Читать книгу Der Andere - Reiner W. Netthöfel - Страница 4

3.

Оглавление

„Wie geht es Grandma, Darling?“

„Sie schmollt und hat sich in ihrem Zimmer eingeschlossen.“

„Grüße sie trotzdem schön.“

„Mach ich, und dir viel Glück morgen.“

„Danke.“

Gedankenverloren und lächelnd legte Holly auf. Ihre Tochter. Stefania war erst fünf, aber so gescheit wie eine Zehnjährige. Holly war stolz auf sie. Weniger stolz war sie auf den Zeugungsakt, der Stefania hervorgebracht hatte, aber sie verscheuchte den Gedanken schnell.

Sie würde sich jetzt herrichten und essen gehen, obwohl dies ihr Budget erheblich strapazieren würde. In der Nähe gab es ein gutes Restaurant und sie hatte einen Tisch ergattert. Gutes Essen und ein guter Wein würden sie auf andere Gedanken bringen. Das hatte sie nötig vor morgen.

Sie zog ein hübsches Kleid und bequeme Schuhe an, warf noch einen Blick in den Spiegel, der ihr eine gut aussehende, junge Frau zeigte, und verließ ihr Zimmer.

An der Rezeption, die neben dem Eingang zur Gaststube lag, verhandelte der Kellner mit einem jungen Paar, das Englisch mit Akzent sprach. Sie grüßte mit einem Kopfnicken und trat in den lauen Abend.

Draußen atmete sie einmal tief durch. Sie genoss die angenehme Luft, die zwar warm war, aber nicht so stickig wie zu Hause.

Um diese Zeit war nicht mehr viel Verkehr und so konnte sie sich ein wenig umsehen. Es war hier völlig anders als zu Hause. Die Autos waren kleiner und fuhren schneller. Die Häuser waren nicht so hoch und die Straßen schmaler und enger bebaut. Außerdem war es wärmer, als ihr ein paar Leute einzureden versucht hatten, so dass sie dachte, ein paar Kilometer weiter wäre Sibirien.

Nach ein paar hundert Metern schon erreichte sie das Restaurant, das in einem unscheinbaren, ja, hässlichen Backsteinbau untergebracht war. Umso positiver überrascht war sie von der geschmackvollen Inneneinrichtung, die die Räume großzügig ausnutzte. Von einem distinguierten Kellner wurde sie an einen Einzeltisch gebeten und bestellte zunächst ein Wasser. Das Lokal war etwa zur Hälfte gefüllt und die Gäste unterhielten sich meist leise. An den Tischen, auf denen Kerzen brannten saßen meist Paare. An einem etwas abseits gelegenen, größeren Tisch saß ein grauhaariger Mann alleine und mit dem Rücken zu ihr.

Sie hatte einen Wein und ein Menü bestellt, der Preis war ihr egal, normalerweise würde sie nicht so viel für Essen ausgeben, als das fremdländisch aussehende Pärchen aus ihrem Hotel erschien und sich suchend umblickte. Der Kellner half und geleitete sie zu dem einzelnen Mann, den er höflich ansprach. Der Kellner trat zurück, als der Mann sich erhob und das Pärchen herzlich begrüßte. Holly konnte den Mann nicht sehen, denn der Kellner verstellte die Sicht. Das Pärchen machte jedoch einen glücklichen, wenn nicht gar einen verzückten Eindruck, als es dem Mann gegenüber Platz nahm.

Für Hollys Mission wäre es sehr aufschlussreich gewesen, wenn sie hätte hören können, was die drei sich zu erzählen hatten, doch die Distanz war zu groß.

„Ihr seid also die Enkel von Ruth Leibowitz.“, stellte der Mann mehr fest, als dass er fragte.

„Und Sie sind der Enkel von Magnus Montanus?“, wollte die junge Frau mit den lockigen schwarzen Haaren wissen.

„Gewissermaßen.“, nuschelte der Mann. „Ruth ist also gestorben?“, fragte er mit Anteilnahme.

„Ja, Großmutter ist tot. Es war ihr Wunsch, dass wir einen Mann namens Magnus Montanus in Deutschland ausfindig machen und ihm einen Brief von ihr übergeben.“, erklärte der junge Mann.

„Ist es euch schwer gefallen, hierher zu kommen? Ich meine, dies ist Deutschland.“, fragte Magnus mit Interesse.

„Nein, diese Gefühle haben wir nicht. Selbst Ruth spielte manchmal mit dem Gedanken, zu reisen, auch, um Sie kennenzulernen, aber die Erinnerungen waren noch zu wach.“

„Ich verstehe.“

„Ihr Großvater hat Ruth das Leben gerettet.“

„Ja.“

„Sie sehen Ihrem Großvater sehr ähnlich.“, bemerkte die Frau.

„Ja, das ist wohl so. Erstaunlich, nicht? Sie haben sicher … Erkundigungen über mich eingezogen.“ Der Mann lachte.

„Das ist ja heutzutage nicht sehr schwer. Ja, wir haben etwas geforscht.“

„Sie gleichen Ihrem Vater fast bis aufs Haar, und sie alle tragen den selben Namen.“, meldete sich die Frau.

„Tja, das ist unser Fluch.“, lachte Magnus, aber seine Augen lachten nicht mit. Der junge Mann zog einen Umschlag aus dem Jackett und reichte ihn Magnus, der ihn aber ungeöffnet zur Seite legte.

„Jetzt nicht. Lasst uns erst was essen.“

Während der Speisenfolge machten sie etwas Konversation, wobei Magnus geschickt versuchte, möglichst wenig über sich preiszugeben und lieber auf die aktuelle Lage im Nahen Osten zur Sprache kam. Immer gelang dies jedoch nicht.

„Woher kommt eigentlich Ihr Name?“, fragte die wissbegierige Frau.

„Oh, der Name ist uralt und kommt aus dem Lateinischen. Er könnte ‚Großer Berg‘ bedeuten. Meine Vorfahren müssen wohl im Gebirge gelebt haben.“

„Könnte es damit zusammenhängen, dass die Ursprünge Ihres Unternehmens im Süden zu suchen sind, in Alpennähe?“

„Möglich, aber es finden sich keine schriftlichen Belege, jedenfalls, so weit ich das weiß.“, gab Magnus vor.

„Und alle männliche Nachkommen tragen den gleichen Vornamen?“

„Ja.“

„Haben Sie einen Sohn?“ Die Israelin war tatsächlich sehr wissbegierig.

„Nein.“

„Dann sind Sie der Letzte in einer langen Kette?“ Magnus schmunzelte.

„Was nicht ist, kann noch werden.“ Die Geschwister lachten höflich mit.

„Ihre Familie hat häufig den Hauptwohnsitz gewechselt.“, stellte die Neugierige fest und verwandelte diese Scheinaussage in eine Frage.

„Häufig?“ Die Frau lachte.

„Na ja, wir denken vielleicht ein wenig in eher biblischen Kategorien. Eigentlich lebt jede Generation Ihrer Familie woanders, und zwar ziemlich weit entfernt vom vorherigen Wohnort.“

„Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht.“, log Magnus. In der Tat war diese Art des Versteckspiels in der heutigen Zeit sinnlos geworden. Räumliche Distanzen spielten keine Rolle mehr. Ganz früher reichte ein Umzug in ein anderes der deutschen Länder, und schon waren nach kurzer Zeit alle Spuren und Erinnerungen verwischt. Vor etwa hundert Jahren musste er zu diesem Zwecke schon ein paar Jahrzehnte ins Ausland, aber heute? Er würde sich etwas einfallen lassen müssen.

Holly war gerade unter den Tisch getaucht, um nach ihrer heruntergefallenen Serviette zu fischen, als der grauhaarige Mann an ihr vorüberging, und als er zurückkam, stand der Kellner vor ihr, um ihr eine neue Flasche Wein zu bringen. Danach hatte sie wegen des Alkohols ohnehin Fokussierungsprobleme.

Aber seine Stimme hörte sie manchmal, ohne zu lauschen. Und die klang sanft und sonor. Sie hörte die Melodie seiner Stimme gerne, stellte sie fest. Aber sie konnte nicht hören, über was gesprochen wurde.

„Ich würde gerne den Brief von Ruth alleine zu Hause lesen, wenn ihr nichts dagegen habt.“

„Nein, sicher nicht; es ist ja eine sehr persönliche Geschichte. Sicher für Sie auch interessant, was Ruth über Ihren Großvater zu sagen hat.“, lächelte der junge Israeli.

„Wie lange bleibt ihr im Lande?“

„Oh, wir verbinden diesen Auftrag mit einer Europareise; wir bleiben noch einen Tag hier und dann geht es weiter.“

„Dann sollten wir uns morgen noch einmal sehen. Wieder hier? Selbe Zeit?“ Die beiden nickten und Magnus verabschiedete sich, zahlte und ging hinaus, wo er einen großen, schwarzen Wagen bestieg. Holly achtete nicht auf ihn, sondern darauf, ihren Wein nicht zu verschütten.

„Hey, ist das nicht das Mädel aus dem Hotel?“ Der Mann wies seine Schwester auf Holly hin, die dem Ausgang des Restaurants entgegenschwankte.

„Wir sollten besser mit ihr gehen.“, raunte die Frau fürsorglich, und so kam es, dass Holly von ihnen in die Mitte genommen wurde.

„Das ist aber nett von euch.“, erklärte Holly lallend und sah rechtlinks dieeinedenanderen an.

„Ist doch klar, wir sind doch Nachbarn.“

„Was war denn das für ein Typ, mit dem ihr euch unterhalten habt?“ Die Israelin lachte.

„Der Enkel eines Bekannten unserer verstorbenen Großmutter.“

„Oh je.“

„Genau.“

Lieber Magnus,

ich nenne dich einfach so, wie ich dich immer genannt habe, weil ich glaube, dich damit richtig anzureden. Ich habe über sechzig Jahre über dich nachgedacht, und ich will dir mitteilen, was dabei herausgekommen ist. Erwarte kein Dankschreiben, das ich kurz vor meinem Tode an dich verfasse. Erstens weißt du wie dankbar ich dir bin und zweitens weiß ich, dass du überschwänglichen Dank nicht magst. Wir haben ja damals Zeit genug gehabt, uns kennenzulernen, in deiner Eishöhle. Über die Umstände unseres Kennenlernens haben wir damals auch lange genug geredet, das muss ich nicht wiederholen. Du hättest einen Platz im Garten der Gerechten verdient gehabt, aber du wolltest ja nicht. Alter Sturkopf. Aber ich glaube jetzt zu ahnen, was deine Gründe waren, meinen Vorschlag abzulehnen. Es ist die, wie man heute sagt, Publicity, die du gar nicht gebrauchen kannst. In den Jahren in der Höhle hatte ich Gelegenheit genug, dich anzuschauen, jemand anderes war ja nicht da. Ich kannte bald jede deiner Gesten, deiner Bewegungen, ich kenne jeden Quadratzentimeter deiner Haut. Die Zeitungsfotos, gerade der ersten Jahrzehnte nach dem Kriege, waren schlecht. Aber dann gab es kurze Filmausschnitte von dir und scharfe Bilder in diesem Internet. Du behauptetest, ein Nachkomme dessen zu sein, den ich kennenlernen durfte, und erklärtest die große Ähnlichkeit mit den Genen. Aber seit wann werden kleine Narben vererbt? Entschuldige, aber wenn es Aktfotos von dir gegeben hätte, wäre die Sache für mich sehr deutlich geworden. Magnus Montanus, du bist derselbe Mann, der mich damals in seiner Höhle versteckt hat. Ich weiß es und ich bin stolz darauf. Ich habe mich damals gewundert, warum du nicht verletzt worden bist, als der Soldat auf dich geschossen hat; ich habe nämlich Blut aus deinem Arm spritzen sehen. Es hängt damit zusammen, nicht wahr? Kleine Kratzer hinterlassen kleine Narben, aber Schussverletzungen verheilen spurlos. Wenn meine Enkel dir diesen Brief überreichen – keine Sorge, sie werden ihn nicht lesen, nur, sie sind nicht auf den Kopf gefallen und können eins und eins zusammenzählen - , wirst du genauso alt sein, wie damals, als wir uns kennenlernten. Ich weiß ja nicht, wie lange das schon geht, aber ich würde mich nicht wundern, wenn du das Geburtsdatum mit jemandem teilst, der nicht sehr alt geworden ist, aber gleichwohl lebt. Als ich das alles herausgefunden hatte, habe ich mich göttlich amüsiert, wenn du verstehst, was ich meine.

Schade finde ich nur, dass wir uns nie wiedersehen werden, egal, wo ich lande, im Himmel oder in der Hölle.

Ist es frivol, dir Lebewohl zu wünschen?

Deine Ruth

Magnus ließ die Blätter sinken und faltete sie zusammen, bevor er sie wieder in den Umschlag tat. „RuthRuthRuthRuth.“, murmelte er, als er den großen Tresor öffnete, einen Karteikasten hervorzog, auf dem ‚Ruth‘ stand und den Umschlag hineinlegte zu ihren anderen Briefen.

Der Andere

Подняться наверх