Читать книгу Der Andere - Reiner W. Netthöfel - Страница 16

15.

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Zehn Kilometer über Madeira fragte er sie: „Du glaubst mir immer noch nicht, nicht wahr?“

Sie sah an ihrer Tochter vorbei durch das Fenster und sprach: „Ich weiß nicht, was ich glauben soll.“ Magnus räusperte sich.

„Ich habe nicht alles gesagt.“ Holly sah ihn fragend an. Was gab es jetzt? Gab er es jetzt zu? Stimmte das alles nicht? Magnus nickte.

„Es gibt da noch jemanden in meinem Leben.“ Hollys Herz verkrampfte sich. Er hatte eine Frau. Auch Stefania fand das, was er zu erzählen haben würde, spannender als die unter ihnen liegenden Wolkenformationen und sah ihren Vater interessiert an.

„Ich war vor ein paar Jahren in Mexiko, fuhr über Land. Ich kam in eine kleine Stadt, als sich ein lokales Erdbeben ereignete. Mehrere Menschen wurden verschüttet, als ein öffentliches Gebäude einstürzte. Ich half bei den Bergungsarbeiten. Es waren alle tot, bis auf ein junges Mädchen, das aber viel Blut verloren hatte. Sie brauchte eine Transfusion. Es gab kein Krankenhaus in dieser Stadt, aber einen tüchtigen Arzt, der ebenfalls bei der Bergung geholfen hatte. Da das Mädchen seine Patientin war, wusste er deren Blutgruppe, aber niemand der anderen kannte seine. Eile war geboten. Ich behauptete einfach, ich hätte die passende Blutgruppe, hoffte, dem Mädchen helfen zu können, denn ich glaubte, mein Blut sei besonders. In seiner Praxis versorgte der Mann die junge Patientin, stillte die Blutungen und bereitete alles für eine Übertragung vor. Es war sehr primitiv und dauerte sehr lange. Sie bekam mein Blut und zur Überraschung des Arztes schritt die Heilung ihrer Wunden sehr rasch fort. Ich hatte mir so etwas gedacht. Es war zwar noch nie vorher passiert, aber ich ahnte es. Innerhalb von ein paar Tagen war sie genesen und wir freundeten uns an. Da ihre Eltern und Geschwister bei dem Beben ums Leben gekommen waren, entschloss ich mich, sie zu mir zu nehmen.“

„Als deine Tochter?“, fragte Holly hoffnungsvoll.

„Gewissermaßen.“

„Habe ich jetzt auch eine Schwester?“, rief Steffi erfreut.

„Ja.“, antwortete Magnus.

„Nein.“, meinte Holly zeitgleich, was ihr einen kritischen Blick vom Vater ihrer Tochter einbrachte.

„Was denn nun?“, fragte Steffi verwirrt.

„Erstens ist nicht bewiesen, dass Magnus tatsächlich dein Vater ist,“ was sie allerdings, je länger sie die beiden beobachtete, selbst nicht glaubte, „dann müsste er, zweitens, die Vaterschaft anerkennen, und, drittens, ist dieses Mädchen nicht wirklich seine Tochter.“

Magnus schaltete sich, etwas verärgert über Hollys Worte, ein: „Wenn ihr wollt, erkenne ich die Vaterschaft über Steffi an; ich kann noch heute meine Anwälte instruieren. Einen Gentest will ich nicht machen lassen, wer weiß, was dabei herauskommt …“

„Was soll dabei herauskommen?“, fragte Holly überrascht.

„Na ja, vielleicht habe ich ja ein Spezialgen, oder so etwas. Ich möchte nicht, dass es jemand erfährt.“

„Aha.“ Spezialgen, genau. Wenn seine Geschichte stimmte, hatte er wahrscheinlich so etwas.

„Die Sache mit Melissa, so heißt die mittlerweile junge Frau, ist etwas komplizierter. Ich habe sie nicht adoptiert; ohne Ehefrau ist so etwas nicht so einfach. Ich war aber ihr Vormund und sie hat einige Jahre mit mir zusammengelebt, das heißt, sie wohnt immer noch bei mir. Sie hat meinen Namen angenommen. Sie hat eine Menge Blut von mir bekommen.“ Seine letzten Worte kamen sehr bedeutungsvoll daher, so dass Holly die Stirn runzelte.

„Was heißt das?“ Holly fühlte sich, als hätte sich das Flugzeug um sie herum in Luft aufgelöst und klang entsprechend bang.

„Sie ist ein wenig wie ich.“, erklärte er leise. Holly hatte Mühe, das Puzzle in ihrem Kopf in gebotener Zeit zusammenzusetzen.

„Was heißt das?“, wiederholte sie.

„Sie hat Probleme mit dem Älterwerden.“ Holly schluckte, sah ihn an, sah ihre Tochter an und musste die nächste Frage gar nicht stellen, denn die Antwort kam auch ungefragt.

„Es ist möglich.“, nickte Magnus. Steffi, nicht auf den Kopf gefallen, ahnte, wovon die Rede war.

„Ich will aber nicht ewig fünf bleiben!“, protestierte sie. Magnus lächelte, sprach dann aber ernst weiter.

„Ich weiß nicht, wie es passiert und wann es passiert. Ich weiß nicht, ob es dir passieren wird, oder ob etwas anderes mit dir passiert, oder ob gar nichts passiert. Bei mir hörte es plötzlich auf, so, als ich Anfang vierzig war.“

„Was hörte plötzlich auf und wieso kannst du das nicht genau datieren?“, fragte Holly skeptisch.

„Als ich so alt aussah wie jetzt, wurde ich nicht mehr älter. Also, ich wurde schon älter, aber man sah es mir nicht an. Ich kann es nicht genau datieren, weil ich nicht weiß, wie alt ich wirklich bin. Als ich geboren wurde, gab es keine Kalender, jedenfalls bei uns nicht. Ich schätze daher, dass ich zwischen vierzig und fünfzig war.“

„Keiner hat etwas gemerkt?“

„Die Leute sind damals früh gestorben, ich war plötzlich der Älteste in unserer Sippe und wurde dafür bewundert und schließlich verehrt. Aber als ich dann die Kinder meiner Altersgenossen überlebte, wandelte sich die Stimmung und ich ging sicherheitshalber auf Wanderschaft.“

„Du bist also ein Getriebener?“ Holly ließ sich versuchsweise auf seine Spinnereien, wie sie immer noch hoffte, ein.

„In gewisser Weise, ja. Alle zwanzig, dreißig Jahre verschwinde ich, um irgendwo anders aufzutauchen. Für meine Mitarbeiter bin ich dann mein eigener Sohn.“

„Ein Versteckspiel.“, bestätigte Holly.

„Ja, aber es macht keinen Spaß, glaub mir. Melissa hilft mir sehr, obwohl sie ähnliche Probleme hat.“

„Welche?“

„Sie altert sehr langsam. Sie sieht aus wie achtzehn, ist aber schon fünfundzwanzig. Wir haben in den letzten sieben Jahren nicht feststellen können, dass sie älter geworden ist.“

„Oh. – Weiß sie von uns?“, besorgte sich Holly.

„Ich habe sie über alles informiert, sie ist schließlich meine Vertraute, die einzige, die ich bisher hatte.“ Holly spitzte die Ohren und Steffi fasste sich an die Nase, denn Magnus hatte Melissa zwar von der amerikanischen Familie erzählt und auch von Dicks Theorie, doch Wesentliches hatte er sich für später aufgespart; er wollte nicht alles am Telefon besprechen, hatte er gedacht.

„Hast du jetzt mehr Vertraute?“, wollte Holly rasch wissen. Magnus lächelte.

„Sicher, drei nette Damen sind hinzugekommen.“ Holly runzelte die Stirn. Meint er etwa auch mich?

Holly wartete mit ihrer Tochter und dem Gepäck auf Magnus Montanus, der den Wagen holte, als Stefania sie unvermittelt fragte: „Könnt ihr nicht heiraten, Mom?“ Holly, in Gedanken über ihr Höhengespräch versunken, fragte zurück: „Wer soll wen heiraten?“

„Na, du und Dad.“, erklärte Steffi geduldig.

„Meinst du nicht, dass er etwas zu alt für mich ist?“, lachte Holly.

„Aber nur ein wenig.“, fiel Stefania ein.

Holly mochte diesen Mann, aber noch wusste sie nicht, ob er ein Spinner war, oder ob diese unglaubliche Geschichte wahr war. War dies der Fall, wäre er der ungewöhnlichste Mensch, den es gab. Vielleicht sogar mehr. Ihre Vernunft sagte ihr, dass das alles nicht sein könnte. Dass jemand zweitausend Jahre alt werden könnte, dass jemand gebrochene Rehläufe heilen konnte, dass jemand …, ja, was war mit diesem Messer in seiner Schulter gewesen? Und seine Bemerkung, dass sie ihn probehalber erschießen sollte? Das Blut auf seinem Hemd 1963? War er nicht nur unsterblich, sondern unverwundbar? Wie Bruce Willis in ‚Unbreakable‘? Sie wusste auch ohne Gentest, dass er der Vater ihrer Tochter war, denn sein Sperma war das einzige, was zu dieser Zeit in ihren Körper gedrungen war, und die Ähnlichkeit im Aussehen, aber auch im Charakter, war eindeutig. Steffi mochte ihn und er mochte Steffi. Sie selbst könnte sich durchaus vorstellen, bei ihm zu bleiben, mit ihm zu leben. Aber wie würde das werden? Sie selbst würde alt werden und er würde immer so bleiben, wie er jetzt war. War das mit dieser Tanja auch so gewesen? Sie würde es erfahren. In den nächsten Tagen würde sie es erfahren und dann würde sich entscheiden, ob ihre Tochter eine richtige Familie bekommen würde. Mit einem Dad. Wenn er denn wollte. Einmal hatte er ihre Wange gestreichelt. Er hatte bei ihr geschlafen. Nein, er war an ihrer Seite eingeschlafen, das war ein Unterschied. Mochte er sie überhaupt, nach allem, was geschehen war? Was, wenn er übernatürlich war? Konnte man als normalsterblicher Mensch mit so einem Wesen zusammenleben? Das Attribut zu dem Wort ‚Wesen‘ fiel ihr zwar ein, aber sie wagte es nicht zu denken.

„Oh, ist das ein großes Haus. Hier lebst du ganz alleine?“, staunte Stefania, als sie die geschotterte Auffahrt hochfuhren.

„Hier habe ich bisher alleine gelebt.“ Holly horchte auf. War das ein Angebot an ihre Tochter? Wollte er etwa mit Stefania hier zusammen wohnen? Wo sollte sie selbst dann bleiben?

„So ein großes Zimmer für mich alleine?“ Steffi sah sich in dem Gästezimmer um.

„Wir werden es anders einrichten. Nach deinem Geschmack.“ Ja, er plante eindeutig mit ihrer Tochter. Er würde seine Anwälte einschalten. Er würde trotz aller Behauptungen einen Gentest zulassen, um Steffi zu bekommen. Er hatte Geld, er hatte Macht. Dass sie seinen Samen genommen hatten, ohne ihn zu fragen, machte die Sache nicht besser. Sie würde ihre Tochter verlieren und sie und Mom würden vielleicht sogar ins Gefängnis kommen.

Es war spät, Steffi war müde von dem Flug, dem jetlag, der Aufregung und ging nach einem Sandwich ins Bett, während sich die Erwachsenen noch in den Salon setzten.

„Du bist so still seit der Landung.“, meinte Magnus besorgt.

„Wie sind deine Pläne?“, fragte Holly hart und kurz angebunden. Magnus wirkte überrascht von diesem Ton.

„Was meinst du?“

„Du hast jetzt eine Tochter.“

„Was mich sehr freut.“

„Du willst mit ihr zusammen sein.“

„Natürlich.“ Wenigstens war er ehrlich.

„Das wird hier sein?“

„Das wäre sehr schön.“ Hollys Stimmte bebte und Tränen stiegen in ihre Augen.

„Und ich?“ Sie blickte ihn durch einen Tränenschleier hindurch an und sah undeutlich, dass er einen Schluck Bier nahm, das Glas abstellte und sie dann ansah. Um besser sehen zu können, rieb sie ihre Augen. Sein Blick war mild, ein wenig spöttisch vielleicht, um seine Mundwinkel spielte ein Lächeln, er hob die Hand in ihre Richtung, senkte sie dann aber wieder, dann wurde er ernst.

„Wir könnten es miteinander versuchen.“ Hatte sie richtig gehört?

„Was?“

„Es wird nicht einfach werden, vor allem später nicht, aber es geht.“

„Was geht?“

„Ich habe schon einmal mit einer Frau zusammengelebt.“

„Mit Melissa?“

„Nein, mit einer … normalen Frau.“ Holly legte den Kopf schräg und runzelte die Stirn.

„Ich hatte dir von Tanja erzählt.“

„Tanja war deine Frau?“ Er nickte traurig.

„Wir waren viele Jahre zusammen. Auch 1963. Es war schmerzvoll, sie zu überleben.“ Magnus schlug die Hände vor sein Gesicht und rieb es.

„Ihr wart ein Paar?“ Magnus nickte, sah hin und her, hatte offensichtlich Mühe mit dem, was er vorhatte, er kämpfte mit sich.

„Ich … ich bin nicht sehr gut in so etwas. Ich habe das noch nie gemacht.“

„Was noch nie gemacht? Ich dachte, in zweitausend Jahren hat man alles schon einmal gemacht.“, spottete sie. Er fuhr hoch.

„Du glaubst mir immer noch nicht?“ Holly zuckte die Schultern. „Okay, in den nächsten Tagen wirst du die Gelegenheit erhalten, mein bisheriges Leben kennenzulernen. Du und Steffi. Vielleicht kann deine Tochter dich davon überzeugen, dass ich nicht lüge.“

Sie schwiegen. Magnus, weil er nicht wusste, wie er weitermachen sollte und Holly, weil sie wusste, dass er recht hatte und weil sie auf etwas wartete. Vor ihrem geistigen Auge sah sie Magnus mit Steffi auf der Brust im Sessel liegen. Es war ein friedliches Bild, das häufiger zu sehen sie sich mit einem Mal wünschte.

„Ich biete dir an, es mit mir zu versuchen. Stefania braucht ihre Mutter und ich … ich mag dich.“, flüsterte er.

„Du hast mich erst ein einziges Mal zärtlich berührt, du hast mich noch nie geküsst.“, sagte sie leise, aber ohne Vorwurf.

„Stimmt nicht. Als du neulich nachts wach geworden warst, habe ich dich gehalten. – Hättest du es denn gerne, wenn ich dich küsste?“, fragte er erwartungsvoll. Holly sah ihn an. Ja, er hatte sie neulich nachts gehalten, als sie nicht mehr weiter wusste, nicht wusste, was sie denken sollte. Niemals zuvor hatte sie ein intensiveres Gefühl gehabt. Allerdings war sie danach noch verwirrter gewesen.

„Wenn mir nichts unvorhergesehenes passiert.“

„Was sollte passieren? Tanja hat es gemocht.“ Sie schwiegen.

„Was nun?“, fragte sie leise. Magnus sah sie an wie ein waidwundes Tier.

„Könntest du dir vorstellen, hier mit mir und Stefania zu leben, Holly? Auch um Stefanias willen …“

„Um wessen willen noch?“, hauchte sie erwartungsvoll und sah ihm – verliebt? – in die Augen.

„Um meinetwillen?“ Holly kamen wieder die Tränen, doch war der Grund diesmal ein anderer. Sie rutschte auf ihrem Sessel ganz nach vorne. Er rutschte ganz nach vorne. Ihre Knie berührten sich fast. Sie legte eine Hand auf sein Knie, die andere hielt sie vor ihren Mund.

„Wart ihr glücklich? Tanja und du?“

„Ja, wir waren glücklich.“

„Hat sie es gewusst?“

„Als es offensichtlich wurde, habe ich es ihr gesagt, aber sie hatte so etwas längst geahnt. Weißt du, ihr Volk kennt viele Mythen und sie kam aus einer Familie, die diese alten Mythen lebte. Sie glaubten an Geister und Wunder. Ein Wunder war für Tanja, dass ich sie vor dem Tode bewahrt hatte. Ein Wunder war für sie, dass ich sie bei mir aufnahm. Meine Liebe zu ihr war für sie ein Wunder, und so wunderte sie sich nicht, dass sie älter wurde, nicht aber ich, obwohl ich älter war, äh, älter schien, schon damals. Sie war eine junge Frau. Sie war stolz darauf, mit mir, einem … Freak zusammen zu sein.“

„Das mit dem Freak tut mir leid.“, warf sie schnell ein.

„Wir liebten uns, sie war mir in dieser Zeit nach dem Kriege ein großer Rückhalt, wir mussten ja alles wieder aufbauen.“

„Ich weiß es, bevor ich mich entscheiden soll.“

„Ja. Beeinflusst es deine Entscheidung?“

„Wie könnte es eine solche Entscheidung nicht beeinflussen?“

„Bist du nicht in der Lage, mich dir ohne es vorzustellen?“

„Ich kannte dich, bevor ich es wusste.“

„Wie hättest du dich damals entschieden?“

„Der Abend bei dir hier war sehr schön, bis diese … Sache passierte. Auch der Tag danach war schön. - Hast du eigentlich jemals etwas Böses getan?“, fiel ihr ein zu fragen.

„Ich habe den Soldaten ohnmächtig geschlagen, der Tanja erschießen wollte.“

„Irgendwann in deinem Leben?“, beharrte sie.

„Ich glaube nicht.“

„Ich auch nicht.“

„Wie kommst du auf diese Frage?“, fragte er misstrauisch. Sie zuckte die Schultern.

„Nur so ein Gedanke.“

„Ich bin ein Mensch.“, behauptete er, weil er eine dunkle Vorstellung von dem hatte, was Holly umtrieb.

„Sicher.“ Das sagte sie in einem Tonfall, wie Erwachsene einem Kind bestätigen, es hätte ein Monster mit drei Köpfen gesehen, dabei lächelte sie nachsichtig.

Der Andere

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