Читать книгу Der Andere - Reiner W. Netthöfel - Страница 12

11.

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Am Vormittag des nächsten Tages brachen sie auf. Magnus war melancholisch, was den anderen natürlich auffiel.

„Was ist mit ihm los? Er ist so schweigsam.“, wollte Will wissen.

„Ich weiß es nicht, vielleicht hat er so Phasen.“, mutmaßte Holly.

Weitgehend schweigend fuhren sie nach Nordwesten. Selbst Stefania schien von der seltsamen Stimmung gefangen und verhielt sich ruhig und las eines ihrer neuen Bücher.

Nach Dicks Angaben war das Familiengrab, in dem nur Tom und Sarah lagen, da ihre Kinder fortgezogen waren, in einem Wald nahe der kanadischen Grenze. Er hatte jedoch nicht sagen können, ob es noch vorhanden war, oder in welchem Zustand es sich befand.

Magnus fuhr schweigend in den beschriebenen Waldweg. Bald erreichten sie eine große Lichtung, auf der sich, in einiger Ordnung, Grabsteine und Kreuze befanden. Der Friedhof wurde schon lange nicht mehr genutzt, so dass das Gelände ziemlich verwildert wirkte. Er hielt an und blieb einige Zeit sitzen, ohne ein Wort zu sagen, dann stieg er mit den heiser hingehauchten Worten: „Lasst mich alleine.“, aus.

„Warum …?“, wollte Holly fragen, als sich ihre Tochter nach Stunden des Schweigens meldete: „Er hat seine Gründe.“

„Was für Gründe?“

„Du wirst es erfahren.“

„Und du? Du kennst die Gründe schon?“, fragte Holly verärgert, sah sich nach ihrer Tochter um, die mit ernstem Gesicht auf der Rückbank saß und entschuldigte sich.

„Tut mir leid, Steffi. Ich verstehe das alles nur nicht. Verstehst du das?“

„Nicht richtig. Ich weiß nur, dass er seine Gründe hat. Er wird uns alles sagen. Wenn es an der Zeit ist.“

„Was wird er uns sagen?“ Holly klang verzweifelt.

„Ich weiß es nicht genau, aber es wird uns umhauen.“, informierte das Mädchen seine Mutter ernsthaft.

Sie sahen ihn suchend an den alten Grabmalen vorbeigehen und deren Inschriften studieren. Immer wieder ging er voran, um dann einen nächsten, zugewachsenen, alten Gang zurückzugehen. Mit einem Mal blieb er vor einem schlichten, verwitterten Holzkreuz stehen. Er bückte sich, um die Inschrift zu lesen, dann richtete er sich wieder auf, blickte zum Himmel, faltete die Hände vor seinem Bauch und sank auf die Knie. Er senkte seinen Kopf und sackte in sich zusammen. Sein Körper zuckte. Holly öffnete besorgt die Autotür und stieg aus.

„Was hast du vor, Mom?“

„Ihm geht es nicht gut, das sieht man doch. Ich will ihm helfen.“ Sprachs und lief los. Stefania besann sich nicht lang und lief hinterher.

Ein Stück vor dem Grab blieben Mutter und Tochter stehen. Der gekrümmt auf seinen Knien hockende Mann sprach. Er sprach in einer fremden Sprache, die Holly als Französisch identifizieren konnte. Und der Mann weinte. Holly hätte niemals daran gedacht, dass dieser Mann weinen könnte. Stefania schmiegte sich an ihre Mutter, die ihre Tochter an sich drückte, als müsste sie sie vor etwas beschützen.

Dieser europäische Kapitalist, der sich ein Küchenmesser aus der Brust gezogen hatte, mit dem Holly ihn angegriffen hatte, der so souverän und cool war, hockte vor einem verwitterten Holzkreuz mit einer kaum entzifferbaren Inschrift und schluchzte herzzerreißend. Holly verstand das nicht. Sie trat ein paar Schritte näher und sah das schmerzverzerrte Antlitz von Magnus Montanus.

„Magnus? – Magnus? – Kann ich dir helfen?“, frage sie unsicher.

Mit einem Mal entzerrte sich sein Gesicht, ja, es wurde friedlich. Ein Lächeln zauberte sich darauf. Er nickte und sie glaubte zu hören, wie er ‚Oui, Sarah.‘ sagte. Dann stand er auf und ging, anscheinend zufrieden, zum Auto zurück, ohne seine Begleitung anzusehen, und Holly sah ihm entgeistert nach.

„Was war das eben?“, fragte Holly nach einer Weile Fahrt, ohne ihn anzusehen.

„Ich kann es nicht sagen.“, behauptete er und sah auf die Straße.

„Kannst du doch!“, rief Stefania von hinten.

„Steffi!“, wurde sie von ihrer Mutter zurechtgewiesen. „Ich hatte den Eindruck, du würdest mit jemandem sprechen.“

„Es war doch niemand da.“, erklärte er lapidar.

„Außer der Toten.“, kam es von hinten.

Sie fuhren durch einen Wald, als plötzlich ein Rehkitz auf die Straße sprang. Magnus konnte nicht mehr ausweichen. Er vollführte eine Vollbremsung, die Mädels schrien auf und der Fahrer sprang aus dem Fahrzeug; auch die beiden anderen stiegen aus und begaben sich zur Vorderseite des Autos, wo Magnus vor dem sich windenden Tier kniete.

„Tu was!“, rief die weinende Stefania. Holly drückte das Gesicht ihrer Tochter gegen ihren Bauch und starrte auf das verletzte Tier, dessen Vorderläufe gebrochen waren und den hilflos davor knieenden Mann.

Magnus sah in die großen, verzweifelten Augen des kleinen Huftieres und wusste nicht, was er tun sollte. ‚Tu was!‘, hallte Stefanias Aufforderung in seinem Hirn nach. Er beugte sich vor und berührte die verletzten Beine des Tieres mit seinen Händen. Das Reh wurde ruhiger. Es sah ihn an und rappelte sich auf. Die Beine wiesen keine Verletzungen mehr auf. Erst langsam, dann immer schneller, schritt das Tier davon. Am anderen Ende der Fahrbahn blieb es stehen und sah sich zu ihm um, dann war es im Wald verschwunden.

Holly und Stefania hatten die Szene ungläubig beobachtet.

Wie in Trance stieg Magnus wieder ein. Langsam folgte Holly mit ihrer Tochter, die das Schauspiel verfolgt hatten.

„Magnus?“, sagte Holly nach ein paar Meilen.

„Ja?“ Er blickte stur geradeaus.

„Die Beine waren gebrochen.“

„Ja.“

„Es ist davongelaufen, als wäre nichts passiert.“

„Ja.“

„Magnus!“

„Ja?“ Er starrte auf die Straße.

„War das auch nur ein … Kratzer?“

„Ja.“

Er hatte so etwas noch nie gemacht. Er wusste, dass er praktisch unverwundbar war, aber er wusste nicht, dass er Verletzungen heilen konnte. Er war sich sicher, dass er es bisher noch nicht gekonnt hatte. An erfrorene Füße dachte er nicht zurück, da spielte ihm seine Erinnerung einen Streich. Er hatte schon häufig Wunden berührt, aber nichts dergleichen war geschehen. Was war passiert? Womit hing das zusammen?

Stefania las mit einem seltsamen Lächeln auf den Lippen in ihrem Buch über Mythen.

Es war eine schweigsame Weiterfahrt.

Am Abend klopfte es an seine Moteltür. Es war Holly, die ihm in die Augen sah. So einen seltsamen Blick hatte sie bei diesem Mann noch nie gesehen. Sein Blick verriet Verunsicherung und gleichzeitig eine grenzenlose Gewissheit, aber auch Angst und Zufriedenheit. Sie schauderte.

„Darf ich hereinkommen?“ Wortlos trat er zur Seite und ließ sie vorbei. Unschlüssig standen sie in dem Raum, bis er auf einen der Sessel wies. „Setz dich doch.“, meinte er lapidar. Sie tat es und sah ihn weiterhin an, er aber mied ihren Blick.

„Was ist passiert?“, fragte sie.

„Was meinst du?“ Er setzte sich in den anderen Sessel.

„Was ist heute passiert? An Sarahs Grab und, als du, als wir das Reh anfuhren?“

Magnus rang die Hände und sah sie nicht an.

„Ich habe ein Reh angefahren.“

„Ich weiß.“ Beide schwiegen. Holly war allerdings der Auffassung, dass er ihr etwas zu erklären hätte.

„Mehr hast du nicht zu sagen?“ Sein Blick, der jetzt auf ihr ruhte, wurde eiskalt; das kannte sie schon.

„Das Reh hatte nur einen Kratzer.“ Holly nickte.

„Klar. Und an Sarahs Grab war dir eine Mücke ins Auge geflogen und du hast Selbstgespräche geführt.“, entgegnete sie laut. Sie stand abrupt auf.

„Ich denke, du solltest so bald wie möglich abreisen; du bist ein Freak.“ Als sie sein Zimmer verließ, kamen ihr die Tränen.

War er ein Freak? An Sarahs Grab hatte er seinen Emotionen freien Lauf gelassen, bis er diese Signale empfangen hatte. Er hatte plötzlich das Gefühl gehabt, mit Sarah kommunizieren zu können. Er empfing etwas von ihr, das ihn ruhig werden ließ. Er empfing, dass er sich keine Sorgen oder kein schlechtes Gewissen zu machen brauchte. Sie und Tom seien glücklich gewesen und friedlich eingeschlafen.

Die Sache mit dem Reh war etwas anderes gewesen. Seine Wunden heilten, das wusste er. Stefanias Worte hatten ihn veranlasst, die Läufe des Tiers zu berühren und sie waren geheilt.

Stefania. Sie war entscheidend gewesen. Was war nur los? Was war mit ihm los? Welche Rolle spielte dieses Kind? Spielte es eine Rolle?

Selten in seinem langen Leben war ihm so etwas passiert. Jedenfalls nicht in den letzten Jahrhunderten, nachdem er sich klar geworden war, was mit ihm los war und es akzeptiert hatte. Etwas, das er selbst nicht verstand, worüber er keine Kontrolle zu haben schien.

Holly hatte ihn aufgefordert abzureisen. Aus ihrer Perspektive hatte sie sicher recht. Aber es ging nicht, er hatte hier noch etwas aufzuklären. Etwas, das mit ihm zusammenhing. Etwas, für das er keine Erklärung hatte. Noch nicht.

Der Andere

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