert hatte –, dass in der Übergangszeit bis zu einem neuen Konkordat manche preußische Diözesen via Kapitelswahl besetzt würden und Bayern dieses Recht gleichzeitig verwehrt werde, nicht gerechtfertigt. Abgesehen von der sachlichen Irregularität sei der – bereits genannte – hypothetische Charakter der Klausel in keiner Weise mit der Natur eines Konkordats, eine stabile Ordnung der Kirche und Staat betreffenden Materie zu schaffen, vereinbar.317
2) Das nächste Argument zielte darauf ab, dass die Vorbehaltsklausel gar nicht opportun war. Zwar habe Gasparri am 16. Mai versichert, dass der Heilige Stuhl künftig keinem deutschen Staat das Bischofswahlrecht mehr zugestehen werde.318 Doch prognostizierte Pacelli für den Fall, die in Rede stehende Klausel würde jetzt in das Konkordat aufgenommen, dass die Regierungen des Reichs und Preußens daraus eine mögliche Verhandlungsbereitschaft des Heiligen Stuhls in dieser Sache erschlössen:
„Das würde naturgemäß den Widerstand – von dem vorherzusehen ist, dass er tatkräftig vorgetragen wird, besonders in Preußen – gegen die Unterdrückung der Kapitelswahl vermehren und fast ermutigen; umso mehr als diese starke Unterstützer im dortigen Episkopat, in den Domkapiteln und der Zentrumspartei hat.“319
Wenn Gasparri – wie sich Pacellis Argumentation auf den Punkt bringen lässt – die Klausel im Konkordatstext akzeptierte, war seine Absicht in Gefahr, das Bischofswahlrecht in ganz Deutschland auszuschalten.
3) Schließlich weitete Pacelli den Horizont noch mehr und konstatierte, dass ein Zugeständnis zu diesem Vorbehalt, und sei er auch nur hypothetisch, es für den Heiligen Stuhl erheblich erschweren könnte, ihn anderen katholischen Nationen zu verweigern.320 Auf diese universalkirchliche Relevanz des Bayernkonkordats hatte auch der Kardinalstaatssekretär im August schon aufmerksam gemacht.
Inhaltlich unsachgemäß, einem Konkordat inkompatibel und ein negatives Präjudiz – das waren also die Einwände Pacellis gegen die „Meistbegünstigungsklausel“. Die leichteste Variante – so fuhr er fort –, das Ansinnen der Regierung zurückzuweisen, sei, wenn der Heilige Stuhl die genannte Erklärung abgebe, er werde keinem deutschen Staat das Kapitelswahlrecht mehr konzedieren, weder im Einzelfall noch als dauerhafte Regelung. Doch dann werde es dem Heiligen Stuhl kaum noch möglich sein – angesichts der „Empfindlichkeit Bayerns“321 – mit der bislang praktizierten provisorischen Besetzungspolitik fortzufahren. Eine solche Erklärung seitens des Heiligen Stuhls hatte nach Pacelli also weitreichende Folgen für das Verhältnis zu den übrigen deutschen Ländern, vor allem natürlich zu Preußen:
„In der gegenwärtigen ungewissen und unruhigen politischen Situation, die, sozusagen jeden Tag, die größten Überraschungen und die radikalsten Umstürze schaffen kann, ist es unmöglich, eine sichere Antwort zu geben. Jedoch kann man gleichwohl aus der Vergangenheit beurteilen, das heißt auf Basis der bisher von der preußischen Regierung eingenommenen Position, dass zu erwarten ist, dass sie bei dieser Sache reagieren würde wie gegen eine Verletzung der Bestimmungen der vereinbarten Bulle. Die Regierung könnte auch so weit gehen, zu behaupten, dass, wie der Heilige Stuhl zuerst die fraglichen Bestimmungen verletzt hat, sich entsprechend auch der Staat von seinen damit verbundenen Verpflichtungen für befreit hält, nämlich von den finanziellen Leistungen an die Kirche …“322
Das Dilemma war also Folgendes: Bei Abgabe der Erklärung an die bayerische Regierung durfte man in Preußen keine provisorische Bischofswahl mehr durchführen, während man diese gleichzeitig durchführen musste, um nicht Gefahr zu laufen, von preußischer Seite des Vertragsbruchs bezichtigt zu werden und dadurch die Finanzleistungen einzubüßen.323 Pacelli konzedierte zwar, dass die Kirche mit vollem Recht die Argumentation Preußens widerlegen könne, da die staatlichen Zahlungen nicht den Gegenwert für das Bischofswahlrecht der Domkapitel bilden würden, sondern als Entschädigung für den kirchlichen Güterverlust in der Säkularisation zu verstehen seien. Doch sei der Widerstand der deutschen Staatsregierungen – auch der bayerischen wie die Verhandlungen bisher gezeigt hätten – gegen diese Auffassung hinlänglich bekannt. Gewiss wage die preußische Regierung momentan nicht, dem Klerus feindlich zu begegnen, weil sie fürchte, das katholische Rheinland zu verlieren.324 Aber wer könne schon sagen, wie die Situation morgen aussehe? Abgesehen davon würden die preußischen Oberhirten – „wenngleich sie nicht immer die eigenen Rechte gegenüber dem Staat vertreten haben“325 – die Zirkumskriptionsbulle De salute animarum als soliden Rückhalt betrachten, sodass es ihrer Ansicht nach inopportun sei, die Fortgeltung nach der WRV anzuzweifeln.
Die leichteste Variante, um die staatliche Vorbehaltsklausel abzuwehren, war für Pacelli aufgrund der dadurch in Preußen zu erwartenden Probleme also keine reale Option. Dass er hier so ausführlich gegen die Zusicherung an den bayerischen Staat, man werde das Kapitelswahlrecht keinem anderen deutschen Land mehr erlauben, argumentierte, hatte seinen offensichtlichen Grund darin, dass es sich bei diesem Versprechen um die Absicht Gasparris und der AES handelte. Er musste davon ausgehen, dass die römische Reaktion auf die „Meistbegünstigungsklausel“ in genau dieser Zusicherung bestehen würde, da er schon früher den Auftrag erhalten hatte, sie offiziell abzugeben, wobei er jetzt implizit notgedrungen gestehen musste, diese Anweisung bislang nicht ausgeführt zu haben. Als Alternative präsentierte er eine andere Lösung, die ein klares „Nein“ und nur eine unbestimmte Zusicherung beinhaltete:
„In Abwägung von all dem scheint es, unbeschadet besseren Urteils, angemessen, die fragliche Ergänzung in der Antwort an die bayerische Regierung nicht zu akzeptieren, wobei man die Gründe darlegt, die es dem Heiligen Stuhl verbieten, solch einem Wunsch zuzustimmen und vielleicht im Allgemeinen hinzufügt, zum Beispiel, dass er es dennoch nicht versäumen wird, in dieser Angelegenheit provisorisch die heikle Lage auf größtmögliche Weise zu berücksichtigen, in der sich Bayern im Gegensatz zu den anderen deutschen Ländern befinden könnte.“326