Читать книгу Der Andere - Reiner W. Netthöfel - Страница 2

1.

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Worauf hatte sie sich da eingelassen? Sie saß in diesem winzigen, stickigen Hotelzimmer, das sie bezogen hatte, nachdem sie den Schlüssel von einem sie unverhohlen lüstern betrachtenden Kellner, einem alterslosen Kerl mit schütterem Haar, entgegengenommen hatte, und fühlte sich verzweifelt. Hätte nicht jemand anderes diese Reise antreten können? Der Familienrat hatte beschlossen, dass es an der Zeit sei, das Problem ein für allemal zu lösen, dass der Zeitpunkt jetzt gekommen wäre, den Schleier zu lüften, den Schleier, der über Ereignissen lag, die die Geschichte ihrer Familie entscheidend geprägt hatten und die, so schien es, mit einer bestimmten Person zusammenhingen, so unglaublich das klang. Mit einer einzigen Person.

Holly öffnete den Koffer und räumte ihre Sachen in den einzigen Schrank, über den dieses Zimmer verfügte. Ihre Tochter Stefania fehlte ihr schon jetzt, einen Tag nach ihrer Abreise. Schon nach dem Start des Flugzeuges in New York waren ihr Zweifel gekommen. Zweifel an der Richtigkeit ihres Tuns, Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung, Zweifel an den Schlüssen, die aus den vorliegenden Indizien gezogen worden waren.

Sie zog sich aus und betrat das Bad, in dem sie sich kaum drehen konnte, deponierte ihre Toilettsachen auf einer schmalen Ablage über dem kleinen Waschbecken und stellte die Dusche an. Wenigstens die funktionierte tadellos. Sie ließ das warme Wasser über ihren schlanken, braunen Körper laufen und schloss die Augen.

Es war irrwitzig; wie konnten erwachsene Menschen nur so etwas annehmen? Sie waren einfach zu fantasiebegabt. Zu glauben, dass … Sie dachte den Gedanken nicht zu Ende. Schließlich hatte sie selbst dem allen auch nicht Einhalt geboten. Alle waren wie besoffen gewesen von der Aussicht, endlich Licht ins Dunkel zu bringen. Alle, außer Mom.

Mit dem zu harten Badetuch trocknete sie sich ab, brachte ihre Kurzhaarfrisur in eine ordentliche Unordnung, legte dezentes Makeup auf und betrat wieder das Zimmer. Auf ihrem schmalen Bett lag die Mappe. Die Mappe mit einer Kurzzusammenfassung der Geschehnisse, die sich in den letzten hundertfünfzig Jahren ereignet hatten. Ereignet haben sollten. Die Mappe mit den ersten Zeichnungen, den undeutlichen Zeitungsfotos aus dem letzten Jahrhundert und schließlich den aktuellsten Fotos und einer Biografie des Mannes, den sie morgen aufsuchen würde. Biografie, pah. Wenn das, was sie sich zusammengereimt hatten, sich zusammenfantasiert hatten, nur halbwegs stimmte, war diese Biografie nichts wert. Nichts wert, weil unvollständig. Nicht nur lückenhaft, sondern sie ließ die längste Zeit des Lebens dieses Mannes einfach aus, als wenn es sie nicht gegeben hätte. Falls ihre Annahmen stimmten. Falls.

Der Andere

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