Читать книгу Fluchtpunkt Hamburg - Reimer Boy Eilers - Страница 13
Rückblick Kosovo 1981
ОглавлениеEs ist März. Albulena steht kurz vor ihrem Abitur. Im Herbst möchte sie mit dem Studium anfangen. Sie ist gut, sie wird ihr Abitur bestehen. In diesen Tagen wird sie auf dem Schulhof von zwei Jugendlichen angesprochen. Dieses Gespräch ist mehr als zweideutig. Wollten sie uns warnen oder uns verraten?
Albulenas Vater, ein in der Bevölkerung sehr angesehener, aber dem herrschenden Regime missliebiger Kritiker, wurde politisch verfolgt und mit langjährigem, überwiegend in Einzelhaft vollzogenem Gefängnis bestraft. In Sippenhaft wurde die ganze Familie verfolgt, was die Migration einige seiner Töchter ins Ausland auslöste. Um sich selbst in der Isolation der Einzelhaft nicht aufzugeben, hatte Albulenas Vater ein Wörterbuch Albanisch-Serbisch mit fast zweitausend Seiten konzipiert, das heute, lange nach seinem viel zu frühen Tod, veröffentlicht wird und öffentliche Beachtung findet.
Was wollten die Jungen von ihr? Wollten die Beiden sie provozieren, sie zu unbedachten politischen Äußerungen verleiten, um sie dann bei den Behörden anzuzeigen? Es war eine Zeit, in der man niemandem trauen konnte.
Die Schule war beendet. Es war ein langweiliger Tag, nichts Neues, einfach so, wie Schule oft ist. Albulena wollte mit ihrer Freundin nach Hause gehen. Ihr Weg führte sie durch einen Park. Ungewöhnlich viele Leute saßen dort auf den Bänken oder schlenderten scheinbar ohne Ziel die Wege entlang. Plötzlich, es war ein Uhr, standen die Leute auf, formierten sich und trugen ein Bild des langjährigen, verstorbenen Präsidenten von Jugoslawien vor sich her. Daraus wurde eine Demonstration, friedlich, leise. Das Bild von Tito, dem nicht unumstrittenen Präsidenten, das in der ersten Reihe hochgehalten wurde, sollte einfach den Unmut der Bevölkerung gegen die politische Entwicklung im Kosovo aufzeigen. Friedlich und ohne Gewalt.
Albulena und ihre Freundin Teuta begriffen gewisse Zusammenhänge. Eine Demonstration. Albulenas Vater war in Gefahr, er war ein politischer Verfolgter. Würde man ihm diese Demonstration anlasten, ihn wieder inhaftieren? Die Mädchen liefen zu seiner Arbeitsstelle, wollten ihn warnen. Aber er war nicht da.
Als die beiden Mädchen nachfragten, erzählte eine Mitarbeiterin, dass der Vater bei der Bank sei. Wie an jedem Morgen war er dort, um die nötigen Geschäfte der von ihm betreuten Betriebe zu erledigen. Sie bot ihnen an, ihre Schultaschen aufzubewahren, damit sie zur Bank laufen könnten. Doch in dieser Zeit konnte man Niemandem trauen. Die abgegebenen Schultaschen hätten ein Beweis seien können, dass sich die Mädchen aktiv an der Demonstration beteiligt hätten.
Auslöser der Demonstrationen war der Unmut der Studenten an der Universität Pristina, die gegen das schlechte Essen in der Mensa protestierten. Letztendlich ein banaler Grund, der aber Auslöser für Gewalt und Terror wurde, mit dem man den Einsatz des Militärs rechtfertigte. Die beiden Mädchen liefen durch die Straßen. Überall waren Polizisten und bewaffnete Soldaten. Auf Balkonen, an den Fenstern oberer Stockwerke. Alle waren schussbereit, warteten anscheinend nur auf ein Signal.
In der Bank, Albulenas Vater war gerade dabei, Überweisungen für die Betriebe auszufüllen, hörte er ein Kind, das seinen Vater fragte: „Wann kaufst du mir ein Maschinengewehr, damit ich die Albaner umbringen kann? Pa, pa, pa ...“ Solch ein Satz von einem Kind? Welcher Hass muss dahinter stehen, wenn kleine Kinder derartige Worte übernehmen?
Dann fielen die ersten Schüsse. Schüsse auf friedliche Demonstranten. Auf Menschen, die ihre Rechte einforderten. Es gab Tote und Verletzte. Die Straßen waren voller Blut. Später erfuhr Albulena, dass ihr Vater durch einen Freund von der Bank abgeholt worden war, der ihn dann durch Nebenstraßen zu seinem Haus fuhr, damit er nicht mit der Demonstration in Verbindung gebracht werden konnte. Doch ab diesem Zeitpunkt wurde die Familie beobachtet, wurde das Haus überwacht, gab es geheime Durchsuchungen ihres Hauses. Freunde, die zu Besuch ka-men, wurden registriert, ihre Herkunft erforscht.
Wem konnte man noch trauen? Den Schulfreunden? Manche waren sehr nett, aber warum? Weil sie etwas erfahren oder weil sie helfen wollten? Es war eine Zeit des Misstrauens, der Angst, der Unsicherheit. Konnte man in diesem Land der Morde, des Verrates, der willkürlichen staatlichen Gewalt noch leben?